Schlagwort-Archive: resilienz

Resilienz: Zwei Seiten einer Medaille

Bild von macrovector auf Freepik

Die individuelle und soziale Seite der Resilienz

Die individuelle Seite ist relativ bekannt und steht dafür optimistisch in die Zukunft zu blicken und sich an schwierige Situationen agil und adaptiv anzupassen, daran zu lernen und zu wachsen.

Die soziale Seite ist eher unbekannt und hat mit Sinnhaftigkeit und Verbundenheit zu tun:

  • Ich weiß, dass es einen Unterschied macht, dass ich auf der Welt bin.
  • Ich kann in Krisenzeiten auf ein Netzwerk aus Familie und Freunden zurückgreifen.
  • Ich stehe selten in Wettbewerb mit anderen und muss daher nicht ständig beweisen, was ich kann.

Der Schlüssel liegt im Wir

Wer sich fragt, warum die Welt aktuell so nach Resilienz dürstet und sich trotz einem reichhaltigen Angebot an Literatur, Seminaren und Coachings nur bedingt besser fühlt, findet die Antwort in dem Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Resilienz:

  • Die persönliche Resilienz kann viel erreichen, stößt jedoch irgendwann einmal an eine Grenze, für die sie nicht mehr zuständig ist.
  • Die soziale Resilienz nahm jedoch in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Mobilität und Digitalisierung immer mehr ab.

Mobilität führt dazu, dass soziale Netzwerke regelmäßig durcheinander gewürfelt und wieder neu aufgebaut werden müssen. Dies gilt v.a. für gut ausgebildete Angestellte. Die Mobilität bringt viele Chancen mit sich. Wir sollten uns jedoch vor einem Ortswechsel gut überlegen, welchen Gewinn wir daraus ziehen und welche Kosten der Wechsel mit sich bringt. Der Gewinn ist offensichtlich: Eine neue Herausforderung, die Chance einen Karrieresprung zu machen oder einfach mehr Geld zu verdienen. Die Kosten werden uns leider erst später bewusst: Die alten Freunde werden zurück gelassen und damit auch die Möglichkeit, sich in Krisen wie in beinahe alten Zeiten am Tresen über Ärger und Sorgen auszutauschen.

Wir versuchen diese Manko mit Hilfe digitaler Netzwerke auszugleichen, was jedoch nur bedingt gelingt. Facebook hat zwar keine Sperrzeiten, funktioniert aber dennoch nicht wie ein Tresen oder der Spaziergang mit einem guten Freund. Es fehlt – das wissen wir alle – das differenzierte mimisch-verbale Feedback. Es fehlen das nonverbale Schulterklopfen oder einfach nur die Präsenz des anderen mit dem Bewusstsein: Gut, dass da noch jemand ist und sich Zeit für mich nimmt.

Laut Studien des Soziologen Nicolas Christakis und Politikwissenschaftlers James Fowler bringen maximal 12 echte Freunde aus der nahen Umgebung mehr für unsere (soziale) Resilienz als Hunderte von Netzwerkbekannten, die uns ab und an ein Like hinterlassen. Nichts gegen ein großes berufliches Netzwerk. Wenn ich auf Linkedin einen Artikel veröffentliche, ist es hilfreich, diesen möglichst breit zu streuen. Und manchmal ergeben sich daraus interessante fachliche Diskussionen. Das hat jedoch nichts mit dem Versuch zu tun, für ein fehlendes soziales Resilienznetzwerk in der nahen Umgebung einen digitalen Ersatz auf Facebook, Instagram oder TikTok zu suchen.

Ein solches oberflächliches, digitales Netzwerk kann sogar unsere Resilienz noch weiter schwächen, wenn wir uns auf Statusvergleiche einlassen. Statusvergleiche setzen uns zusätzlich unter Dauerstress, da es immer jemanden gibt, der – auch dank der schönen neuen Filtertechniken (Persiflage von Extra 3) – vermeintlich schöner, reicher oder glücklicher ist. Und wer sich in dieser Welt des digitalen Glamours einmal besser fühlen will, blickt auf andere mit Hilfe von Shitstorms herab. Ein echtes Miteinander im Sinne des Teilens von Problemen, was unserer Resilienz gut tun würde, findet jedoch selten statt.

Helfen Kämpfe gegen Sinnverlust?

Neben den Folgen der Mobilität und den Statusvergleichen in digitalen Netzwerken spielt zuguterletzt auch der Verlust an Sinnhaftigkeit eine wichtige Rolle für unsere aktuelle, mangelnde Resilienz. In früheren Zeiten hatten die meisten Menschen weniger Freizeit, weniger Möglichkeiten der Selbstbestimmung und weniger Geld. Dennoch schien ein Sterben im Krieg für Kirche und Vaterland ihrem Leben einen Sinn zu verleihen. Die Begeisterung junger Menschen kurz vor dem Einzug an die Front im 1. Weltkrieg ist für uns heute kaum nachvollziehbar. Zu diesen Zeiten will die Mehrheit der Menschen sicherlich nicht mehr zurück. Dennoch gaben solche Kriege den Menschen eine Bestimmung.

Kein Wunder, dass auch in neuerer Zeit Kriege immer noch eine gewisse Faszination ausüben, als würden sie dem eigenen Leben eine tiefere Bedeutung geben. Emmanuel Macron sprach Anfang 2020 davon, dass wir uns im Krieg gegen Covid-19 befinden. Und auch wenn Annalena Baerbock die Aussage, dass wir uns im Krieg gegen Russland befänden aufgrund der politisch-heiklen Situation der Nato schnell relativierte, wird deutlich, wie bedeutend schon alleine der Begriff des Krieges ist.

