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Resilienz: Zwei Seiten einer Medaille

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Die individuelle und soziale Seite der Resilienz

Die individuelle Seite ist relativ bekannt und steht dafür optimistisch in die Zukunft zu blicken und sich an schwierige Situationen agil und adaptiv anzupassen, daran zu lernen und zu wachsen.

Die soziale Seite ist eher unbekannt und hat mit Sinnhaftigkeit und Verbundenheit zu tun:

  • Ich weiß, dass es einen Unterschied macht, dass ich auf der Welt bin.
  • Ich kann in Krisenzeiten auf ein Netzwerk aus Familie und Freunden zurückgreifen.
  • Ich stehe selten in Wettbewerb mit anderen und muss daher nicht ständig beweisen, was ich kann.

Der Schlüssel liegt im Wir

Wer sich fragt, warum die Welt aktuell so nach Resilienz dürstet und sich trotz einem reichhaltigen Angebot an Literatur, Seminaren und Coachings nur bedingt besser fühlt, findet die Antwort in dem Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Resilienz:

  • Die persönliche Resilienz kann viel erreichen, stößt jedoch irgendwann einmal an eine Grenze, für die sie nicht mehr zuständig ist.
  • Die soziale Resilienz nahm jedoch in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Mobilität und Digitalisierung immer mehr ab.

Mobilität führt dazu, dass soziale Netzwerke regelmäßig durcheinander gewürfelt und wieder neu aufgebaut werden müssen. Dies gilt v.a. für gut ausgebildete Angestellte. Die Mobilität bringt viele Chancen mit sich. Wir sollten uns jedoch vor einem Ortswechsel gut überlegen, welchen Gewinn wir daraus ziehen und welche Kosten der Wechsel mit sich bringt. Der Gewinn ist offensichtlich: Eine neue Herausforderung, die Chance einen Karrieresprung zu machen oder einfach mehr Geld zu verdienen. Die Kosten werden uns leider erst später bewusst: Die alten Freunde werden zurück gelassen und damit auch die Möglichkeit, sich in Krisen wie in beinahe alten Zeiten am Tresen über Ärger und Sorgen auszutauschen.

Wir versuchen diese Manko mit Hilfe digitaler Netzwerke auszugleichen, was jedoch nur bedingt gelingt. Facebook hat zwar keine Sperrzeiten, funktioniert aber dennoch nicht wie ein Tresen oder der Spaziergang mit einem guten Freund. Es fehlt – das wissen wir alle – das differenzierte mimisch-verbale Feedback. Es fehlen das nonverbale Schulterklopfen oder einfach nur die Präsenz des anderen mit dem Bewusstsein: Gut, dass da noch jemand ist und sich Zeit für mich nimmt.

Laut Studien des Soziologen Nicolas Christakis und Politikwissenschaftlers James Fowler bringen maximal 12 echte Freunde aus der nahen Umgebung mehr für unsere (soziale) Resilienz als Hunderte von Netzwerkbekannten, die uns ab und an ein Like hinterlassen. Nichts gegen ein großes berufliches Netzwerk. Wenn ich auf Linkedin einen Artikel veröffentliche, ist es hilfreich, diesen möglichst breit zu streuen. Und manchmal ergeben sich daraus interessante fachliche Diskussionen. Das hat jedoch nichts mit dem Versuch zu tun, für ein fehlendes soziales Resilienznetzwerk in der nahen Umgebung einen digitalen Ersatz auf Facebook, Instagram oder TikTok zu suchen.

Ein solches oberflächliches, digitales Netzwerk kann sogar unsere Resilienz noch weiter schwächen, wenn wir uns auf Statusvergleiche einlassen. Statusvergleiche setzen uns zusätzlich unter Dauerstress, da es immer jemanden gibt, der – auch dank der schönen neuen Filtertechniken (Persiflage von Extra 3) – vermeintlich schöner, reicher oder glücklicher ist. Und wer sich in dieser Welt des digitalen Glamours einmal besser fühlen will, blickt auf andere mit Hilfe von Shitstorms herab. Ein echtes Miteinander im Sinne des Teilens von Problemen, was unserer Resilienz gut tun würde, findet jedoch selten statt.

Helfen Kämpfe gegen Sinnverlust?

Neben den Folgen der Mobilität und den Statusvergleichen in digitalen Netzwerken spielt zuguterletzt auch der Verlust an Sinnhaftigkeit eine wichtige Rolle für unsere aktuelle, mangelnde Resilienz. In früheren Zeiten hatten die meisten Menschen weniger Freizeit, weniger Möglichkeiten der Selbstbestimmung und weniger Geld. Dennoch schien ein Sterben im Krieg für Kirche und Vaterland ihrem Leben einen Sinn zu verleihen. Die Begeisterung junger Menschen kurz vor dem Einzug an die Front im 1. Weltkrieg ist für uns heute kaum nachvollziehbar. Zu diesen Zeiten will die Mehrheit der Menschen sicherlich nicht mehr zurück. Dennoch gaben solche Kriege den Menschen eine Bestimmung.

Kein Wunder, dass auch in neuerer Zeit Kriege immer noch eine gewisse Faszination ausüben, als würden sie dem eigenen Leben eine tiefere Bedeutung geben. Emmanuel Macron sprach Anfang 2020 davon, dass wir uns im Krieg gegen Covid-19 befinden. Und auch wenn Annalena Baerbock die Aussage, dass wir uns im Krieg gegen Russland befänden aufgrund der politisch-heiklen Situation der Nato schnell relativierte, wird deutlich, wie bedeutend schon alleine der Begriff des Krieges ist.

Überhaupt scheinen sich viele Menschen aktuell in irgend einem Krieg zu befinden, auch wenn der Begriff so idR. nicht genannt wird:

  • Klimaaktivist*innen kämpfen zur Rettung des Planeten gegen Autofahrer*innen.
  • Deutsche Söldner kämpfen auf Seiten der Ukraine gegen Russland.
  • Die Antifa kämpft seit der anhaltenden Krisenstimmung vehementer denn je gegen Nazis.
  • Reichsbürger*innen würden den Staat am liebsten abschaffen.
  • LGBTIQ-Gruppen kämpfen für Minderheiten und sexuelle Selbstbestimmung.
  • Die Gegenseite kämpft für den Erhalt der klassischen Familie mit Vater, Mutter, Kind.
  • Alte Feminist*innen kämpfen gegen neue Feminist*innen.
  • Alte Linke kämpfen gegen neue Linke. Usw.

