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Höflichkeit und soziale Eleganz zur Vermeidung von Konflikten

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Während Höflichkeit allgemein dazu dient, eine Brücke zwischen Menschen zu bauen, die entweder in einer asymmetrischen Beziehung zueinander stehen oder sich noch nicht allzu gut kennen, erscheint Höflichkeit als Kulturtechnik der respektvollen Distanz in Diskussionen und Konfliktgesprächen noch wichtiger, um sozial elegant miteinander umzugehen, analog zu einer Menschen in der Rushhour, die geschickt aneinander vorbei gleiten, ohne sich zu behelligen oder zu berühren. Dem entgegen stehen zum einen die Sehnsucht nach Nähe durch Authentizität, verbunden mit dem Verdacht Höflichkeit könne unehrlich sein und zum anderen das Elitäre an Höflichkeitsritualen, oft verbunden mit asymmetrischen Beziehungen.

Authentizität bringt jedoch gleichzeitig eine Direktheit und Verletzlichkeit mit sich, was in seiner Mischung Konflikte eskalieren lässt. Wer offen und ehrlich seine Meinung sagt, wirft seine gesamte Persönlichkeit in die Waagschale. Damit teilt er oder sie sowohl stärker aus, fühlt sich aber auch schneller angegriffen. Dahingegen kann sich die Orientierung an Distanz schaffenden Ritualen deeskalierend auswirken. Wer sich bei einer Kritik für die Offenheit des Gegenübers bedankt, schafft jenen kommunikativ-eleganten Puffer, ohne sofort auf Gegenwehr zu schalten, und kann danach dennoch seine Gegenkritik anbringen.

Unecht ist Höflichkeit dann, wenn sie übertrieben präsentiert wird, was meist mit einer geheimen Agenda verbunden ist. Daher ist es wichtig, angemessen höflich zu sein, was auch den räumlich-zeitlichen Rahmen betrifft. Wenn eine Chefin ihren Angestellten fragt, ob er etwas für sie kopieren kann, ist dies angemessen höflich. Sollte sie ihn fragen, ob er aktuell die Güte haben und auch die Zeit aufbringen könnte, ihr ein paar Seiten – es sind nicht zu viele – zu kopieren, schießt dies weit über das Ziel hinaus. Während jedoch in asymmetrischen Beziehungen Höflichkeitsrituale meist klar geregelt sind, müssen diese in symmetrischen Beziehungen immer wieder neu verhandelt werden. Hier ist die Bandbreite des Verhaltens wesentlich breiter. So ist eine übertriebene Höflichkeit unter Freunden – beispielsweise ein unterwürfiges Verbeugen – eher seltsam, außer es ist ironisch gemeint, während eine angemessene Höflichkeit auch unter Freunden für einen großen Gefallen durchaus angebracht ist.

Da Höflichkeit als Kulturtechnik eingeübt werden muss, ist der elitäre Aspekt nicht von der Hand zu weisen. Dies gilt jedoch für andere kommunikative Kulturtechniken der Rhetorik oder Verhandlungskunst ebenso. Interessanterweise kann gerade eine höfliche Eleganz auch heute noch ein Eingangstor für höhere Gesellschaftsschichten sein, wie es bereits im 17. Jahrhundert der Fall war, als das französische Bürgertum begann, sich von den engen Ketten der eigenen Biographie zu befreien, indem es u.a. die Eleganz der Aristokratie kopierte.

Weihnachten überstehen

Bald ist es wieder soweit. Dann treffen am Fest der Liebe Menschen aufeinander, die genau einmal im Jahr in einer solchen Konstellation zusammentreffen und sich so gar nicht verstehen. Das war schon immer so. Und doch haben die potenziellen Themen des Missverstehens in den letzten Jahren so zugenommen wie die Jahresendmägen der Diskutanden. Zum einen gab es früher keine Coronamaßnahmen, Waffenlieferungen an Europas Grenzgebiete, Solidaritätsfrieren oder Straßenblockaden der selbsternannten „Letzten Generation“. Auch Themen wie Veganismus oder Flugreisen wurden weniger heiß diskutiert. Zum anderen scheinen Diskussionen allgemein jakobinischer geworden zu sein.

Grund genug, sich anzusehen, welche Möglichkeiten es gibt, das Weihnachtsfest auch bei weit auseinander liegenden Meinungen heil zu überstehen.