Überhaupt scheinen sich viele Menschen aktuell in irgend einem Krieg zu befinden, auch wenn der Begriff so idR. nicht genannt wird:

  • Klimaaktivist*innen kämpfen zur Rettung des Planeten gegen Autofahrer*innen.
  • Deutsche Söldner kämpfen auf Seiten der Ukraine gegen Russland.
  • Die Antifa kämpft seit der anhaltenden Krisenstimmung vehementer denn je gegen Nazis.
  • Reichsbürger*innen würden den Staat am liebsten abschaffen.
  • LGBTIQ-Gruppen kämpfen für Minderheiten und sexuelle Selbstbestimmung.
  • Die Gegenseite kämpft für den Erhalt der klassischen Familie mit Vater, Mutter, Kind.
  • Alte Feminist*innen kämpfen gegen neue Feminist*innen.
  • Alte Linke kämpfen gegen neue Linke. Usw.

Wurde jemals so vehement gekämpft wie heute? Oder fühlt es sich dank der zugespitzten Austragung der Meinungsverschiedenheiten in digitalen Netzwerken nur so an?

Ging den Menschen der Sinn in ihrem Alltag verloren, weshalb sie versuchen, diesen über Kämpfe zurückzuholen? Wenn dem so ist, gibt es dafür nicht die eine Erklärung für diesen Sinnverlust. Für einen Teil der Menschen greift die hohe Mobilität als Erklärung. Für einen anderen Teil greift die Vereinzelung und Isolierung im Internet und das dauerhafte Gefühl, dass jemand anders mehr erreicht hat als ich selbst. Zusätzlich wurden traditionelle Berufe entwertet, weil eine akademische Ausbildung als höherwertig dargestellt wird und auch finanziell mehr einbringt. Es gibt also viele Gründe für einen möglichen, individuellen Sinnverlust in der Gesellschaft.

Schenken schafft Sinn und stärkt unsere soziale Resilienz

Für etwas zu kämpfen ist nur eine Möglichkeit, dem Leben einen Sinn zu verleihen. Daneben spielt der analoge Austausch mit anderen Menschen eine wichtige Rolle. Eine Plattform wie www.nebenan.de verbindet Nachbar*innen miteinander. Ein Spaziergang mit Freunden macht resilienter als einen Abend lang oberflächlich zu chatten. Arbeitgeber könnten Stammtische reaktivieren, für Sportgruppen werben und Singkreise organisieren. Und für spezielle, auch kritische Themen lassen sich Redekreise nach dem Dialogkonzept von David Bohm durchführen.

All diese Ideen haben eines gemeinsam: Sie sollten entgegen dem vorherrschenden Utilitarismus-Gedanken zweck-, aber nicht sinnfrei sein. Sie sollten kein direktes Ziel verfolgen. Es sollte nicht primär darum gehen, ein Konzert auf die Beine zu stellen, eine Fußballmannschaft für ein Turnier fit zu machen oder sein Karrierenetzwerk am Stammtisch auszubauen. Arbeit ist zweckorientiert, weil sie Essen auf den Tisch bringt und die Miete zahlt. Auch Arbeit kann sinnvoll sein, wenn Flüchtlinge angestellt werden oder allgemein die Welt ein klein wenig besser gemacht wird. Doch nicht jede Arbeit ist sinnerfüllend. Umso wichtiger ist es, diesen Sinn im Austausch mit anderen zu finden – in der Freizeit oder in der Teeküche am Arbeitsplatz. Der Austausch wiederum sollte auch im beruflichen Rahmen keinen direkten Zweck verfolgen. Weiß ich bereits im voraus, welchen Nutzen ich aus einem Treffen ziehen möchte, bin ich nicht mehr offen für Überraschungen, die das Leben erst lebendig machen.

Zweckgebundenheit lässt sich mit einem Einkauf vergleichen: Ich habe klare Vorstellungen wie eine neue Hose aussehen soll und wähle entsprechend aus. Beziehungen sollten jedoch nach dem Prinzip des Schenkens ablaufen: Ich schenke jemandem meine Aufmerksamkeit, Hilfe, Zuwendung, Dankbarkeit, Anerkennung, Liebe, usw. und bekomme bestenfalls etwas Gleichwertiges zurück. Bei einem Kauf entsteht keine langfristige Beziehung: Ich bezahle die Hose und sofern sie keinen Fehler hat, ist die Beziehung damit beendet. In der Ökonomie des Schenkens beginnt die Beziehung erst mit dem Akt des Gebens. Beziehungen wiederum sind der vermutlich größte Sinnspender, den wir haben. Kaufen wir für uns selbst Blumen? Für den Partner oder die Partner*in wohl eher. Stehen wir am Samstagmorgen ohne zu Murren um 4.30 Uhr auf, weil die jüngere Tochter den letzten Bus nach der Disko verpasst hat? Aber selbstredend. Freuen wir uns beim Geschenk an einen Freund beinahe mehr als er selbst? Alles schon passiert. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Stichwort Spiegelneurone: Kochen wir für uns selbst, soll es meist den Zweck der Nahrungszufuhr erfüllen. Kochen wir für andere, können wir uns dank unserer Spiegelneuronen doppelt freuen – sofern wir geschmacklich nicht ganz daneben liegen. Würden wir jedoch mit der Verköstigung der Freunde einen bestimmten Zweck verfolgen, beispielsweise um einen privaten Kredit bitten, bekommt der Abend schnell ein „Gschmäckle“.

Stattdessen sind die besten Geschenke zweck- aber nicht sinnlos. Die Botschaft sollte lautet: Ich bin nicht hier, weil ich etwas von dir will, sondern weil ich einfach Spaß daran habe, mich offen auf dich einzulassen und dir das zu geben, das ich geben kann.