Wurde jemals so vehement gekämpft wie heute? Oder fühlt es sich dank der zugespitzten Austragung der Meinungsverschiedenheiten in digitalen Netzwerken nur so an?

Ging den Menschen der Sinn in ihrem Alltag verloren, weshalb sie versuchen, diesen über Kämpfe zurückzuholen? Wenn dem so ist, gibt es dafür nicht die eine Erklärung für diesen Sinnverlust. Für einen Teil der Menschen greift die hohe Mobilität als Erklärung. Für einen anderen Teil greift die Vereinzelung und Isolierung im Internet und das dauerhafte Gefühl, dass jemand anders mehr erreicht hat als ich selbst. Zusätzlich wurden traditionelle Berufe entwertet, weil eine akademische Ausbildung als höherwertig dargestellt wird und auch finanziell mehr einbringt. Es gibt also viele Gründe für einen möglichen, individuellen Sinnverlust in der Gesellschaft.

Schenken schafft Sinn und stärkt unsere soziale Resilienz

Für etwas zu kämpfen ist nur eine Möglichkeit, dem Leben einen Sinn zu verleihen. Daneben spielt der analoge Austausch mit anderen Menschen eine wichtige Rolle. Eine Plattform wie www.nebenan.de verbindet Nachbar*innen miteinander. Ein Spaziergang mit Freunden macht resilienter als einen Abend lang oberflächlich zu chatten. Arbeitgeber könnten Stammtische reaktivieren, für Sportgruppen werben und Singkreise organisieren. Und für spezielle, auch kritische Themen lassen sich Redekreise nach dem Dialogkonzept von David Bohm durchführen.

All diese Ideen haben eines gemeinsam: Sie sollten entgegen dem vorherrschenden Utilitarismus-Gedanken zweck-, aber nicht sinnfrei sein. Sie sollten kein direktes Ziel verfolgen. Es sollte nicht primär darum gehen, ein Konzert auf die Beine zu stellen, eine Fußballmannschaft für ein Turnier fit zu machen oder sein Karrierenetzwerk am Stammtisch auszubauen. Arbeit ist zweckorientiert, weil sie Essen auf den Tisch bringt und die Miete zahlt. Auch Arbeit kann sinnvoll sein, wenn Flüchtlinge angestellt werden oder allgemein die Welt ein klein wenig besser gemacht wird. Doch nicht jede Arbeit ist sinnerfüllend. Umso wichtiger ist es, diesen Sinn im Austausch mit anderen zu finden – in der Freizeit oder in der Teeküche am Arbeitsplatz. Der Austausch wiederum sollte auch im beruflichen Rahmen keinen direkten Zweck verfolgen. Weiß ich bereits im voraus, welchen Nutzen ich aus einem Treffen ziehen möchte, bin ich nicht mehr offen für Überraschungen, die das Leben erst lebendig machen.

Zweckgebundenheit lässt sich mit einem Einkauf vergleichen: Ich habe klare Vorstellungen wie eine neue Hose aussehen soll und wähle entsprechend aus. Beziehungen sollten jedoch nach dem Prinzip des Schenkens ablaufen: Ich schenke jemandem meine Aufmerksamkeit, Hilfe, Zuwendung, Dankbarkeit, Anerkennung, Liebe, usw. und bekomme bestenfalls etwas Gleichwertiges zurück. Bei einem Kauf entsteht keine langfristige Beziehung: Ich bezahle die Hose und sofern sie keinen Fehler hat, ist die Beziehung damit beendet. In der Ökonomie des Schenkens beginnt die Beziehung erst mit dem Akt des Gebens. Beziehungen wiederum sind der vermutlich größte Sinnspender, den wir haben. Kaufen wir für uns selbst Blumen? Für den Partner oder die Partner*in wohl eher. Stehen wir am Samstagmorgen ohne zu Murren um 4.30 Uhr auf, weil die jüngere Tochter den letzten Bus nach der Disko verpasst hat? Aber selbstredend. Freuen wir uns beim Geschenk an einen Freund beinahe mehr als er selbst? Alles schon passiert. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Stichwort Spiegelneurone: Kochen wir für uns selbst, soll es meist den Zweck der Nahrungszufuhr erfüllen. Kochen wir für andere, können wir uns dank unserer Spiegelneuronen doppelt freuen – sofern wir geschmacklich nicht ganz daneben liegen. Würden wir jedoch mit der Verköstigung der Freunde einen bestimmten Zweck verfolgen, beispielsweise um einen privaten Kredit bitten, bekommt der Abend schnell ein „Gschmäckle“.

Stattdessen sind die besten Geschenke zweck- aber nicht sinnlos. Die Botschaft sollte lautet: Ich bin nicht hier, weil ich etwas von dir will, sondern weil ich einfach Spaß daran habe, mich offen auf dich einzulassen und dir das zu geben, das ich geben kann.

Dass uns eine solche Zweckfreiheit im Rahmen unserer vielen Verpflichtungen schwer fällt, liegt auf der Hand. Vielleicht sind wir es auch schlichtweg nicht mehr gewöhnt, zweckfrei zu denken. Umso wichtiger ist es, unserem Leben mit einem solchen Austausch einen spontanen, lebendigen, neuen Sinn zu verleihen. Und vielleicht sind wir ab und an auch auf der Suche nach dem ganz großen Sinn des Lebens wie in einem Krieg oder dem Kampf zur Durchsetzung einer Idee. Dabei ist der wahre Sinn des Lebens viel kleiner als wir denken und besteht einfach nur darin Mensch zu sein und sich offen und neugierig auf andere Menschen einzulassen.

Literatur

Fowler und Christakis: Die Macht sozialer Netzwerke

Gregor Hasler: Resilienz: Der Wir-Faktor

Adam Grant: Geben und Nehmen

Weihnachten überstehen

Bald ist es wieder soweit. Dann treffen am Fest der Liebe Menschen aufeinander, die genau einmal im Jahr in einer solchen Konstellation zusammentreffen und sich so gar nicht verstehen. Das war schon immer so. Und doch haben die potenziellen Themen des Missverstehens in den letzten Jahren so zugenommen wie die Jahresendmägen der Diskutanden. Zum einen gab es früher keine Coronamaßnahmen, Waffenlieferungen an Europas Grenzgebiete, Solidaritätsfrieren oder Straßenblockaden der selbsternannten “Letzten Generation”. Auch Themen wie Veganismus oder Flugreisen wurden weniger heiß diskutiert. Zum anderen scheinen Diskussionen allgemein jakobinischer geworden zu sein.