Zwischen Befürchtungen und Bedürfnissen

Bevor wir dazu kommen, ist es hilfreich zu überlegen, aus welchen Gründen jemand seine Meinung vehement verteidigt. Ein Grund, der häufig genannt wird ist die allgemeine Meinungsfreiheit. Dahinter scheint es eine Angst zu geben, in dunkle Zeiten zurückzufallen, in denen nicht mehr alles gesagt werden durfte. Schnell ist dann der Begriff einer „Cancel Culture“ zur Hand, in der eine Meinung zwar gesagt werden darf, aber drastische Konsequenzen nach sich zieht. Wenn beispielsweise eine Professorin an einer Universität eine Statistik zitiert, bei der es um biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau geht, die von manchen gesellschaftlichen Gruppierungen geleugnet werden. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine ganz banale Diskussion handelt, die durchaus auch heiß werden kann, oder ob das Zitat der Professorin tatsächlich zu einer Entlassung oder einer Ausladung von Konferenzen führt. Im ersten Fall, der nach meiner Beobachtung weit häufiger passiert, allerdings im Vergleich zu früher nun vor aller Augen im Internet vollzogen wird, handelt es sich sicherlich nicht um einen Fall von Cancel Culture. Im zweiten Fall wohl schon. Leben wir also in einer Gesellschaft, in der einzelne Meinungen gecancelt werden? Ja und Nein.

Was passiert jedoch an Weihnachten? Muss ich befürchten, dass ich kein leckeres Stück von der Weihnachtsgans (bereits hier kann der Streit schon anfangen) aufgrund meiner Äußerungen bekomme? Oder dass ich mit bösen Blicken überzogen werde? Zwei Tage später ist der Liebes-Spuck wieder vorbei und ich kann in mein altes Leben und in meine ganz persönliche Filterblase zurückkehren. Die Konsequenzen sind also überschaubar.

In öffentlichen Diskussionen greift zudem die Angst um sich, dass ich meine Meinung gegen andere „falsche“ Meinungen verteidigen muss, damit mein Gegenüber seinen Einfluss auf potentielle Anhänger*innen nicht ausbaut. Auch dieses Argument fällt in Familien weg.

Neben diesen Befürchtungen bleiben ureigene Bedürfnisse übrig, mit denen sich wesentlich besser erklären lässt, woher die Vehemenz in Diskussionen kommt. Menschen suchen nach Anerkennung. Und sie wollen vor allem gesehen werden. Zumindest diese Minimalvoraussetzung sollte gegeben sein: Ich muss die Meinungen anderer nicht gut finden, aber ich kann sie mir zumindest anhören und mein Gegenüber damit wahrnehmen.

Verstehen bezieht sich nicht auf Meinungen

Zwar kommt vorschnell der Satz „Das musst du doch verstehen!“. Ein Verstehen ist jedoch niemals in Gänze möglich und auch nicht wünschenswert, weil jeder Mensch mit anderen Erfahrungen und anderen Fähigkeiten auf die Welt blickt. Was den einen ängstigt, ist für den anderen normal. Zudem ist es keineswegs wünschenswert, einen anderen Menschen komplett zu verstehen. Was das Zusammenleben von Menschen spannend und interessant macht, ist gerade das Gegensätzliche. Was wäre denn, würde ich meine Frau oder meine Kinder komplett verstehen? Wir müssten uns nicht mehr unterhalten. Sie würde einen Satz beginnen … und ich würde sofort sagen: „Weiß ich. Kenne ich. Geht mir genauso“. Ist es da nicht viel spannender, sich ein Leben lang vom Gegenüber, selbst nach vielen Jahren, immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen?

Zudem ließe sich der Drang eines allumfassenden Verstehens eines anderen Menschen durchaus als privaten Kolonialismus deuten: „Ich ordne dich komplett in mein Verstehens-Schema, um dich zu begreifen“. Wie schnell wird dann aus einem „Begreifen“ ein „Ergreifen“ oder „Im Griff haben“?