Dass uns eine solche Zweckfreiheit im Rahmen unserer vielen Verpflichtungen schwer fällt, liegt auf der Hand. Vielleicht sind wir es auch schlichtweg nicht mehr gewöhnt, zweckfrei zu denken. Umso wichtiger ist es, unserem Leben mit einem solchen Austausch einen spontanen, lebendigen, neuen Sinn zu verleihen. Und vielleicht sind wir ab und an auch auf der Suche nach dem ganz großen Sinn des Lebens wie in einem Krieg oder dem Kampf zur Durchsetzung einer Idee. Dabei ist der wahre Sinn des Lebens viel kleiner als wir denken und besteht einfach nur darin Mensch zu sein und sich offen und neugierig auf andere Menschen einzulassen.

Literatur

Fowler und Christakis: Die Macht sozialer Netzwerke

Gregor Hasler: Resilienz: Der Wir-Faktor

Adam Grant: Geben und Nehmen

Wann Optimismus sinnvoll ist und wann nicht

Bild von pch.vector auf Freepik

Wann Optimismus schädlich sein kann

Macht Optimismus wirklich resilient? Lässt uns Optimismus schwierige Umstände besser aushalten? Und ist Optimismus gesund?

Fakt ist: Depressive Menschen schätzen sich selbst viel zu inkompetent ein und ihr Umfeld viel zu kompetent. Der normale Mensch hingegen schätzt sich selbst viel zu positiv ein. Männer glauben zu 80% überdurchschnittlich gute Liebhaber zu sein, zu 90% eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz zu haben und zu 75% überdurchschnittlich gut Auto zu fahren. Frauen wiederum schätzen ihre Popularität im Freundeskreis oder die Dauer ihrer Ehe zu hoch ein (vgl. Hasler, S. 81). Selbst bei der Präsentation solcher Zahlen sagen sich wohl die meisten: Das ist ja verrückt, aber bei mir stimmt es nun mal.

Eine solche unrealistische Sichtweise wäre nun grundsätzlich kein Problem. Die Welt ist schlimm genug. Wären da nicht die negativen Konsequenzen eines übertriebenen Optimismus:

  • Wer glaubt, super gut Auto zu fahren, geht mehr Risiken auf der Autobahn ein.
  • Wer glaubt, eine Top-Freundin zu sein, ist überrascht, wenn plötzlich kritische Stimmen aufkommen.
  • Wer glaubt, ein super Liebhaber zu sein, fällt aus allen Wolken, wenn die eigene Frau eines Tages die Koffer packt.

Auch auf der großen Politikbühne kann Optimismus schädlich sein. Putin glaubte offensichtlich, er könne die Ukraine im Handstreich erobern, was nicht funktionierte. Und Selenskyj glaubt daran – zumindest hat es den Anschein – die Krim zurückzuerobern. Der Beweis steht noch aus, aber einfach wird es nicht. Jedenfalls gilt es festzuhalten, dass Kriege nicht von Pessimisten, sondern idR. unrealistischen Optimisten geführt werden. Die Welteroberungsphantasie eines Adolf Hitler ist da wohl nur die absolute Spitze des Eisbergs.

Solche narzisstischen Machbarkeitsgedanken fußen letztlich auf einem übertriebenen Selbstwertgefühl. Während Psycholog*innen seit den 70ern davon ausgingen, man müsse nur das Selbstwertgefühl der Menschen mit Therapien und Feelgood-Programmen steigern, um eine bessere Welt zu schaffen, legen neuere Studien nahe, dass ein zu hohes Selbstwertgefühl zu Aggressionen und Narzissmus führen kann. Eigentlich logisch: Wer mit dem Mantra aufwächst, einzigartig zu sein und alles erreichen zu können, wenn er oder sie es nur will, dann jedoch auf Widerstände stößt, gerät schnell in eine Frustrations-Aggressions-Spirale. Was bei Menschen mit Depressionen oder allgemein einem unrealistischen Pessimismus funktioniert, hat bei Menschen, die ohnehin schon einen unrealistischen Optimismus an den Tag legen – und das geht wohl den meisten von uns so – einen negativen Effekt (vgl. Hasler, S. 88f). Ein Thema, das uns in Zukunft aufgrund der Instagramisierung der Welt sicherlich noch reichhaltig beschäftigen wird.

Wann Optimismus angebracht ist

Wann ist Optimismus also angebracht?

Letztlich geht es immer darum zwischen Situationen zu unterscheiden, die ich beeinflussen kann und solchen, auf die ich kaum einen Einfluss habe:

  • In Situationen, die ich beeinflussen kann, sollte ich eine gewisse Demut an den Tag legen, insbesondere wenn andere Menschen von mir abhängig sind. Kriege sind hier der Extremfall. Aber auch im Alltag sind andere Menschen von meinem Fahrverhalten oder meinen Leistungen in der Arbeit oder als Freund*in abhängig.
  • In Situationen, die ich nicht beeinflussen kann, beispielsweise in Krisen wie dem aktuellen Personalmangel oder einer dauerhaften Unterbesetzung im Team, brauche ich Optimismus, Zuversicht und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Hier richtet mein Optimismus keinen Schaden an, weil ich ohnehin wenig ausrichten kann.

Optimismus-Strategien

Doch wie bringe ich mich in eine positive Stimmung und sollten wir in Krisen nur noch positiv denken?

Die Vielzahl der Ratgeber zum Thema macht es sich hier zu einfach. Alles Negative rosarot sehen und dann wird das schon mit der Resilienz? In Wirklichkeit ist es beruhigenderweise komplizierter. Zwar legen Untersuchungen nahe, dass die Zunahme positiver Emotionen hilfreich ist, um besser mit Krisen umzugehen. Auch das eigene Leben wird dadurch verlängert. Dafür müssen negative Gedanken jedoch nicht ignoriert werden. Ein umfassende Gedankenhygiene ist also nicht notwendig. Es geht nicht um eine stoische Umdeutung vom Negativen ins Positive, sondern um ein Ausschöpfen der ganzen emotionalen Bandbreite im Sinne von: „Es ärgert mich, dass wir dauerhaft unterbesetzt sind, dadurch wächst das Team aber auch enger zusammen.“

Durch die Ergänzung der negativen Sichtweise weitet sich nach der Broaden-and-Build-Theorie nach Barbara Fredrickson unser kreatives Denkfeld (vgl. Hübler, S. 25):

  1. Broaden: Eine positive Stimmung führt zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung. Zudem können positive Emotionen wie Optimismus, Freude, Inspiration, Hoffnung oder Neugier die Folgen negativer Stimmungen aufwiegen. Die veränderte Wahrnehmung verändert unser Denken. Ich gehe kreativer mit Problemen um und bekomme auch einen schärferen Zukunftsblick.
  2. Build: Damit baue ich langfristig Expertenwissen auf, komme mehr in Kontakt mit anderen und werde flexibler im Handeln. Geht es mehr Menschen im Team so, ergeben sich positive Kettenreaktionen.