Grund genug, sich anzusehen, welche Möglichkeiten es gibt, das Weihnachtsfest auch bei weit auseinander liegenden Meinungen heil zu überstehen.

Zwischen Befürchtungen und Bedürfnissen

Bevor wir dazu kommen, ist es hilfreich zu überlegen, aus welchen Gründen jemand seine Meinung vehement verteidigt. Ein Grund, der häufig genannt wird ist die allgemeine Meinungsfreiheit. Dahinter scheint es eine Angst zu geben, in dunkle Zeiten zurückzufallen, in denen nicht mehr alles gesagt werden durfte. Schnell ist dann der Begriff einer “Cancel Culture” zur Hand, in der eine Meinung zwar gesagt werden darf, aber drastische Konsequenzen nach sich zieht. Wenn beispielsweise eine Professorin an einer Universität eine Statistik zitiert, bei der es um biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau geht, die von manchen gesellschaftlichen Gruppierungen geleugnet werden. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine ganz banale Diskussion handelt, die durchaus auch heiß werden kann, oder ob das Zitat der Professorin tatsächlich zu einer Entlassung oder einer Ausladung von Konferenzen führt. Im ersten Fall, der nach meiner Beobachtung weit häufiger passiert, allerdings im Vergleich zu früher nun vor aller Augen im Internet vollzogen wird, handelt es sich sicherlich nicht um einen Fall von Cancel Culture. Im zweiten Fall wohl schon. Leben wir also in einer Gesellschaft, in der einzelne Meinungen gecancelt werden? Ja und Nein.

Was passiert jedoch an Weihnachten? Muss ich befürchten, dass ich kein leckeres Stück von der Weihnachtsgans (bereits hier kann der Streit schon anfangen) aufgrund meiner Äußerungen bekomme? Oder dass ich mit bösen Blicken überzogen werde? Zwei Tage später ist der Liebes-Spuck wieder vorbei und ich kann in mein altes Leben und in meine ganz persönliche Filterblase zurückkehren. Die Konsequenzen sind also überschaubar.

In öffentlichen Diskussionen greift zudem die Angst um sich, dass ich meine Meinung gegen andere “falsche” Meinungen verteidigen muss, damit mein Gegenüber seinen Einfluss auf potentielle Anhänger*innen nicht ausbaut. Auch dieses Argument fällt in Familien weg.

Neben diesen Befürchtungen bleiben ureigene Bedürfnisse übrig, mit denen sich wesentlich besser erklären lässt, woher die Vehemenz in Diskussionen kommt. Menschen suchen nach Anerkennung. Und sie wollen vor allem gesehen werden. Zumindest diese Minimalvoraussetzung sollte gegeben sein: Ich muss die Meinungen anderer nicht gut finden, aber ich kann sie mir zumindest anhören und mein Gegenüber damit wahrnehmen.

Verstehen bezieht sich nicht auf Meinungen

Zwar kommt vorschnell der Satz “Das musst du doch verstehen!”. Ein Verstehen ist jedoch niemals in Gänze möglich und auch nicht wünschenswert, weil jeder Mensch mit anderen Erfahrungen und anderen Fähigkeiten auf die Welt blickt. Was den einen ängstigt, ist für den anderen normal. Zudem ist es keineswegs wünschenswert, einen anderen Menschen komplett zu verstehen. Was das Zusammenleben von Menschen spannend und interessant macht, ist gerade das Gegensätzliche. Was wäre denn, würde ich meine Frau oder meine Kinder komplett verstehen? Wir müssten uns nicht mehr unterhalten. Sie würde einen Satz beginnen … und ich würde sofort sagen: “Weiß ich. Kenne ich. Geht mir genauso”. Ist es da nicht viel spannender, sich ein Leben lang vom Gegenüber, selbst nach vielen Jahren, immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen?

Zudem ließe sich der Drang eines allumfassenden Verstehens eines anderen Menschen durchaus als privaten Kolonialismus deuten: “Ich ordne dich komplett in mein Verstehens-Schema, um dich zu begreifen”. Wie schnell wird dann aus einem “Begreifen” ein “Ergreifen” oder “Im Griff haben”?

Vielleicht kennen Sie das Phänomen, wenn andere Menschen vorschnell zu Ihnen sagen: “Das verstehe ich”, obwohl Sie noch nicht am Ende Ihrer Erzählung angekommen sind. In einem solchen Fall fühlen Sie sich in der Regel alles andere als verstanden. Sie wurden eingeordnet und möchten laut ausrufen: “Stopp! Ich will gar nicht, dass Du mich verstehst! Du kannst das vermutlich auch gar nicht verstehen! Wirklich verstehen kann nur ich, was ich erlebt habe. Denn Du warst nicht dabei”.

Dass es dennoch eine Sehnsucht gibt, verstanden zu werden, ist unbenommen. Diese Sehnsucht lässt sich vermutlich tatsächlich nur von Erlebens- und Leidensgenossen oder Menschen, denen wir sehr nahe stehen, stillen. Kein Wunder, dass es seit einiger Zeit eine starke Tendenz in unserer Gesellschaft gibt, sich in solchen Erlebensgruppen gegenseitig auszutauschen und zu solidarisieren. Sozusagen eine organische und stützende Solidarität unter Gleichen zu pflegen, während nach dem Soziologen Emile Durkheim in modernen Gesellschaften ebenfalls eine funktioniale und ergänzende Solidarität unter Ungleichen besteht. Bei gleichzeitiger Auflösung von Verbindungen – nachdem Gewerkschaften und Kirche bereits seit langer Zeit im Rückgang sind, lösen sich aktuell auch berufsbezogene Verbindungen durch die Arbeit im Homeoffice auf – ist die Suche nach neuen stützenden Verbindungen evident. Das Tummeln in Filterblasen lässt sich also auch aus einem Bedürfnis nach Verständnis deuten.