Vielleicht kennen Sie das Phänomen, wenn andere Menschen vorschnell zu Ihnen sagen: „Das verstehe ich“, obwohl Sie noch nicht am Ende Ihrer Erzählung angekommen sind. In einem solchen Fall fühlen Sie sich in der Regel alles andere als verstanden. Sie wurden eingeordnet und möchten laut ausrufen: „Stopp! Ich will gar nicht, dass Du mich verstehst! Du kannst das vermutlich auch gar nicht verstehen! Wirklich verstehen kann nur ich, was ich erlebt habe. Denn Du warst nicht dabei“.

Dass es dennoch eine Sehnsucht gibt, verstanden zu werden, ist unbenommen. Diese Sehnsucht lässt sich vermutlich tatsächlich nur von Erlebens- und Leidensgenossen oder Menschen, denen wir sehr nahe stehen, stillen. Kein Wunder, dass es seit einiger Zeit eine starke Tendenz in unserer Gesellschaft gibt, sich in solchen Erlebensgruppen gegenseitig auszutauschen und zu solidarisieren. Sozusagen eine organische und stützende Solidarität unter Gleichen zu pflegen, während nach dem Soziologen Emile Durkheim in modernen Gesellschaften ebenfalls eine funktioniale und ergänzende Solidarität unter Ungleichen besteht. Bei gleichzeitiger Auflösung von Verbindungen – nachdem Gewerkschaften und Kirche bereits seit langer Zeit im Rückgang sind, lösen sich aktuell auch berufsbezogene Verbindungen durch die Arbeit im Homeoffice auf – ist die Suche nach neuen stützenden Verbindungen evident. Das Tummeln in Filterblasen lässt sich also auch aus einem Bedürfnis nach Verständnis deuten.

5 Tipps für bessere Gespräche an Weihnachten (und überhaupt)

Wenn also ein Verständnis unter Ungleichen schwer möglich und vielleicht sogar nicht einmal sinnvoll ist, was wäre dann zu tun, um sich an Weihnachten nicht gegenseitig den Appetit zu verderben?

Tipp 1: Wohlwollen als Grundbedingung

Vorneweg ist eine Grundbedingung wichtig, um sich zumindest nicht destruktiv zu begegnen: Das Wohlwollen, dass mein Gegenüber mich nicht anlügt, sondern aus seiner Sicht einen Teil der Wahheit über die Welt in der Hand hält, auch wenn das für mich übertrieben oder sogar vollkommen hahnebüchen erscheint. Wir sollten uns allerdings immer vor Augen halten: Unser Gegenüber denkt genauso.

Tipp 2: An der eigenen Toleranz arbeiten

Bereits hier scheint ein Scheitern vorprogrammiert. Denn es gehört (aus unserer eigenen Sicht) eine Menge Ambiguitätstoleranz und Geduld dazu, unser Gegenüber mit seinen seltsamen Meinungen auszuhalten. Dabei ist es genau diese Toleranz, die ein Miteinander unter Ungleichen seit jeher ausmachte. Wir glauben vielleicht, wir sollten gleich sein, weil wir doch aus einer Familie kommen. Doch wir sind in der Regel verschiedener als im Austausch mit Freunden.

Tipp 3: Fokus auf Sachen

Stellen Sie sich vor, Sie wären in der Arbeit und müssen mit Menschen auskommen, die Sie kaum kennen. Was tun Sie? Sie konzentrieren sich auf die Sache. Sie müssen niemanden von Ihrer Meinung überzeugen. Es reicht, wenn „der Laden läuft“. So ein Fokus auf die Sache kann sehr entspannend sein. Vielleicht gehen deshalb manche Menschen so gerne in die Arbeit. Weil es nicht so menschelt.

Übertragen auf Weihnachten bedeutet das: Fokussieren Sie sich auf gemeinsame Tätigkeiten. Kochen Sie zusammen, decken den Tisch, schmücken den Baum, packen Geschenke aus oder spielen ein Spiel. Und sorgen Sie dafür, dass die Welt der vielen Meinungen da draußen zumindest für ein paar Tage schweigen darf.

Tipp 4: Seien Sie neugierig

Gibt es in Ihrem eigenen Umfeld kaum eine solche Exotin wie Ihre Schwester? Freuen Sie sich, sich Sichtweisen und Meinungen erläutern zu lassen, die komplett anders sind als das, was Sie gewohnt sind. Manche Menschen scheinen beinahe Angst zu haben, durch abweichende Meinungen beschmutzt zu werden. Aber warum? Sind Sie so leicht zu verunsichern, dass Sie am Ende noch umgestimmt werden könnten? Was soll schon passieren? Sie hören sich das „Exotische“ aus einem höflichen, aber neugierigen Wissensdrang heraus an und können auch Ihrerseits darum bitten, angehört zu werden.