Wie erreiche ich nun einen solchen positiven Blick für den Umgang in Krisenzeiten:

  • Ich kann meine negativen Sichtweisen mit einer positiven Sichtweise ergänzen.
  • Ich kann über den Sinn hinter einer Belastung nachdenken. Gerade in Krisen zeigt sich bspw. wer wahre Freunde sind.
  • Ich kann zu mir sagen: Egal wie lange die Belastung anhält, irgendwann ist sie zu Ende. Oder aber ich bin so daran gewachsen, dass sie mir nicht mehr als Belastung vorkommt.
  • Ich kann zu mir sagen: Die Belastung betrifft nur einen Teilaspekt meiner Person und meines Lebens.
  • Ich kann zu mir sagen: Manche Dinge passieren, auf die ich selbst keinen Einfluss habe. Jetzt gilt es, diese unverschuldete Belastung auszuhalten.

Literatur:

Greogor Hasler – Resilenz: Der Wir-Faktor

Michael Hübler – Mit positiver Führung die Mitarbeiterbindung fördern

Warum bei Stress Reden oft nicht weiterhilft

Bild von jcomp auf Freepik

Die drei Aktivierungsstufen von Stress

Das kennt vermutlich jede/r: Wir stehen unter Stress und bekommen gute Ratschläge von anderen, wie wir besser damit umgehen könnten. Da heißt es: „Geh’ doch mal eine Runde spazieren. Ein wenig in die Sonne und an die frische Luft.“ Oder: „Versuch’ doch mal die positiven Seiten an der Sache zu sehen.“

Was in normalen Stress-Situationen harmlos ist oder sogar wütend macht, kann in besonders schwierigen Situationen, beispielsweise depressiven Phasen, die Situation sogar verschlimmern. Denn wer nicht einmal in der Lage ist, solche einfachen Ratschläge zu befolgen, die wertungsfrei betrachtet durchaus hilfreich sind, ist offensichtlich verloren. Hier gilt wohl der Spruch „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.

Warum jedoch tun wir uns oft so schwer, gut gemeinte Ratschläge anzunehmen?

Neben der Tatsache, dass jeder Mensch anders ist und deshalb auch Tipps nur bedingt übertragbar sind, ist unsere psychische und körperliche Gesundheit ein hochkomplexes System. Vereinfacht formuliert reagieren wir unter Stress

  1. mit einer Aktivierung („Obacht, da muss ich aufpassen!“),
  2. mit Kampf („Jetzt gilt es!“) oder Flucht („Da nehme ich wohl besser die Beine in die Hand“) und
  3. bei längerer Belastung ohne Fluchtmöglichkeit mit kurzfristiger oder dauerhafter Erstarrung („Wenn ich schon nicht ständig blau machen oder meinem Chef Paroli bieten kann, mache ich mich wenigstens unsichtbar“).

Ein aufgebrachter Mensch könnte durchaus in der Lage sein, die positiven Seiten einer Krise zu sehen. Ein Mensch im Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus ist dies mit Sicherheit nicht. Solche Tipps passen daher häufig nicht zum aktuellen Zustand.

Das Zusammenspiel unserer Nerven

Zur Aktivierung und Beruhigung unter Stress spielt in unserem Körper neben dem Sympathikus und Parasympathikus als Teil unseres vegetativen Nervensystems der Vagus-Nerv eine wichtige Rolle. Der Vargus-Nerv wird auch als Hirnnerv bezeichnet, weil er direkt von unserem Gehirn bis in unseren Darm reicht. Als Hirnerv funktioniert der Vagus wesentlich komplexer als Sympathikus und Parasympathikus. Ein Teil des Vagus, der sogenannte Erstarrungs-Vagus ist dafür zuständig, uns in besonders stressigen Situationen möglichst klein zu machen. Ein anderer Teil des Vagus, der sozial-vegetative Vagus ist dafür zuständig, unsere Darmtätigkeiten unter Stress zu regulieren und soziale Beziehungen zu pflegen, indem er Einfluss auf unsere Emotionen und Mimik nimmt. Da unser Vagus-Nerv hochverzweigt durch unseren halben Körper verläuft, ist sein Einfluss hochkomplex.

Die verschiedenen Teile des Vagus-Nervs lassen sich unterschiedlich beruhigen oder aktivieren. Der Erstarrungs-Vagus wird bei kleinen Kindern durch Begrenzungen beim Wickeln trainiert. Wenn wir später Freunde umarmen oder uns in eine warme, dicke und schwere Decke hüllen, spüren wir diese Grenze ebenso. Der Trick dahinter ist die sanfte, freiwillige Gewöhnung. Wer auf diese Weise seinen Erstarrungs-Vagus trainiert, geht später unter Stress besser mit einer erzwungenen Erstarrung um.

Der sozial-vegetative Vagus wird durch eine gesunde Ernährung und stützende Beziehungen aktiviert, beispielsweise über verlässliche Freundschaften, gute Kolleg*innen, Spiritualität oder eine tragende und vertrauliche Coach-Klienten-Beziehung.