5 Tipps für bessere Gespräche an Weihnachten (und überhaupt)

Wenn also ein Verständnis unter Ungleichen schwer möglich und vielleicht sogar nicht einmal sinnvoll ist, was wäre dann zu tun, um sich an Weihnachten nicht gegenseitig den Appetit zu verderben?

Tipp 1: Wohlwollen als Grundbedingung

Vorneweg ist eine Grundbedingung wichtig, um sich zumindest nicht destruktiv zu begegnen: Das Wohlwollen, dass mein Gegenüber mich nicht anlügt, sondern aus seiner Sicht einen Teil der Wahheit über die Welt in der Hand hält, auch wenn das für mich übertrieben oder sogar vollkommen hahnebüchen erscheint. Wir sollten uns allerdings immer vor Augen halten: Unser Gegenüber denkt genauso.

Tipp 2: An der eigenen Toleranz arbeiten

Bereits hier scheint ein Scheitern vorprogrammiert. Denn es gehört (aus unserer eigenen Sicht) eine Menge Ambiguitätstoleranz und Geduld dazu, unser Gegenüber mit seinen seltsamen Meinungen auszuhalten. Dabei ist es genau diese Toleranz, die ein Miteinander unter Ungleichen seit jeher ausmachte. Wir glauben vielleicht, wir sollten gleich sein, weil wir doch aus einer Familie kommen. Doch wir sind in der Regel verschiedener als im Austausch mit Freunden.

Tipp 3: Fokus auf Sachen

Stellen Sie sich vor, Sie wären in der Arbeit und müssen mit Menschen auskommen, die Sie kaum kennen. Was tun Sie? Sie konzentrieren sich auf die Sache. Sie müssen niemanden von Ihrer Meinung überzeugen. Es reicht, wenn “der Laden läuft”. So ein Fokus auf die Sache kann sehr entspannend sein. Vielleicht gehen deshalb manche Menschen so gerne in die Arbeit. Weil es nicht so menschelt.

Übertragen auf Weihnachten bedeutet das: Fokussieren Sie sich auf gemeinsame Tätigkeiten. Kochen Sie zusammen, decken den Tisch, schmücken den Baum, packen Geschenke aus oder spielen ein Spiel. Und sorgen Sie dafür, dass die Welt der vielen Meinungen da draußen zumindest für ein paar Tage schweigen darf.

Tipp 4: Seien Sie neugierig

Gibt es in Ihrem eigenen Umfeld kaum eine solche Exotin wie Ihre Schwester? Freuen Sie sich, sich Sichtweisen und Meinungen erläutern zu lassen, die komplett anders sind als das, was Sie gewohnt sind. Manche Menschen scheinen beinahe Angst zu haben, durch abweichende Meinungen beschmutzt zu werden. Aber warum? Sind Sie so leicht zu verunsichern, dass Sie am Ende noch umgestimmt werden könnten? Was soll schon passieren? Sie hören sich das “Exotische” aus einem höflichen, aber neugierigen Wissensdrang heraus an und können auch Ihrerseits darum bitten, angehört zu werden.

Tipp 5: Experimentieren Sie

Haben Sie jemals versucht, andere Menschen, die komplett anderer Meinung sind als Sie, von Ihrer Meinung zu überzeugen? Und? Hat es funktioniert? Vermutlich nicht.

Wie wäre es, wenn Sie experimentieren und etwas anderes versuchen? Was wäre, wenn es nicht darum ginge, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, ein interessantes Gespräch zu führen? Sie könnten Ihre Sprechart verändern, beispielsweise langsamer, unheimlicher, akzentuierter oder ruhiger sprechen, Betonungen anders setzen, Metaphern nutzen, Humor einsetzen oder Ihre Aussagen in Fragen formulieren.

Bei Experimenten geht es nicht darum, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, es zu locken und neugierig zu machen auf das, was Sie zu sagen haben.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Inspiriert durch mehrere Artikel im aktuellen Philosophie-Magazin 01/2023

Siehe auch: https://www.metropolitan.de/buch/wir-sollten-reden

Über den Zusammenhang zwischen Krisen, Kränkungen und Belastungen

Wer sich als Führungskraft ab und an die Frage stellt, warum manche Mitarbeiter*innen so demotiviert sind oder nur noch Dienst nach Vorschrift leisten, sollte sich mit dem Thema der Kränkung beschäftigen. Kränkungen sind allgegenwertig. Es soll hier auch nicht darum gehen, seine Mitarbeiter*innnen in Watte zu packen. Ein wenig Hintergrundwissen zum Thema bietet jedoch gute Erklärungen für die Demotivation der eigenen Belegschaft und damit die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wo evtl. eine Veränderung des eigenen Führungsstils in Richtung Achtsamkeit sinnvoll wäre. Gleichzeitig wird deutlich, dass gerade in der aktuellen Zeit globale Krisen zu Kränkungen führen, ohne dass Sie als Führungskraft daran schuld wären. Und dennoch ist es hilfreich, auch diese Zusammenhänge zu kennen, um wertschätzend miteinander umzugehen.

Wie entstehen Kränkungen?

Eine Kränkung verletzt einen Menschen in seiner Ehre, Würde, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Sie erschüttert die eigenen Werte sowie den Selbstwert und den Gerechtigkeitssinn. Kränkungen können nur stattfinden, wenn zuvor etwas anderes erwartet wurde. Sie haben immer mit einer Enttäuschung oder sogar einem Schock zu tun.

Typische Kränkungen stehen in Verbindung mit …

  • Beleidigungen, Beschämungen, Bloßstellungen, Demütigungen, Herabwürdigungen und Erniedrigungen,
  • Zurückweisungen,
  • Nichtbeachtungen, Ignoranz oder Übergangen werden.1

Je öffentlicher und absichtlicher die Kränkungen stattfinden, desto schlimmer. Oftmals hängen Kränkungen auch mit einem Vertrauensbruch oder empfundenen Ungerechtigkeiten zusammen.

Was haben Kränkungen mit Krisen zu tun?

