Eine Führung auf Distanz führt dazu, sich als Führungskraft mit dem eigenen Wirkungsgrad und Einfluss auf seine Mitarbeiter*innen auseinander zu setzen. Konkret: Arbeiten meine Leute nur, wenn ich sie kontrolliere oder sind es nicht nur Mitarbeiterende, sondern auch Mitdenkende und Mithandelnde? Doch wie erreiche ich als Führungskraft einen Einfluss, der auch auf Distanz wirkt?
Dazu ist es zuerst einmal wichtig, sich zu verdeutlichen, dass Macht – im Max Weberschen Sinne als Fähigkeit auf das Denken und Verhalten einzelner Personen so einzuwirken, dass diese tun, was ich bzw. mein Unternehmen oder meine Organisation als sinnvoll erachten – eine räumliche Komponente besitzt: Übe ich einen direkten Einfluss auf Mitarbeiter*innen aus, indem ich sie kontrolliere und sanktioniere, ist mein räumlicher Einfluss begrenzt. Sobald meine Mitarbeiter*innen aus dem Sichtfeld geraten, fällt auch mein Einfluss in sich zusammen. Ich habe dann zwar weiterhin Macht, indem ich auf Sanktionen, beispielsweise Kritik bei Fehlern, zurückgreife, kann diese jedoch nur einsetzen, wenn meine Mitarbeiter*innen anwesend sind.
Will ich meine Macht ausdehnen, d.h. konkret meinen räumlichen Einfluss vergrößern, sollte ich als Führungskraft alles dafür tun, dass meine Mitarbeiter*innen sich als Teil von etwas Größerem verstehen. Sie sollten sowohl den Sinn oder die Vision hinter dem, was ein Unternehmen produziert oder als Dienstleistung anbietet, verstehen und gleichzeitig auch den Sinn der eigenen Tätigkeit als Teil des Ganzen erkennen.
Zudem ist es wichtig, dass meine Mitarbeiter*innen auf der Basis eines gegenseitigen Vertrauens und ihres jeweiligen Könnens die Möglichkeit bekommen, ihre Spielräume zu nutzen, um schnell und agil teilautonome Entscheidungen zu treffen.
Wir brauchen also sowohl ein auf Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit basierendes gegenseitiges Vertrauen, als auch die Vermittlung der Sinnhaftigkeit der Tätigkeiten, um den Einfluss einer Führungskraft auch auf Distanz aufrecht zu erhalten oder sogar auszuweiten.
Viele Firmen haben derzeit einerseits mit einer hohen Fluktuation und andererseits mit einer Zusammenarbeit auf Distanz zu kämpfen. Beide Faktoren machen den Aufbau tiefer Beziehungen schwierig. Dabei wären Bindung und gegenseitiges Vertrauen so wichtig, um gut mit Stress und Krisen umzugehen. Damit befinden sich viele Teams in einem Teufelskreis:
Die hohe Fluktuation verhindert langfristige Bindungen.
Das Homeoffice kann gerade bei jungen Teams auch zu emotionalen Distanzen führen.
Damit wird jede*r mit Stress in Krisenzeiten alleine gelassen.
Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Wechsels.
Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?
Mechanische versus organische Solidarität
Der Soziologe Emile Durckheim unterschied zwischen einer mechanischen und einer organischen Solidarität. Die mechanische beruht auf einer Solidarität unter Gleichen, über die nicht nachgedacht werden muss, was in Familien der Fall ist. Oder aber die mechanische Solidarität wird künstlich hergestellt, wie wir das von Sekten, der Mafia oder aus dem Kommunismus kennen, indem die Gleichheit überbetont wird und persönliche Unterschiede unterdrückt werden.
Die organische Solidarität wiederum beruht auf Ergänzung durch Unterschiede. Während Kollege A kreativer ist, hat Kollegin B ein besseres Zeitmanagement. Eine organische Solidarität beruht daher nicht auf engen Gruppenzugehörigkeiten und damit engen meist persönlichen Bindungen, sondern auf der wechselseitigen Angewiesenheit aufeinander. Wie in einem Körper die verschiedenen Organe aufeinander angewiesen sind, kann in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft das eine soziale Segment nicht ohne das andere bestehen. Die organische Solidarität beruht also nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Zusammenarbeit.
Die Stärke von Schwächen
Die organische Solidarität lässt sich gut mit einem Körper vergleichen. Ein Körper besteht aus verschiedenen Körperteilen mit unterschiedlichen Funktionen. Die Hände greifen, die Beine bringen uns voran, der Kopf denkt, der Magen verdaut, usw. Um geistig zusammengehalten zu werden, braucht unser Körper einen Sinn. Dieser kann im Selbsterhaltungstrieb, einer Vision von Glück und Zufriedenheit, der Abwesenheit von Schmerzen und Krankheit oder schlicht einem Gefühl von Lebendigkeit zu finden sein. Worin jedoch besteht die Idee des Zusammenhalts in einer organischen Solidargemeinschaft, beispielsweise einem Arbeitsteam?