Dabei zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Sozialen und unserer Verdauung. Gute Bindungen fördern die Ausschüttung des Bindungshormons Ozytocin, das wiederum unseren Darm verlangsamt, damit er auch mit schwerdaulichen Speisen fertig wird. Dass Liebe durch den Magen geht oder uns ein Konflikt schwer im Magen liegt, ist daher weniger blumig formuliert als auf körperliche Tatsachen zurückzuführen.

Erst der Körper, dann das Reden

Nun haben Stress, insbesondere Dauerstress oder traumatische Erfahrungen die Eigenart, dass sich schwer darüber sprechen lässt. Es kann sogar sein, dass ein Darüber Sprechen sogar zu Retraumatisierungen führt. Aus diesem Grund ist es oft hilfreich, zuerst auf einer körperlichen Ebene anzusetzen:

  1. Den Erstarrungs-Vagus mit Bewegung beruhigen: Bei Menschen, die aufgrund dauerhaften Stresserlebens erstarrt sind, kann es hilfreich sein, den Körper durch Atemübungen, Sport, Spaziergänge oder Tanzen zuerst wieder in Bewegung zu bringen. Der Tipp mit der Bewegung an der frischen Luft ist intuitiv also durchaus passend. Er sollte jedoch mit einem tiefen Verständnis dafür gepaart sein, dass bereits das für manche Menschen nicht einfach ist. Vielleicht ist in so einem Fall ein medizinisches Trampolin eine gute Alternative.
  2. Den Sympathikus entspannen: Nimmt die Erstarrung ab, gerät der Mensch entweder in einen Kampf- oder Fluchtmodus. An einem Beispiel: Wer realisiert, dass er sich vor seinem übergriffigen Chef nicht mehr klein machen sollte, steht nun vor der Wahl, sich entweder zu verteidigen oder – wenn ihm dafür noch die Kompetenzen fehlen – aus kritischen Situationen beispielsweise durch Krankheit oder humorvolle Ablenkungen zu flüchten. Die Auflösung der Erstarrung bringt folglich neue Herausforderungen mit sich. An dieser Stelle eines Coachings oder einer Therapie gilt es daher die Handlungskompetenz durch Resilienz-, Achtsamkeitstrainings, Entspannungsübungen, entspannende Musik oder auch Körpertrainings wie Yoga oder Thai Chi so vorzubereiten, dass eine stressige Situation ausgehalten wird, ohne zuzuschlagen oder wegzurennen. Auch hier wirken Bindungen Wunder, beispielsweise durch das geduldige Vertrauen eines Coaches in seine Klienten.
  3. Den sozial-vegetativen Vagus fördern: Auf der dritten Stufe schließlich kann nun endlich – dank der Vorbereitung – das eigentliche Coaching sozialer Kompetenzen trainiert werden.

Anhand dieser physiologischen Zusammenhänge lässt sich nicht nur erklären, wie in unserem Körper insbesondere aufgrund des Vagus-Nervs Denken, Fühlen, Verdauung, Auftreten, Sprechen, Mimik, Atmung, usw. miteinander verbunden sind, sondern auch, warum manche Trainings- oder Coaching-Maßnahmen scheitern, wenn sie zu schnell auf die Kompetenzen-Schiene abzielen.

Als Coach hatte ich es bislang selten mit Coachees in Erstarrung zu tun. Erstarrung findet eher in therapeutischen Settings aufgrund starker Traumata statt. Den zweiten Schritt vor dem dritten zu machen, d.h. zuerst den Sympathikus zu beruhigen und sich dann – in Ruhe – der Entwicklung von Kompetenzen zu widmen, ist jedoch enorm hilfreich.

Diese Vorgehensweise findet sich u.a. im Focusing, einer Weiterentwicklung der Gesprächstherapie. Hier wird zuerst der sogenannte Freiraum des Klienten gefördert: „Sitzen Sie gut? Brauchen Sie etwas zu trinken? Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt, um erst einmal hier anzukommen“. Erst dann wird über mögliche Veränderungen gesprochen.

Literatur:

Gregor Hasler – Die Darm-Hirn-Connection

Dr. Hildegard Nibel und Kathrin Fischer – Neurogenes Zittern

Eugene T. Gendlin – Focusing

Wann sind Resilienz-Trainings sinnvoll?

Bild von Freepik

Resilienz als Fähigkeit, schwierige Situationen und damit auch Krisen und Dauerbelastungen gut zu meistern und bestenfalls gestärkt daraus hervor zu gehen, ist offensichtlich ein Begriff unserer Zeit, der bis in die Politik hinein reicht. Dabei stellt sich immer auch die Frage, was damit bezweckt werden soll:

  • Soll der Mensch für die Zukunft fit gemacht werden?
  • Oder soll von notwendigen strukturellen Veränderungen abgelenkt werden?

Veränderbare und unveränderbare Faktoren

So wie es eindeutig erscheint, dass wir in Zukunft mehr mit plötzlichen Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürreperioden und dergleichen mehr zu tun haben werden und uns daher auch dafür wappnen sollten, d.h. resilienter mit unvorhersehbaren, unsicheren Situationen umgehen sollten, erscheint es im Zuge der Herausforderungen in Unternehmen ebenso klar, dass stetige, oft auch krisenhafte Umbruchsituationen vorprogrammiert sind:

  • Die Krisen der Welt führen auch in Unternehmen zu stetigen Anpassungsprozessen.
  • Durch die Digitalisierung hat sich die Konkurrenz globalisiert.
  • Der Fachkräftemangel hat sich mittlerweile zu einem allgemeinen Personalmangel ausgewachsen, in dem es in vielen Branchen nicht mehr darum geht, gute Leute, sondern überhaupt jemanden zu bekommen.
  • Eine grassierende Unzufriedenheit von Arbeitnehmer*innen sowie die mangelnde Bindung an den Arbeitgeber führen u.a. zu einer höheren Fluktuation als früher und dem Phänomen des „Quiet quitting“.