Auf der einen Seite gibt es die alltäglichen Kränkungen beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz oder die Nichtbeachtung im Falle einer Beförderung. Daneben gibt es jedoch auch die mit Krisen verbundenen großen Kränkungen der Menschheit. Nachdem Sigmund Freud auf drei große Kränkungen der Menschheit hinwies, kommen durch die Digitalisierung weitere Kränkungen hinzu:2

  • Die erste Kränkung bestand nach Freud darin, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist.
  • Die zweite Kränkung bestand in der Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und damit nicht die Krone der Schöpfung Gottes ist.
  • Die dritte Kränkung bestand darin, dass es ein Unterbewusstsein gibt und der Mensch weniger Kontrolle über sein Leben hat als er bislang dachte.
  • Die vierte Kränkung begann in den 50er Jahren mit der Automatisierung der Arbeitswelt. Zwar helfen Maschinen dem Menschen, schwere oder stupide Arbeiten zu tätigen. Dennoch droht damit immer auch die Ersetzbarkeit des Menschen. Und je schneller und genauer unsere Computer werden, desto größer ist die Kränkung.
  • Die fünfte Kränkung schließlich sieht intelligente Computer als dem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen an. Mit Big Data lassen sich in wenigen Sekunden Zukunftsmodelle errechnen, für die der Mensch Jahre bräuchte.3

Emotionen können Algorithmen noch nicht empfinden. Sollte jedoch eines Tages ein Computer dazu fähig sein, genauso spontan und emotional zu reagieren wie ein Mensch, wäre dies die sechste Kränkung. Filmische Visionen davon gibt es bereits. In Alien 4 beispielsweise spielt Winona Ryder eine Androidin, die menschlicher ist als die Menschen um sie herum.

Dabei zeigt sich bei all diesen großen Menschheitskränkungen, dass nie alle Menschen gleich betroffen sind. Kopernikus war sicherlich nicht gekränkt, sondern die Kirche. Auch Darwin wurde sicherlich nicht durch seine eigenen Studien gekränkt. Das gleiche gilt für Freud selbst. Und wer von Automatisierungen, der Digitalisierung, dem Internet und smarten Algorithmen profitiert, wird sich kaum von der Geschichte übergangen fühlen, sondern diese gesellschaftlichen Veränderungen als Chance betrachten. Wer jedoch bislang sein Geld mit Handarbeit verdiente und nun sieht, dass alleine der Verkauf von Whats App an Facebook 2014 22 Milliarden Dollar wert war, fragt sich, ob die Welt, in der er sich befindet noch die seine ist. Krisen wirken also nie auf alle gleich. Genauso wie es in der Gesellschaft Krisengewinner und -verlierer gibt, gibt es auch in Unternehmen Profiteure und Abgehängte.

Der Soziologe Andreas Reckwitz unterscheidet zur Verdeutlichung dieses Phänomens der Entwertung von Biographien eine alte von einer neuen Mittelschicht. Während in der Industriegesellschaft nach den Weltkriegen beinahe jeder Mensch mit einer Normalbiographie an einem gewissen Wohlstand teilhaben konnte, sind Ausbildungen und Abschlüsse heutzutage kein Garant mehr für ein ausreichendes Auskommen. Die Unterschicht nimmt zahlenmäßig zu und die nichtakademische alte Mittelschicht kann sich nicht mehr sicher sein, ob sie ihren Lebensstandard auf Dauer halten kann. Die weitgehend akademisch geprägte neue Mittelschicht wiederum ist häufig geprägt durch eine Vermischung mit kreativen Milieus, eng verbunden mit der Digitalisierung, dem Internet und Medien, und damit mehr oder weniger krisenfest. Die damit verbundenen Kränkungen der alten Mittelschicht beziehen sich auf drei Aspekte:4

  • Entwertung kultureller Werte: Alte Werte wie Fleiß und Beständigkeit führen nicht mehr automatisch zum Erfolg. Heutzutage hat Erfolg, wer zur richtigen Zeit am richtigen Platz und mutig genug ist, seine Chancen zu nutzen.
  • Finanzielle Unsicherheit: Damit einher geht auch eine finanzielle Unsicherheit. Hatte die alte Mittelschicht gestern noch ein gesichertes Einkommen, kann sie morgen schon – insbesondere in Krisenzeiten als Turbo – absteigen und zur Untterschicht gehören.
  • Verhältnismäßigkeit des sozialen und kulturellen Einflusses: Eine nicht unbedingt zahlenmäßig überlegene Gruppe von Menschen aus dem akademischen Milieu gibt durch die Verbindung zum kreativen Milieu und den digitalen Möglichkeiten an, welche Lebensstile wertvoll sind. Es geht in aktuellen Kränkungen also nicht nur um eine finanzielle Entwertung, sondern auch und vor allem um die Entwertung kultureller Aspekte wie beispielsweise der Sprache. Gerade deshalb wirkt das Gender-Sternchen wie ein rotes Tuch für manche Menschen. Es geht dabei weniger um das Sternchen, sondern die akademisch diktierte Vorgabe an die alte Mittelschicht, was richtig oder falsch ist.

Die Enttäuschung und damit Kränkung findet jedoch nur statt, wenn Menschen vor einer Krise oder großen gesellschaftlichen Veränderung einen höheren Status inne hatten oder es zumindest die Erwartung darauf gab. Die alte Mittelschicht erleidet diesen Verlust direkt. Und ein erfolgloser Akademiker hatte sich vermutlich mehr erhofft. Ein Hartz-4-Empfänger jedoch wird weniger oder gar nicht gekränkt sein, weil er ohnehin keine hohen Erwartungen an sein Leben hatte.

Solche Erwartungsenttäuschungen gibt es freilich auch in Unternehmen, wenn wir beispielsweise an eine ausgebliebene Beförderung denken. Damit lässt sich auch erklären, warum manche Mitarbeiter*innen trotz persönlichen oder globalen Krisen weitermachen, als wäre nichts geschehen, während andere eine Zurückweisung und Kränkung erleben.

Jeder Mensch hat unterschiedliche Triggerpunkte

Dabei zeigt sich, dass jeder Mensch unterschiedliche Kränkungspunkte hat:5

Welche emotionalen und gesundheitlichen Folgen haben Kränkungen?