Tipp 5: Experimentieren Sie

Haben Sie jemals versucht, andere Menschen, die komplett anderer Meinung sind als Sie, von Ihrer Meinung zu überzeugen? Und? Hat es funktioniert? Vermutlich nicht.

Wie wäre es, wenn Sie experimentieren und etwas anderes versuchen? Was wäre, wenn es nicht darum ginge, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, ein interessantes Gespräch zu führen? Sie könnten Ihre Sprechart verändern, beispielsweise langsamer, unheimlicher, akzentuierter oder ruhiger sprechen, Betonungen anders setzen, Metaphern nutzen, Humor einsetzen oder Ihre Aussagen in Fragen formulieren.

Bei Experimenten geht es nicht darum, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, es zu locken und neugierig zu machen auf das, was Sie zu sagen haben.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Inspiriert durch mehrere Artikel im aktuellen Philosophie-Magazin 01/2023

Siehe auch: https://www.metropolitan.de/buch/wir-sollten-reden

Verstehen oder Verständnis – Zur Klärung eines Missverständnisses am Beispiel von Depressionen

Wenn wir zu jemandem sagen „Du musst mich doch verstehen“ ist oftmals unklar was damit gemeint ist:

  1. Meinen wir (oder unser Gegenüber): „Du weißt genau, warum ich so handle. Du kennst mich. Du kennst meine Beweggründe und meine Gefühle.“
  2. Oder meinen wir: „Du weißt genau, warum ich so handeln muss. Ich kann nicht anders. Du würdest doch an meiner Stelle genau so handeln.“

Worin liegt der Unterschied?

Im ersten Fall geht es um das Denken und die Gefühle. Im zweiten Fall geht es um die Konsequenzen. Kann ich verstehen, dass Person A auf Person B wütend ist und ihn am liebsten an die Wand klatschen würde? Vermutlich ja, weil wir wohl alle schon den ein oder anderen bösen Gedanken hatten, vorzugsweise hinter dem Steuer unseres Autos sitzend.

Kann ich verstehen, dass Person A tatsächlich zuschlug? Vermutlich nein. Wir selber würden wohl anders handeln. Wir würden vielleicht schreien oder Person B zumindest sehr deutlich unsere Meinung sagen. Vielleicht würden wir Person B auch meiden, aber vermutlich nicht zuschlagen. In diesem Fall sprechen wir davon, B zu verstehen, aber kein Verständnis für den aggressiven Akt aufzubringen.

Verständnis und Erfahrungen

Woher kommt nun diese Unterscheidung? Bis zu einem bestimmten Punkt können wir uns wohl in jeden anderen Menschen hineinversetzen, einfach weil wir Menschen sind und potenziell ähnliche Erfahrungen mitbringen. Doch irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem wir dies nicht mehr können.

Lassen sich Depressionen verstehen?

Am Beispiel von Depressionen: Neulich schaute ich das Interview von Kurt Krömer und Torsten Sträter bei „Chez Krömer“ an. An einer Stelle erzählt Krömer von einer Szene in einem Supermarkt. Er stand da und wusste nicht mehr wie man einkauft, weshalb er nach Hause gehen musste, ohne seinen Kindern etwas kochen zu können. Jetzt hatte ich selbst schon einmal in meinem Leben eine ein- bis zweimonatige depressive Phase. Ich war in meinem Job gleichzeitig über- und unterfordert. Ich hatte das Gefühl, das was ich gut kann, wird hier nicht gebraucht und das was gebraucht wird, kann ich nicht. Es verging kein Tag ohne einen Zusammenbruch. Allerdings brach ich erst zuhause zusammen. Ich konnte auch einkaufen oder kochen. Ich war lediglich in der Arbeit komplett überfordert. Mein Arbeitgeber versuchte, mich mit einem Coaching zu unterstützen, was jedoch wenig half. Erst als ich kündigte, ging es mir wieder besser. Ich hatte folglich eine exogene Depression.