Bereits an diesen wenigen Punkten lässt sich der Unterschied zwischen veränderbaren und unveränderbaren Faktoren verdeutlichen. An Krisen, digitaler Globalisierung und Personalmangel kann ein Unternehmen zuerst einmal nichts ändern. Die Folgen einer Krise für Unternehmen sind genauso ein Fakt wie die Anzahl potentieller Bewerber*innen. Am Beispiel Personalmangel zeigt sich jedoch, dass es mittlerweile einige Strategien gibt, die Bewerber*innen, um die sich Unternehmen streiten, anders als bislang anzusprechen:

  • Mittlerweile gibt es einige Beispiel vom Erfolg der 4-Tage-Woche, wenn Unternehmen berichten, dass sie damit plötzlich wieder 100 Bewerbungen mehr im (digitalen) Briefkasten haben.
  • Das Homeoffice kann ein Zugpferd insbesondere für junge Menschen sein, auch wenn es wichtig ist, klar zu definieren, wann ein mobiler Arbeitsplatz sinnvoll ist und wann eher nicht.
  • Ein clever eingesetztes Employer Branding, indem Mitarbeiter*innen emotional und nahbar mittels Videoclips für ihr Unternehmen werben, kann ebenso einen hohen Werbeeffekt haben.
  • Und schließlich gilt es zu überlegen, inwiefern Migrant*innen als Bewerber*innen eingebunden werden können.

Ob es jedoch reicht, Stellenanzeigen zu gendern, um die eigene Diversität zu verdeutlichen und damit mehr Bewerber*innen anzusprechen, bezweifle ich.

Bei der Unzufriedenheit der Mitarbeiter*innen wiederum wird schnell deutlich, dass dieser Faktor in weiten Teilen hausgemacht ist. Da Unzufriedenheit und damit einher gehend auch eine mangelnde Bindung an Teams und Unternehmen in der Regel auf eine mangelnde Führung zurückgehen, ist es unabdingbar, genau hier anzusetzen. Die Konzepte dafür sind reichhaltig vorhanden, egal ob sie nun „Agiles Führen“ mit Vertrauen und Transparenz, „Positive Leadership“ auf der Basis der positiven Psychologie, „Führen mit emotionaler Kompetenz“, „Dienende Führung“ bzw. „Servant Leadership“ oder „Menschliche Führung“ heißen.

Das feine Gespür der Mitarbeiter*innen

Zeitsprung in das Jahr 2010: Damals sollte ich für die gesamte Führungsriege eines Unternehmens ein Zeitmanagementtraining durchführen. Nach Abklärung mit der Personalentwicklung war ich gewarnt, dass einige der Teilnehmer*innen das Seminar begrüßen, andere jedoch eher nicht. Nun gut: Ich war jung und brauchte das Geld. Der einhellige O-Ton im Seminar lautete jedenfalls: „Wir haben kein Zeitmanagement-Problem, sondern die Geschäftsleitung. Sobald ein Meeting zu kurz wird, beginnt er mit ausufernden Reden. Der scheint sich einfach selber gerne zuzuhören.“

Schnell wurde klar, dass es nicht nur am Chef lag, sondern an der grundsätzlichen Führungskultur im Unternehmen. Die Eckpunkte lauteten: Wenig Vertrauen gegenüber den Mitarbeiter*innen und eine Kultur der Wichtigkeit, bei der es Führungskräften schwer fällt loszulassen. Der Chef war hier lediglich ein Teil des Problems.

Das Problem bei solchen Seminaren ist jedoch immer dasselbe: Bekommen Mitarbeiter*innen ein Zeitmanagementtraining aufoktroiert, obwohl sie bereits hoch organisiert sind, sich jedoch an den Strukturen wenig verändert, lautet die unausgesprochene Nachricht: Wir schieben euch den schwarzen Peter zu, damit sich kulturell und/oder strukturell nichts verändern muss.

Dies spricht nicht automatisch gegen Zeitmanagementtrainings, sondern dafür, die Probleme klar zu benennen und sauber anzugehen:

  • Wie schaut es mit unserer Führungskultur aus? Brauchen wir anstatt eines Zeitmanagementtrainings eher ein Führungstraining zu den Themen Vertrauen, Delegieren und Loslassen?
  • Und was passiert auf der systemischen Ebene? Gibt es genügend Ressourcen? Sind unsere Prozesse und Schnittstellen sauber definiert? Und wie schaut es mit unserem Fehlermanagement aus?

Resilienz ist das neue Zeitmanagement

Während sich Zeitmanagement (Prioritäten setzen, Listen führen, etc.) noch auf der Handlungsebene abspielte, geht Resilienz als Denkhaltung tiefer. Hier geht es letztlich nicht mehr darum, etwas zu verändern, sondern schwierige Situationen auszuhalten. Was ist also davon zu halten, wenn ein Krankenhaus seinen Mitarbeiter*innen ein Resilienzprogramm für Soldat*innen anbietet, jedoch auf der strukturellen Ebene alles beim Alten bleibt (siehe der Freitag, Nr. 16, 20.04.2023, Seite 7)?

Was für Zeitmanagement gilt, gilt auch für Resilienz: Die Menschen fit zu machen für widrige Umstände, aus denen es erst einmal kein entrinnen gibt, kann ein wichtiger Baustein im Fortbildungsprogramm eines Unternehmens sein. Tatsächlich kommt die Resilienzforschung aus Bereichen, in denen ein Ausbruch unmöglich erschien, beispielsweise in Konzentrationslagern, Gefängnissen oder schwierigen Familienverhältnissen. Zudem vereinnahmen diese sozialen Settings den gesamten Menschen. Dies ist bei Unternehmen nicht der Fall. Unternehmen sind keine totalitären Einrichtungen. Mitarbeiter*innen gehen am Abend nach Hause und schlimmstenfalls können sie kündigen. Unternehmen, die es folglich mit dem resilienten Aushalten schwieriger Umstände übertreiben, müssen alsbald erkennen, dass die Mitarbeiter*innen, die es sich leisten können, weil sie jung und/oder gut ausgebildet sind, woanders eine bessere Chance suchen. Zurück bleiben dann nur noch diejenigen, die es sich nicht leisten können, was Teams langfristig sicherlich nicht resilienter macht.

