Der Mensch im sozialen Raum versucht zum einen Einfluss auf andere zu nehmen und zum anderen sich nicht vereinnahmen zu lassen. Er befindet sich damit beständig in Aushandlungsprozessen. Würde er seine Wünsche direkt äußern – insbesondere in Richtung einer ihm höher stehenden Person – käme er kaum zu einem wünschenswerten Ergebnis. Hier braucht es nicht nur eine verbale Höflichkeit, um sozial elegant durch heikle oder zumindest unbekannte Situationen zu navigieren, sondern auch Signale der Körpersprache, Kleidung, den Vortritt in einem Raumsetting oder die Bereitschaft zu warten, um meinem Gegenüber Respekt zu zollen – in der Hoffnung, dass mein Zuvorkommen nicht ausgenutzt wird.
Aber auch im Umgang mit Menschen mit tieferem Status kann ein direkter Befehlston zu Trotzreaktionen führen – außer die Rahmenbedingungen sind eindeutig geklärt wie es in streng hierarchischen Beziehungen der Fall ist, beispielsweise im Militär. Daher ist es sinnvoll, sowohl nach oben als auch nach unten lieber höflich zu fragen als Anweisungen zu verteilen. Eine höfliche Frage schafft den Freiraum für das Gegenüber, potenziell Nein sagen zu können, und sei es nur, um sich einen zeitlichen Puffer herauszuarbeiten. Ist der Preis der Verweigerung des Wunsches zu hoch wird dem Wunsch dennoch entsprochen. Die höfliche Frage bietet damit die Möglichkeit, das eigene Gesicht zu wahren und somit die Illusion einer Nichtvereinnahmung aufrecht zu erhalten, auch wenn es streng genommen insbesondere in asymmetrischen Beziehungen kaum Möglichkeiten des Nein-Sagens gibt beziehungsweise der Preis dafür zu hoch wäre.
In symmetrischen Beziehungen wiederum hängt der Grad der Höflichkeit sowohl von der Dauer der Beziehung und damit der Kenntnis des Gegenübers ab, als auch von der Schwere des Wunsches. Es macht einen Unterschied, ob ich von einem guten Freund einen Rat brauche oder das Auto eines fernen Bekannten ausleihen möchte.