In Krisen verlieren Menschen einen Teil der Kontrolle über ihr Leben. Bislang hatten sie eine Arbeit, verdienten für sich und andere ihren Lebensunterhalt und wirkten zudem als Vorbild für ihre Kinder. Nun scheint all das auf dem Prüfstand zu stehen. Die damit verbundene Bloßstellung, nicht krisensicher oder wie es in der Pandemie für manche Berufsgruppen hieß “nicht systemrelevant” zu sein, kann beschämend sein. Plötzlich habe ich keinen Wert mehr für die Gesellschaft. Ich bin also nicht gut genug. Scham jedoch ist schmerzhaft, weshalb sie oftmals durch Wut überdeckt wird.6

Wut wiederum verengt unseren Blick. Wir sehen dann nur noch den Auslöser unserer Scham oder unseren Widersacher. Gibt es einen Widersacher, beispielsweise eine Führungskraft als Hiobsbotschaftenüberbringer, fokussiert sich unsere Wut auf diese Person. Gibt es kein direktes Subjekt, an dem wir unsere Wut auslassen können, verschiebt sich die Wut auf andere unklare Subjekte wie die Eliten oder Weltverschwörer*innen. Dass Krisen meist aus einem Zusammenspiel vieler kaum durchschaubarer und global vernetzter und voneinander abhängiger Faktoren entstehen, ist schwerer zu fassen.

Während persönliche Kränkungen oft mit einem Ausschluss aus einer Gruppe zu tun haben, schweißen die Kränkungen ganzer Gruppen diese noch mehr zusammen: Bevor wir noch mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, schließen wir uns selbst aus und gehen aktiv gegen die Gesellschaft vor, wie es beispielsweise in Frankreich mit der Gelbwesten-Bewegung passiert. Für viele Mitglieder der Gelbwesten spielt(e) der Stolz, seinen Lebensunterhalt mit einfacher Arbeit zu verdienen vor den Reformen von Emanuel Macron eine wichtige Rolle. Dass dies aus eigener Kraft nicht mehr möglich ist, geht einher mit einer tiefen persönlichen Kränkung.

Ein gekränkter Mensch wiederum ist nicht mehr bereit, auf seine vermeintlichen Aggressoren zuzugehen oder auch nur die Erwartung zu haben, dass sich etwas zum Besseren wendet. Dadurch entsteht der Teufelskreis einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung. Die aktive Kränkungssituation ist zwar vorbei. Es werden jedoch stetig Zeichen gesucht und gefunden, um neue Kränkungen ausfindig zu machen.

Starke Kränkungen können bis zu einem dauerhaften Alarmmodus führen, um sich vor neuen Angriffen zu schützen. In diesem Fall spricht man von Verbitterungen. Der Körper befindet sich damit in einer auslaugenden Daueranspannung. Dauerhafte Kränkungen begünstigen unter anderem Angststörungen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen, Sucht oder Burnout.7

Wie gehen wir am besten mit Kränkungen in Krisen um?

1. Abstand hilft beinahe immer

Wie dargelegt setzt sich mit einer Kränkung eine negative Kettenreaktion in Gang, die schwer wieder aufzuhalten ist: Kränkungen führen zu Scham, diese zu Wut, diese zu einem Tunnelblick, der einen offenen Blick auf die Situation verhindert und damit auch eine kreative Auseinandersetzung mit der Krise. Um diese Kettenreaktion zu unterbrechen, hilft beinahe nur eins: Mit Abstand, Ruhe und Geduld einen sachlichen Blick auf die Situation zu werfen:

  • Was verändert sich wirklich?
  • Was bleibt gleich?
  • Welche Veränderung ist bedrohlich?
  • Welche werde ich leicht meistern können?
  • Und welche wird anstrengend, aber ich werde es dennoch schaffen?

2. Gruppen wirken stärkend und verstärkend

Da in Krisen ganze soziale Gruppen gekränkt werden, liegt es nahe, hier Zuflucht, Beistand und Unterstützung zu finden. Dies wirkt im ersten Moment stärkend, kann jedoch den wütenden Blick auf die Ursachen oder vermeintlichen Verursacher der Krise zusätzlich verengen. Dieses Phänomen der Gruppenbildung sehen wir aktuell an vielen Punkten, wenn es um Essenskonsum, Positionen im Ukrainekrieg beziehungsweise Unterstützung der Ukraine versus Friedensverhandlungen, Fahrverhalten oder Energiesparen geht. Schnell bilden sich zwei Gruppen, die sich gegenseitig in digitalen Netzwerken beleidigen, beschämen oder auch “nur” humorvoll bloßstellen. Doch nur weil eine Gruppe adressiert wird, muss ich mich davon – auch wenn ich ein Teil dieser Gruppe bin – nicht angesprochen fühlen. Sinnvoller wäre es, aus diesem Solidarismus auszubrechen, sich seine eigene Meinung zu bilden und damit den gedanklichen Grundstein zu legen, um sich auf eine Neue Normalität einzulassen.8

Dasselbe Spiel findet logischerweise auch in Unternehmen statt. Auch hier gibt es Gruppenbildungen und Konfrontationen zwischen “denen da oben”, den “Mitläufern”, den “Blockierern” und denen “Dazwischen” (das sind meist die Führungskräfte selbst, außer sie zählen sich zu einer anderen Gruppe). Und auch hier ist es wichtig, sich seine eigene Meinung und damit gegebenenfalls neue Gruppen zu bilden. Vielleicht entstehen dann die “Vorsichtigen”, “Skeptischen”, “Optimistischen”, “Schnellen” und “Vermittelnden”.

Gleichzeitig kann ich nur durch einen eigenen neutralen Blick auf die Kränkungen durch die Krise auch anderen krisengebeutelten Menschen in meiner ursprünglichen Gruppe langfristig und konstruktiv bei der Bewältigung der Krisefolgen helfen.

1Vgl. www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/praevention/kraenkungen-folgen.html

2Vgl. https://digital-magazin.de/kraenkungen-des-menschen-digitalisierung

3Vgl. Michael Hübler: New Work. Menschlich. Demokratisch. Agil

4Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten

5Vgl. Die personale Ebene im ATCC-Ansatz: https://soundcloud.com/user-534548529/personale-ebene_atcc

6Vgl. www.deutschlandfunkkultur.de/psychologie-das-gekraenkte-ich-100.html

7Vgl. www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/praevention/kraenkungen-folgen.html

8Vgl. Michael Hübler: Wir sollten reden! Respekt und Koonfliktfähigkeit in gereizten Zeiten

Warum wir einen Minimalkonsens in Diskussionen brauchen

Leben wir in postfaktischen Zeiten? Gibt es keine festen Wahrheiten mehr, auf die wir uns verlassen können? Ist wirklich alles verhandelbar oder sollte es sein?