Ohne flankierende Maßnahmen keine Resilienz

Wer Resilienztrainings anbietet, sollte deshalb nicht davon ausgehen, dass Mitarbeiter*innen automatisch „Hurra!“ schreien. Personalentwickler*innen sollten sich stattdessen bewusst machen, dass damit auch die Nachricht verbunden sein kann, den Mitarbeiter*innen den schwarzen Peter bei Dauerbelastungen zuzuschieben.

Um das zu vermeiden, ist es wichtig flankierende Maßnahmen anzubieten und durchzuführen:

  • Kulturveränderung: Resilienz ist auch ein Führungsthema. Im Rahmen von Führungstrainings, bspw. „Positive Leadership“ geht es auch darum, was Führungskräfte tun können, um die Resilienz ihrer Mitarbeiter*innen zu fördern.
  • Strukturveränderung: Unternimmt ein Unternehmen realistische Anstrengungen, um den aktuellen Herausforderungen wie Personalmangel, Fluktuation und Bindung der Mitarbeiter*innen zu begegnen, verlieren Resilienztrainings ihren Schwarzen-Peter-Beigeschmack.

Damit wird deutlich: Es geht in einem Resilienztraining darum, mit vorübergehenden Unsicherheiten umzugehen. Das Unternehmen geht aktuelle Probleme jedoch systemisch an. Das wiederum bedeutet nicht, dass unsichere Situationen nicht wieder einmal auftreten werden. Dafür wurde unsere Welt zu krisenhaft. Dann jedoch sind alle im Unternehmen sowohl kulturell, strukturell als auch individuell gewappnet.

Am sinnvollsten ist es folglich, diese drei Ebenen als Gesamtpaket im Unternehmen zu denken und etablieren:

Literatur:

Stefanie Graefe: Resilienz als Leitkonzept in der Vielfachkrise, (externer Link) https://geschichtedergegenwart.ch/resilienz-leitkonzept-in-der-vielfachkrise

Rosemarie Walter-Enderlin & Bruno Hildenbrand: Resilienz – Gedeihen unter widrigen Umständen. Carl-Auer

Erschöpft vom Leben

Bild von storyset auf Freepik

2022 befragte das Meinungsforschungsinstitut Civey 5000 Personen nach ihrem Grad der Belastung. Das Ergebnis: Etwa 50% der Befragten fühlten sich erschöpft. Von der Arbeit. Den täglichen Aufgaben, insbesondere bei Familien mit Kindern. Der Reizüberflutung in Großstädten. Den vielen Krisen um uns herum. Letztlich davon, das Leben gerade so zu meistern. Mehr aber auch nicht. Lebensfreude? Fehlanzeige. Als hätten sich viele von uns mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter Ziele gesetzt, denen sie nun zeitlebens hinterher hecheln: Haus abbezahlen, Karriere machen, Karriere der Kinder fördern, usw.

Paradoxerweise verschlimmern zwei vermeintliche Lösungsstrategien unseren Umgang mit Stress und Krisen nur noch mehr:

  1. Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, sich von den Belastungen des Alltags abzulenken. Doch das Überangebot an sehenswerten Serien, Filmen oder Dokus artet seinerseits in Stress aus.
  2. Noch nie kamen wir so leicht an Informationen über Krisen in der ganzen Welt. Wenn wir schon nicht imstande sind, die Welt zu retten, können wir uns zumindest über den Stand der Dinge informieren. Wissen ist Macht. Oder etwa nicht?

Hilfreich scheint das jedoch nicht zu sein. Denn wer einerseits wütend ist auf den Zustand der Welt oder auch nur auf die Politik der Ampelregierung, sich jedoch außer der Unterstützung einer Onlinepetition außerstande fühlt, etwas zu unternehmen, steht bereits mit einem Bein in der Depression. Denn: Zu wissen, was alles im Argen liegt und gleichzeitig handlungsunfähig zu sein, macht depressiv.

Digital Detox ist auch keine Lösung

Ein dauerhaftes „Digital Detox“ ist sicherlich keine Lösung. Je nach Lebenslage ist es durchaus wichtig beispielsweise die aktuelle Debatte um Gebäudesanierungen mitzubekommen, um vorbereitet zu sein. Auch das Wissen um Deep-Fakes oder die neuesten Trickbetrügermaschen ist hilfreich, um nicht halbblind durch die Welt zu segeln. Ohnehin stellt sich die Frage, wer es sich heute noch leisten kann, nicht digital unterwegs zu sein, und sei es nur zumindest eine Email-Adresse zu haben.

Die Adressatenfrage

Stattdessen sollten wir uns beim Konsum von Weltuntergangsnachrichten die Frage der persönlichen Relevanz stellen:

  • Betreffen mich Gebäudesanierungen, wenn ich selbst kein Haus besitze?
  • Betreffen mich Aufrufe zum „Kalt Duschen“, wenn meine Gasrechnung ohnehin eher bescheiden ausfällt?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Dass wir uns durch Nachrichten in die Probleme anderer Menschen hineinversetzen betrachte ich als eine der Hauptaufgaben von Medien. Medien sollten, wie der Name suggeriert, zwischen verschiedenen Personengruppen vermitteln. In diesem Sinne könnte ich eine Nachricht als Information betrachten: „Ah, das gibt es also auch.“ Mir scheint jedoch, dass sich in den letzten Jahren ein Reiz-Reaktions-Impuls oder besser Informations-Wut-Automatismus beim Medienkonsum etablierte, bei dem die Effekthascherei vieler Medien, insbesondere im digitalen Bereich, nicht ganz unschuldig ist. Die Welt geht sozusagen jeden Tag mindestens einmal unter. Und der große Bevölkerungsaufstand steht auch jederzeit im Raum. Ein Hoch auf das Prepper-Wesen! Ein Wunder, dass wir alle noch leben. Dennoch verlangt niemand von uns, auch nicht der Springer-Verlag, dass wir uns stetig direkt angesprochen fühlen, als müssten wir sofort handeln. Bei mir selbst rauschen viele Informationen einfach durch, weil ich mich ganz oft frage: Meinen die mich? Eher nicht.

