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Kulturtechnik-Alternativen zum gegenseitigen Verstehen

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In Konflikten geht es häufig um das Unverständnis anderer Positionen. Meist werden dabei kaum Abstufungen vorgenommen: Entweder ich verstehe jemanden, wenn er oder sie meiner Meinung ist oder ich verstehe ihn oder sie nicht. Dies führt beinahe zwangsläufig entweder zu langweiligen Diskussionen oder Eskalationen. Deshalb ist es dringend geboten, sich an drei aus der Mode geratene Kulturtechniken des Miteinanders zu erinnern:

  1. Höflich bleiben: Wer anderer Meinung ist, muss mögliche Differenzen dennoch nicht ansprechen und kann stattdessen in einer höflichen Distanz zueinander bleiben, beispielsweise durch Smalltalk. Manche mögen dies langweilig finden. Höflichkeit kann allerdings eine Atmosphäre schaffen, in der eine langfristige Annäherung möglich erscheint. Solche Regeln, Rituale oder Gesten können ein Nachfragen, Ausreden lassen, Bitte und Danke sagen oder auch Raum gebende Gesten sein. Indem alle sich auf diese Riten einlassen, muss sich niemand exponieren und jeder kann sein Gesicht wahren. Interessanterweise werden Höflichkeitsrituale wie das Handgeben, Küsschen auf die Backe geben oder selbst die Ghetto-Faust unter Jugendlichen, d.h. unter Menschen, die sich noch gegenseitig abtasten, teils besonders intensiv gelebt.
  2. Fasziniert sein: Wer jemand anderen nicht versteht, kann sich dennoch an dessen „Exotik“ im weitesten Sinne erfreuen. Exotik beschränkt sich also nicht auf ferne Länder, sondern meint exotische oder sogar verrückte Meinungen zu vertreten oder ein besonderes Auftreten an den Tag zu legen. Die Haltung der Faszination ist förderlich, um ein intensives Interesse an den Tag zu legen, aufmerksam zuzuhören und nachzufragen. Es geht nun nicht mehr darum, das Gegenüber von den eigenen Meinungen überzeugen zu wollen oder gar Angst vor diesem „seltsamen, gefährlichen Vogel“ zu haben, sondern seine Position voller Neugier mit großen Augen und Ohren zu betrachten.
  3. Das Gegenüber verzaubern: Das Gegenstück zur eigenen Faszination ist die Kunst der Verzauberung des Gegenübers. Nun liegt es an Ihnen, Ihre/n Gesprächspartner*in zu faszinieren, indem Sie sich möglichst viel Mühe gebe. Dies kann durch Humor, große Gesten oder die Kunst der Rhetorik geschehen, als stünden Sie auf einer Bühne vor Publikum. Es geht auch hier nicht primär darum, das Gegenüber von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern das Gegenüber gut zu unterhalten. Es geht also weniger um den klugen und stichhaltigen Inhalt sondern mehr um die schöne, reizvolle Form.

Auch wenn diese drei Kulturtechniken nicht primär der Auseinandersetzung und Diskussion über Meinungen dienen und damit das Verständnis füreinander nicht automatisch fördern, führen sie doch unweigerlich zu einer Wahrung der Form im öffentlichen Raum und fördern dadurch zumindest eine zarte, vorsichtige Annäherung, ohne das Gegenüber anzugreifen, auf deren Basis aufgebaut werden kann.

Inspiriert durch Moritz Rudolph: Überbrücke die Lücke, Philosophie Magazin 01/2023, S. 58f

Verstehen oder Verständnis – Zur Klärung eines Missverständnisses am Beispiel von Depressionen

Wenn wir zu jemandem sagen „Du musst mich doch verstehen“ ist oftmals unklar was damit gemeint ist:

  1. Meinen wir (oder unser Gegenüber): „Du weißt genau, warum ich so handle. Du kennst mich. Du kennst meine Beweggründe und meine Gefühle.“
  2. Oder meinen wir: „Du weißt genau, warum ich so handeln muss. Ich kann nicht anders. Du würdest doch an meiner Stelle genau so handeln.“

Worin liegt der Unterschied?

Im ersten Fall geht es um das Denken und die Gefühle. Im zweiten Fall geht es um die Konsequenzen. Kann ich verstehen, dass Person A auf Person B wütend ist und ihn am liebsten an die Wand klatschen würde? Vermutlich ja, weil wir wohl alle schon den ein oder anderen bösen Gedanken hatten, vorzugsweise hinter dem Steuer unseres Autos sitzend.

Kann ich verstehen, dass Person A tatsächlich zuschlug? Vermutlich nein. Wir selber würden wohl anders handeln. Wir würden vielleicht schreien oder Person B zumindest sehr deutlich unsere Meinung sagen. Vielleicht würden wir Person B auch meiden, aber vermutlich nicht zuschlagen. In diesem Fall sprechen wir davon, B zu verstehen, aber kein Verständnis für den aggressiven Akt aufzubringen.

Verständnis und Erfahrungen

Woher kommt nun diese Unterscheidung? Bis zu einem bestimmten Punkt können wir uns wohl in jeden anderen Menschen hineinversetzen, einfach weil wir Menschen sind und potenziell ähnliche Erfahrungen mitbringen. Doch irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem wir dies nicht mehr können.

Lassen sich Depressionen verstehen?

Am Beispiel von Depressionen: Neulich schaute ich das Interview von Kurt Krömer und Torsten Sträter bei „Chez Krömer“ an. An einer Stelle erzählt Krömer von einer Szene in einem Supermarkt. Er stand da und wusste nicht mehr wie man einkauft, weshalb er nach Hause gehen musste, ohne seinen Kindern etwas kochen zu können. Jetzt hatte ich selbst schon einmal in meinem Leben eine ein- bis zweimonatige depressive Phase. Ich war in meinem Job gleichzeitig über- und unterfordert. Ich hatte das Gefühl, das was ich gut kann, wird hier nicht gebraucht und das was gebraucht wird, kann ich nicht. Es verging kein Tag ohne einen Zusammenbruch. Allerdings brach ich erst zuhause zusammen. Ich konnte auch einkaufen oder kochen. Ich war lediglich in der Arbeit komplett überfordert. Mein Arbeitgeber versuchte, mich mit einem Coaching zu unterstützen, was jedoch wenig half. Erst als ich kündigte, ging es mir wieder besser. Ich hatte folglich eine exogene Depression.

Vertrauen statt Verständnis

Diese Episode meines Lebens hilft mir dabei, (endogene) depressive Menschen zumindest teilweise zu verstehen. Da ich es jedoch noch nie erlebt habe, nicht mehr einkaufsfähig zu sein, fällt es mir schwer, nachzuempfinden, wie das möglich ist. In meinem Inneren taucht dann meist ein Spruch auf in Richtung „Einfach mal machen. Das wird dann schon mit jedem mal leichter“, was wenig hilfreich ist.

An diesem Punkt braucht es etwas anderes als Verständnis. Hier braucht es Vertrauen. Wenn mir jemand erzählt, dass er nicht mehr aufstehen oder einkaufen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu glauben, dass er alles für ihn Mögliche tut, diesen Zustand zu verändern und es dennoch nicht schafft. Wenn ich das verstanden habe, behalte ich meine „guten“ Ratschläge für mich, sondern höre „nur“ noch zu.