Um das zu klären, ist eine klare Trennung zwischen einem radikalen und gemäßigten Konstruktivismus hilfreich:

  • Ein radikaler Konstruktivismus stellt alles in Frage.
  • Ein gemäßigter Konstruktivismus basiert auf einem gemeinsamen Diskussionsgerüst. Hier gibt es Fakten, auf die wir uns einigen.

Machen wir dazu ein Beispiel: Ein Stuhl ist nicht nur ein Stuhl, weil wir ihn als Stuhl bezeichnen, sondern weil sich die deutschsprachige Menschheit darauf einigte, ihn so zu definieren. Bei genauer Betrachtung ist dies weniger beliebig als es scheint. Immerhin klingt ein Stuhl wesentlich unbequemer als ein Sessel. Denken wir an den Gegensatz zwischem dem eher harten St in Stuhl und dem eher weichen S in Sessel. Oder wie wäre es mit einem Sofa. Klingt das nicht noch gemütlicher als der Stuhl? Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich die Menschen auf diese Begriffe einigten.

Der Konsens eines gemäßigten Konstruktivismus besteht nun darin, dass wir nicht mehr darüber streiten, …

  • was wir als Stuhl bezeichnen: ein eher schlichtes, funktionales Sitzmöbel mit einer Lehne und vier Beinen (ohne Lehne und häufig nur drei Beinen hieße es Hocker);
  • und was wir als Sessel bezeichnen: ein eher gemütliches Sitzmöbel für eine Person zur Entspannung in der Freizeit.

Auf der Basis dieses Grundkonsens können wir dennoch darüber diskutieren, wie ein perfekter Büro-Stuhl oder Freizeitsessel geformt sein und aussehen sollte.

Übertragen wir diese Unterscheidung zwischen einem radikalen und gemäßigten Konstruktivismus auf unsere Diskussionskultur wird deutlich, dass wir auch hier einen Minimalkonsens brauchen, um diskussionsfähig zu bleiben. Wir brauchen eine Einigkeit darüber, ob es Covid 19 gibt, was eine Diktatur ist, was ein Krieg ist, usw. Es ist folglich sinnvoll in den aktuellen Diskussionen zuerst einmal abzuklären, ob es überhaupt einen Grundkonsens gibt, auf dessen Basis wir unterschiedliche Meinungen diskutieren können, bevor wir darüber streiten, welche Rolle ein Staat in der Gesundheitsfürsorge einnehmen sollte oder wie sich Deutschland in dem Ukraine-Krieg verhalten sollte.

Die Sehnsucht nach Frieden

Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt uns, dass es auf der Welt noch nie eine erdumfassende Friedenszeit gab. Nach dem Kalten Krieg gab es wohl eine kurze Phase von 1-2 Jahren, in der wir einem umfassenden Frieden nahekamen. Dieser Traum wurde spätestens durch die Terrorakte von 9/11 jäh zerstört.

Im Zuge des Kampfes gegen das C wurde von einigen Nationen der Begriff des Krieges ins Spielfeld geworfen. Spannenderweise entwickelte sich dieser Krieg gegen ein unsichtbares Virus in rasender Geschwindigkeit zu einem Projekt, das weite Teile der Welt miteinander solidarisierte. Kubanische Ärzte halfen in Italien aus. Die Nato forderte eine Waffenruhe in Kriegen, zumal die gesamte Welt dank der Pandemie zum Krisengebiet erklärt wurde. Was braucht es da noch Schusswechsel? Und die Philanthropen aller Länder vereinigen sich zum gemeinsamen Kampf gegen das Böse. Die Bill und Melinda Gates Stiftung spendet wahnwitzige Summen zur Produktion eines Impfstoffes. Amazon übernimmt dankbarerweise die kulturelle Grundversorgung des Bürgers und der Bürgerin. Google unterstützt Faktenchecker auf der ganzen Welt mit 6,3 Millionen Euro. Youtube sortiert desinformierende Videos aus. Und Microsoft und Apple begraben ihr in die Jahre gekommenes Kriegsbeil, um gemeinsam an einer Tracking- oder Tracing-App zur Ortung von Erkrankten zu arbeiten. Geh’ dahin, du alte Feindschaft.

Die WHO versucht es mit Koordinationsbotschaften aus der Ferne, was nicht in Gänze gelingt. Manche, wie die Schweden, scheren aus, werden zuerst verurteilt und später für ihren Sonderweg gelobt. Andere, wie die Bayern, werden ob ihrer übertriebenen Maßnahmen gerügt. Weder die Schließung der Grenzen noch die Masken in ihrer einfachen Baumwollform sind laut Pandemieplan der WHO empfohlen. Im Gegenteil: Wer eine Maske trägt, atmet sich in die Augen, diese jucken dann, worauf man sich mit den infizierten Händen in die Augen fassen muss. Aber sei’s drum. Vor Ort werden Gemeinschafts-Masken genäht, die sich nach und nach auf Bürgersteigen und Waldwegen wiederfinden. Überhaupt ist Solidarität das wichtigste im Kampf gegen den Feind. Mund zu, Augen zu und durch. Nur gemeinsam können wir es schaffen.

Wäre da nicht die verschrobene Seite der anderen? Die Rechten natürlich, die grundsätzlich gegen alles sind. Es ist erhellend, dass in manchen Ländern, beispielsweise Deutschland oder Österreich, rechtsgerichtete Parteien, gegen die Maßnahmen der Regierung sind, während eine Marine le Pen in Frankreich die Öffnung von Macron zu früh empfindet. Kann man das noch ernst nehmen?

Auch die Maßnahmen rechtsgerichteter Regierungen sind beileibe nicht einheitlich. Die einen geben den strengen Zuchtmeister, als hätten sie ein Land voller masochistischer Bürger. Den anderen kann es gar nicht schnell genug gehen mit Lockerungen.

Auf der Seite der Kritiker stehen jedoch auch Restaurantbesitzer, Kurzarbeiter, Existenzverlustige, Wissenschaftler, Ärzte, Familien, Rentner, Impfkritiker, usw. Bilder auf Demonstrationen zeigen einen Querschnitt der Gesellschaft, wie er natürlicher nicht sein könnte.