Vertrauen statt Verständnis

Diese Episode meines Lebens hilft mir dabei, (endogene) depressive Menschen zumindest teilweise zu verstehen. Da ich es jedoch noch nie erlebt habe, nicht mehr einkaufsfähig zu sein, fällt es mir schwer, nachzuempfinden, wie das möglich ist. In meinem Inneren taucht dann meist ein Spruch auf in Richtung „Einfach mal machen. Das wird dann schon mit jedem mal leichter“, was wenig hilfreich ist.

An diesem Punkt braucht es etwas anderes als Verständnis. Hier braucht es Vertrauen. Wenn mir jemand erzählt, dass er nicht mehr aufstehen oder einkaufen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu glauben, dass er alles für ihn Mögliche tut, diesen Zustand zu verändern und es dennoch nicht schafft. Wenn ich das verstanden habe, behalte ich meine „guten“ Ratschläge für mich, sondern höre „nur“ noch zu.

Der Mythos vom bösen Menschen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben

Ist der Mensch von Grund auf gut oder schlecht? Die öffentliche Meinung geht eher davon aus, dass der Mensch böse ist und deshalb – wie Thomas Hobbes es in seinem Leviathan beschrieb – kontrolliert werden muss. Davon lässt sich dann auch das Bestreben einer immer stärkeren Überwachung des Menschen, beispielsweise über Kameras im öffentlichen Raum oder während der Pandemie über die Kontrolle der Verhaltensweisen der Menschen ableiten. Andernfalls könnten wir Vertrauen darauf haben, dass der Mensch so handelt, dass es nicht nur ihm nützt, sondern auch anderen - zumindest denen in seinem direkten Umfeld - dass der Mensch also kooperative Gene hat, wie es in einem Buch von Joachim Bauer beschrieben wird.

Die immergleichen Studien, auf die sich die Befürworter eines Leviathans berufen, legen etwas anderes nahe. Das Zimbardo-Experiment zeigte doch schließlich, mit welcher Brutalität die Wärter ihre Machtposition ausnutzten. Und das berühmte Ferienlagerexperiment von Muzafer Sherif zeigte doch ebenso deutlich, wie die beiden Gruppen von Jugendlichen in dem Ferienlager aufeinander losgingen.

Nur: Die Anweisungen im Stanford-Prison-Experiment von Zimbardo enthielten nicht nur eine sachliche Rollenbeschreibung, sondern wurden bewusst manipulativ verfasst. Der französische Geisteswissenschaftler Thibault Le Texier untersuchte die Unterlagen der Studie, laut derer die (gespielten) Gefängniswärter genau wussten, was von ihnen erwartet wurde. Die Forscher griffen laut einer Audioaufnahme sogar direkt ins Geschehen ein. Dabei wurde ein Wärter explizit ermahnt härter durchzugreifen.1

Zimbardo schreibt selbst: Die Schlussfolgerung dieser Studie lautet also: Starke soziale Situationen können die Identität von guten Menschen auf negative Weise verändern.

Bei aller wissenschaftlichen Mängel schlussfolgert auch er nicht, wie es oft verkürzt dargestellt wird, dass der Mensch schlecht ist, sondern dass ihn die Umstände dazu machen.

Wenn Zimbardo genau das zeigen wollte, ist im das gelungen: Gebe einer Gruppe von Menschen Macht in Form einer Position und weise sie an, brutal durchzugreifen. Die meisten werden es tun, ohne sich dagegen zu wehren.

Eine solche hierarchische Macht zeigte sich auch im Milgram-Experiment, in dem Menschen dazu angeleitet wurden, einer Person in einem anderen Raum Stromschläge zu verabreichen, wenn sie Fragen falsch beantworteten. Auch aus diesem Experiment lassen sich unterschiedliche Erkenntnisse heraus lesen: Neben der Erkenntnis zu was Menschen alles fähig sind, gibt es auch die Erkenntnis, dass Menschen dann moralisch verwerfliche Dinge tun, wenn sie sich mit Autoritäten identifizieren, die diese Handlungen als tugendhaft darstellen.2 Es geht also auch hier mehr um das Setting und weniger um die Schlechtigkeit des Menschen ansich.