Zur Verdeutlichung: Vor etwa 20 Jahren musste mein bescheidenes Pädagogengehalt für unsere kleine Familie ausreichen. Von einem Bekannten erfuhren wir von der Möglichkeit Wohngeld zu beantragen. Mein Verdienst lag knapp unter dem Regelsatz. Also nahmen wir die Armada an Unterlagen und Nachweisen in Angriff. Als wir alles beisammen hatten, um eine mögliche Förderung mit unserem Ansprechpartner auf dem Amt durchzusprechen, schaute uns dieser mit großen Augen an und meinte: „Da muss ein Fehler passiert sein. Niemand kann so wenig Gas und Strom verbrauchen.“ Aber die Belege stimmten natürlich. Dass wir sparsam sind, war uns bewusst. Dass wir so sparsam waren, war uns nicht klar. Und selbst in der aktuellen Energiekrise bekamen wir wieder einmal ein paar Euro von unserem Gasanbieter zurück, obwohl wir unser Verhalten nicht wirklich veränderten. Wenn ich heute ein Video von Winfried Kretschmann sehe, in dem er erklärt, wie man die Heizung über Nacht herunter dreht, entlockt mir das eher ein Schmunzeln als dass ich mich darüber ärgere. Es betrifft mich schlicht und einfach nicht.

Ich trenne seit 35 Jahren meinen Müll. Ich saß in meinem ganzen Leben vier mal in einem Flugzeug und fahre eher mit der Bahn als mit dem Auto. Kurzum: Das Thema Umwelt rauscht bei mir durch. Selbst die Klimakleber betreffen mich nicht, weil ich noch nie einem begegnet bin. Warum sollte ich mich also über etwas aufregen, dass mich nicht betrifft. Stattdessen betrachte ich Nachrichten darüber als das, was sie sind: Informationen ohne Wertung. Sie informieren mich, damit ich Bescheid weiß, was in der Welt passiert. Nicht mehr und nicht weniger.

Konzentration auf das, was uns wirklich betrifft

Gleichzeitig gibt es natürlich Themen, die mich direkt betreffen. Wenn 50% der Menschen tatsächlich wie in der eingangs beschriebenen Umfrage erschöpft sind, betrifft mich das als Coach und Seminarleiter. Auch ich bin schließlich mit Themen wie Stress und Resilienz unterwegs. Und insbesondere bei diesen Themen frage ich mich: Was können wir selber tun und wo sind wir schlichtweg nicht schuld, wie der Titel meines Ebooks (Externer Link: Du bist nicht schuld) zum Umgang mit Dauerbelastungen verdeutlicht. In diesem Spektrum haben viele Nachrichten für mich einen hohen Informationswert:

  • Lockdowns haben die psychische Gesundheit von Jugendlichen langfristig gefährdet.
  • Krankenhauspersonal soll mittels Resilienzseminaren fit gemacht werden, anstatt für mehr Personal zu sorgen.
  • Die Streiks in diesem Land nehmen ungewöhnlich zu. Ist die Zeit Belastungen auszuhalten für viele Personengruppen vorbei?

Zu solchen Nachrichten habe ich einen direkten Bezug. Auch das sind keine schönen Nachrichten. Aber sie affizieren mich. Die Informationen verärgern mich auch manchmal. Aber sie ermüden mich nicht, weil die Informationen als Hintergrund für meine Seminare dienen und mich zum Weiterdenken anregen, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann.

Die beiden Filterfragen

Letztlich geht es also umso zwei Fragen beim Konsum von Medien, um von der Fülle der Informationen nicht erschöpft zu werden: Was betrifft mich? Und was betrifft mich nicht?

Diese beiden simplen Fragen lassen sich sogar auf Bereiche übertragen, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind: Filme und Serien. Vor ein paar Jahren entdeckte ich für mich, dass mich ein Tatort aufgrund der Beschäftigung mit typisch deutschen Themen mehr affiziert als us-amerikanische Serien. Eine amerikanische Serie mag spannender und besser produziert sein, in dem Moment, wo ein Prototyp von US-Soldat sagt: „Ich würde für dieses Land sterben“, ist bei mir der Ofen aus. Dann doch lieber einen Einblick in die schrullige Seelenwelt von Niederkaltenkirchen bekommen.

Das gleiche Prinzip gilt freilich nicht nur für Nachrichten oder Filme, sondern im gesamten Leben. Auch unsere Arbeit wird häufig von einer Informationsüberflutung bestimmt, bei der wir uns fragen sollten: Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Sprich:

  • Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Wenn ja, muss ich mich wohl darum kümmern. Wenn nein, ist es vielleicht gar nicht so wichtig.
  • Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Wenn ja, ist es offensichtlich auch dringend. Wenn nein, sollte ich mich zuerst am Wichtigeres und Dringenderes kümmern.
  • Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Wenn ja, muss tatsächlich ich mich darum kümmern. Wenn nein, sollte sich wohl jemand anders darum kümmern.

Auch der Lärm in der Großstadt ist nicht wirklich an uns adressiert oder das Schreien der eigenen Kinder. Sobald wir erkennen, was uns wirklich betrifft und was mehr oder weniger zufällig passiert, fühlen wir uns auch weniger angegriffen und zum Handeln verpflichtet. Und damit wird letztlich auch unsere Erschöpfung abnehmen.