An dieser Stelle gilt die wichtige Trennung von Handlung und Motiv. Oder in einem Bild: Man sollte Ross und Reiter benennen. Der Reiter mag gegen die Maßnahmen schwadronieren. Es stellt sich jedoch die Frage, was ihn antreibt?

Es gibt Reiter, die diese bereits drohende oder vorhandene Spaltung der Gesellschaft noch voran treiben. Der Sinn eines “Draufhauens aus Prinzip” ist offensichtlich das Chaos und die Revolution, um die Entfremdung vom Staat und den Vertrauensverlust in die Regierung zu nutzen und eine neue Ordnung herzustellen. Auch der Impuls, sich nichts von der EU, der WHO oder einer anderen internationalen Organisation sagen zu lassen, spielt sicherlich eine Rolle.

Es gibt jedoch auch Menschen, von denen wir es nicht gewohnt sind, dass sie auf die Straße gehen, zumindest nicht in Deutschland. Gegen Atomkraft vielleicht. Aber sonst? Wann haben zum letzten mal ganz normale Bürger demonstriert?

Aktuell wird viel von Egoismus und mangelnder Solidarität gesprochen. Ist es egoistisch, darüber zu trauern, dass alte Menschen in Pflegeheimen aus Einsamkeit sterben, weil sie nicht besucht werden dürfen? Darüber, dass 2,5 Millionen Menschen Herzprobleme, 7 Millionen Diabetes und 19 Millionen Probleme mit Bluthochdruck haben und aktuell nicht zum Arzt oder in die Klinik gehen? Oder darüber, dass auf den Hunger in der Welt oder unmenschliche Arbeitsbedingungen in Afrika, Südamerika oder Indien im Zuge des Cs nicht mehr geschaut wird?

So bunt wie die Gruppe an Kritikern ist, so vielfältig ist auch die Liste an Sorgen, Bedenken, Nöten und sicherlich auch ein paar egoistischen Wünschen. Beispielsweise dem egozentrischen Wunsch einer Mutter, die sich Sorgen darüber macht, dass ihre Kinder den Anschluss in der Schule verpassen und die Schwere der Bildungsungleichheit noch weiter auseinander geht. Genauso solidarisch und egoistisch sind auch die Wünsche der Gegenseite, basierend auf der Angst vor der ersten Welle.

Die Marginalisierung von Kritikern führte zu einer Extremisierung der Meinungen und einem Abdriften in Verschwörungstheorien. Wem nicht zugehört wird, der macht sich seinen eigenen Reim, mag er noch so verworren und krude sein. Hier wird oftmals behauptet, dass in unserem Land jeder das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern. Dabei stellt sich jedoch die Frage, warum so viele Menschen, die bisher nicht als Quertreiber auffielen, dennoch der Meinung sind, dass deren Meinungsfreiheit beschränkt wird?

Wenn wir – je nach Umfragen, deren Ergebnisse schwanken und deren Validität oftmals fragwürdig ist – von einem Potential von mindestens 30% Kritikern ausgehen, sitzen wir aktuell auf einem gesellschaftlichen Pulverfass.

Während der Begriff des Krieges von Anfang an seltsam war, verwandelte er sich innerhalb weniger Wochen in eine Art friedlichen Bürger”krieg”, mit wenigen Ausnahmen. Hier sind Menschen, die den Weltfrieden nicht mitmachen wollen. Der “Krieg” wurde damit zuerst in die heimischen Wohn-, Kinder- und Essenszimmer verlagert, und findet nun seinen Weg auf die Straße.

Es sind verschiedene Ansätze denkbar, mit diesem Pulverfass umzugehen. Was aktuell passiert, erinnert den Autor an die Dolchstoßlegende. Während die gesamte Welt in einer befremdlichen Einigkeit solidarisch gegen das Virus kämpft, stören die Querdenker das große Friedensprojekt. Dabei stellt sich die Frage, ob es sich eine Regierung leisten kann, eine Politik gegen 30% der Menschen im eigenen Land zu machen?

Was würde stattdessen passieren, wenn die Regierung Kritiker in die eigenen Reihen einladen würde, um damit die unzufriedenen Menschen aus der Schmuddelecke zu holen?

Was wäre, wenn diese bislang Unzufriedenen dann nicht mehr auf die Straße gehen müssten?

Vielleicht würden die Kritiker von ihrem Trotz ablassen und bereitwillig Masken aufsetzen – ob sinnvoll oder nicht – und damit anderen Menschen zeigen: “Ich sehe es anders, bin aber ein Teil von euch. Das ist kein Maulkorb, sondern ein echtes, kein erzwungenes Zeichen der Solidarität.”

Vielleicht hätten die Kritiker gute Ideen, um die Lockerungen sinnvoll durchzuführen.

Vielleicht würden Verschwörungstheorien im Nu an Zuspruch verlieren, weil es nicht mehr nötig ist, ihnen zu folgen, wenn die Menschen realisieren, dass ihnen zugehört wird.

Vielleicht könnte die Regierung damit Vertrauenspunkte bei den Menschen wieder gutmachen.

Vielleicht würden die Politiker daran wachsen, weil sie Schwäche in Stärke verwandeln, anstatt dem uralten Modell des Durchregierens in Krisenzeiten nachzueifern.

Vielleicht wäre jetzt die Zeit, sich gegenseitig zuzuhören. Weil wir alle recht haben, und gleichzeitig alle unrecht.

Mit Sicherheit gingen die Demonstrationen weiter, nur dieses mal mit den üblichen Verdächtigen, die niemand wirklich ernst nehmen muss.

Vielleicht würden wir damit die weltumspannende Einigkeit gefährden. Bald wäre Google wieder die alte Datenkrake, impfen darf, wer will und die WHO sagt, was wir tun sollen, woran sich ohnehin niemand hält. Wir hätten dann keinen Burgfrieden mehr, jedoch wenigstens einen Bürgerfrieden. Immerhin.

Um das zu erreichen, braucht es wohl ein Menschenbild, das ein wenig an die Zeit vor dem Sündenfall erinnert.

Im Kern geht es um das Vertrauen zueinander. Das Vertrauen in meine Mitmenschen. Das Vertrauen in den Staat. Und das Vertrauen des Staates in seine Bürger.

Wer da nicht sehnsüchtig wird …