Das gleiche passierte im Experiment von Muzafer Sherif. Auch hier wurden die Gruppen zuerst aufeinander gehetzt. Sherif arbeitete mit Gerüchten über die jeweils andere Gruppe, um eine noch nicht vorhandene gegenseitige Feindschaft anzustacheln.3 Es strafen also nicht zwei neutrale Gruppen aufeinander, was die Objektivität des Experiments verzerrt. Zudem nahm das Experiment im weiteren Verlauf eine überaus positive Wendung. Als Sherif die Jugendlichen vor Aufgaben stellte, die sich nur gemeinsam lösen ließen, kooperierten sie erst gezwungenermaßen und später durchaus freundschaftlich miteinander.4 Es geht also auch hier nicht darum, dass der Mensch ansich gut oder schlecht ist, sondern darum, was ein sozialer Umstand mit den Menschen macht.

All diese Studien belegen folglich weniger die grundsätzliche Schlechtigkeit der Menschen, sondern allenfalls wie leicht der Mensch durch soziale Umstände geprägt und durch Rollenbeschreibungen oder -vorbilder instruiert und manipuliert werden kann.

Gingen wir tatsächlich davon aus, dass der Mensch im Grunde gut ist, wie es nicht nur diverse Sozialforscher (u.a. Vertreter der positiven Psychologie oder der klientenzentrierten Gesprächstherapie), sondern in neuerer Zeit auch Neuroforscher (u.a. Gerald Hüther und Joachim Bauer) behaupten, würde dies unseren Blick auf Konflikte und Widerstände enorm verändern:

  • Wir hätten mehr Vertrauen zueinander und müssten uns weniger gegenseitig kontrollieren.
  • Wir würden davon ausgehen, dass Mitarbeiter*innen (Nachbarn oder Menschen ansich) im Grunde gut sind.5
  • Wir würden davon ausgehen, dass erst negative Umstände und Rollenzuschreibungen Menschen davon abbringen, sich offen zu begegnen.
  • Und wir würden die Schuld eines abweichenden Verhaltens nicht dem Menschen ansich zuschreiben, sondern den sozialen Umständen, in denen er sich befindet.

Was lässt sich aus diesen Gedanken ableiten:

  1. Meine innere Haltung (beispielsweise als Führungskraft): Ich würde dann davon ausgehen, dass meine Nachbarn, Kolleg*innen, Freunde, etc. im Grunde gut sind und lediglich aus ihrer Erfahrung heraus manchmal (in meinen Augen) schlechte Dinge tun. Dieser Optimismus im Umgang miteinander könnte Türen öffnen, Widerstände vermeiden und Konflikte verhindern. Es handelt sich dabei nicht um einen naiven Optimismus, denn das Vertrauen in andere sollte immer ein Angebot sein, dass auch angenommen wird. Ist dies nicht der Fall, kann ich mein Angebot auch jederzeit rückgängig machen.
  2. Rollenschreibungen (beispielsweise im Team oder in der Familie): Wie lauten meine Erwartungen an mich? Soll ich als Vater, Mutter oder Führungskraft streng sein, um mich durchzusetzen? Bin ich erst eine gute Führung, wenn ich meine strukturelle Macht einsetze? Oder gibt es Möglichkeiten, sich auf Augenhöhe zu treffen und dennoch eine klare Verantwortungsteilung jenseits von Machtpositionen zu leben?
  3. Strukturen (beispielsweise Räumlichkeiten und Ressourcen): Wie sehen die Räumlichkeiten bei uns (in der Familie oder im Team) aus? Hat jede*r seinen/ihren Freiraum, d.h. Rückzugsmöglichkeiten (Stichwort Großraumbüro)? Gibt es genügend Ressourcen, insbesondere Zeit, Geld und Materialen, um gut zu arbeiten? Oder sind die Räumlichkeiten so eng, dass es bei Stress keine Fluchtmöglichkeiten gibt und Aggressionen vorprogrammiert sind?
  4. Atmosphäre: Und wie sieht es mit der Atmosphäre (im Team oder Familie) aus? Ist diese auf einen offenen, ehrlichen, freundschaftlichen und kooperativen Austausch angelegt, im Rahmen dessen jede*r seinen Platz findet? Oder auf einen kompetitiven und aggressiven Wettbewerb, weil wir davon ausgehen, dass der Mensch erst durch Konkurrenz sein Bestes gibt? Vielleicht gibt es aber auch einen Weg dazwischen, eine Art freundschaftlichen Wettbewerb, der humorvoll mit kleinen Seitenhieben auf der Basis eines gegenseitigen Wohlwollens ausgetragen wird? Dann leben wir vermutlich in der besten aller Welten, die weder schwarz (böse), noch weiß (gut), sondern wie das Leben selbst bunt ist.6

Externe Links und Quellen

1Vgl. https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/stanford-prison-experiment

2Vgl. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologen-deuten-experimente-von-milgram-und-zimbardo-neu-a-868461.html

3Vgl. https://soundcloud.com/user-534548529/einfuhrung-in-den-atcc-ansatz?

4Vgl. https://www.heise.de/tp/features/Ueberschreiten-der-Gruppengrenze-5043970.html?

5Auch diesen Titel habe ich mir frech ausgeliehen: Rutger Bregman: Im Grunde gut

6Siehe auch https://www.m-huebler.de/ein-new-work-manifest-auf-der-basis-einer-positiven-fuehrung oder ausführlicher: https://www.amazon.de/positiver-F%C3%BChrung-Mitarbeiterbindung-f%C3%B6rdern-Bindungskultur-ebook/dp/B09X1YM7V2

Werden wir immer mehr zu einer Schamkultur?

Es gibt Scham- und Schuldkulturen. Schamkulturen haben viel mit Ehre und Status zu tun. Das war bisher für die nordwestliche Welt weniger passend. Dort herrschte bislang eher eine Schuldkultur vor, die weitgehend über soziale Regeln und Gesetze funktioniert. Es scheint jedoch so, dass wir immer mehr zu einer Schamkultur werden, was zivilisatorisch eher ein Rückschritt ist.

Interessant dazu ist die Erkenntnis des Philosophen Robert Pfaller (Zwei Enthüllungen über die Scham), dass wir uns früher eher für ein Zuwenig schämten und heute für ein Zuviel: Zu schnell fahren, zu viel essen, ein zu großes Auto fahren, zu viel mit dem Flugzeug reisen, usw. Darüber lässt sich nachdenken. Während es früher eher darum ging, nicht klug genug zu sein oder sich nicht genug angestrengt zu haben. Ist das wirklich so? Wenn ja, warum ist das so, woher kommt das und wann ist das System umgekippt?

Dass das Konzept der Scham immer mehr um sich greift, lässt sich an verschiedenen Punkten verdeutlichen. Zur Verdeutlichung zwei Beispiele:

  • In negativer Form: Menschen werden online an den Pranger gestellt, ohne dass es eine offizielle Verurteilung und damit eine erwiesene Schuld gibt. Sie sollen sich für ihre Äußerungen schämen.
  • In positiver Form: Fußballspieler, die respektvoll mit einem Balljungen umgehen oder viel Geld spenden sind plötzlich „Ehrenmänner“. Die Begrifflichkeit der Ehre scheint eine Renaissance zu haben.

Sein oder Tun

Vom Ursprung her geht die Scham jedoch tiefer als die Schuld. Scham deutet(e) auf einen persönlichen Mangel hin. Für ein Fehlverhalten war der Begriff der Schuld reserviert. Diese Trennung scheint heutzutage aufgebrochen:

  • Ich kann mir Flugreisen leisten und soll eine Flugscham entwickeln.
  • Ich brauche für meine Arbeit ein großes Auto und soll eine SUV-Scham empfinden.
  • Ich genieße Fleisch nicht mehr, sondern rechtfertige mich dafür: „Ja, ich esse Fleisch, aber immer sehr bewusst.“

In der ursprünglichen Begrifflichkeit war Scham, etwas für das ich nichts konnte. Vielleicht weil ich so erzogen wurde oder eine innere Veranlagung habe. Beschämungen werden jedoch heutzutage häufig auf ein Verhalten angewandt, das sich verändern lässt:

  • Ich könnte ein kleineres Auto fahren.
  • Ich könnte weniger fliegen.
  • Ich könnte weniger Fleisch essen.

Durch die Verlagerung der Diskussionen über richtig und falsch aus der Justiz in den öffentlichen Raum entstand jedoch auch eine Verlagerung weg von Recht und Schuld, hin zu Ehre, Moral und Scham. Da Scham jedoch nicht wie Schuld abstufbar ist (ich schäme mich komplett für etwas, bin jedoch nur teilweise schuld), werden auch die Konflikte kategorischer und damit aggressiver.