Am wichtigsten sind sicherlich auch hier gemeinsame Ziele, eng verbunden mit dem Sinn der Team-Existenz: Wofür und für wen machen wir das alles? Wollen wir vielleicht sogar die Welt ein klein wenig besser machen?
Desweiteren gilt es aber auch, sich des Miteinanders stärker bewusst zu werden:
Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie wollen wir uns loben und kritisieren? Wie mit Fehlern umgehen? Wie humorvoll darf es sein? Wie offen und ehrlich? Wofür gibt es Anerkennung? Was ist tabu?
Welche Stärken und Schwächen haben wir und wie können wir uns gegenseitig ergänzen?
Der zweite Punkt verdeutlicht, dass der alleinige positive Fokus auf Stärken für eine gegenseitige Bindung nicht ausreicht. Es braucht auch das Bewusstsein der eigenen Schwächen und damit verbunden die Demut, die Kolleg*innen zu brauchen.
Mechanische versus organische Teams
Viele Teams, die ich in den letzten Jahren begleitete, hatten einen familiären Charakter. Sie sahen sich als Teams, die nicht nur funktional zusammen arbeiten, sondern auch in der Teeküche gerne private Themen austauschten. Die Zusammenarbeit auf Distanz brachte hier eine drastische Zäsur. Plötzlich gab es viel weniger Möglichkeiten, sich spontan in der Pause über Privates auszutauschen. Damit wurde solchen Teams jedoch eine starke Quelle zur Bindung und zum gegenseitigen Vertrauen geraubt, im Sinne von: Wenn ich von A’s Kindern weiß, kann ich A auch von meinem Problemen erzählen. Solche Teams funktionierten folglich (zumindest zum Teil) als eine Gemeinschaft unter Gleichen nach dem Prinzip der mechanischen Solidarität.
In mechanischen Solidargemeinschaften ist Harmonie wichtig. Daher ist es schwierig, Probleme anzusprechen. Gleichzeitig glauben sie daran, wenig regeln zu müssen, wie miteinander umzugehen ist, wie gelobt und kritisiert werden sollte, wie mit Fehlern umgegangen wird, wofür es Anerkennung gibt und was tabu ist. In einer Gemeinschaft unter Gleichen braucht es dies auch nicht. Man kennt sich schließlich und trifft lieber spontane Vereinbarungen.
Im Vergleich zu einer Familie wird also deutlich: Je weniger gut sich Menschen kennen und je geringer daher die (natürliche) Bindung ist, desto wichtiger ist eine organische Solidarität. In dem Moment, wo sich mechanische Gemeinschaften auflösen, braucht es wieder mehr Regeln, Rituale und Rollen, aus denen die jeweiligen Stärken der Beteiligten deutlich hervorgehen.
Eine Bindung im Team ist also durchaus auch bei einer hohen Fluktuation möglich, wenn die Erwartungen aneinander und der Umgang miteinander von Beginn an offen und ehrlich geklärt werden. Damit dies gelingt, braucht es eine moderierende, emotional kompetente und positive Führungskultur.
Von der Führungsmacht zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe
In Zeiten von Agilität, Partizipation und Homeoffice haben Führungskräfte immer weniger direkten Einfluss auf ihre Mitarbeiter*innen. Stattdessen nimmt die Macht der Mitarbeiter*innen – auch durch den Fachkräftemangel – immer mehr zu. Mit dieser neuen Macht ist jedoch auch eine neue Verantwortung verbunden, derer sich viele Mitarbeiter*innen noch nicht bewusst sind. Wollen sie dieser neuen Macht gerecht werden, braucht es in Zukunft für Mitarbeiter*innen mehr als nur die üblichen Zeit- und Projektmanagement-Trainings, damit Teams in Zukunft nicht nur arbeitsfähig, sondern auch intern stabil bleiben.
Warum führt Macht zu Stabilität in einem Team?
Ein Team besteht nicht nur aus einer Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben. Diese Gruppe wird auch durch ein unsichtbares Band zusammengehalten, auf das sich, im Falle eines stabilen Teams, alle einlassen, meist ohne darüber zu sprechen. Um dieses Band genauer zu definieren, sollten wir über einen Begriff sprechen, der in Zeiten der Agilität, Gleichberechtigung und Führung auf Augenhöhe aus dem Blick geraten ist. Sprechen wir also über Macht.
Die Konflikttheorie des Soziologen Max Weber besagt, dass Macht mit der tatsächlichen oder potentiellen Ausübung von Gewalt zusammenhängt. Auf gesellschaftlicher Ebene mag dies oftmals stimmen: Wenn ich mit meinem Auto ohne Nummernschild durch die Gegend fahre, von der Polizei angehalten werde und daraufhin eine Diskussion beginne, muss ich auf die eine oder andere Weise mit Gewalt rechnen. In beruflichen Situationen spielt Gewalt jedoch eine untergeordnete Rolle. Und dennoch gibt es mehr oder weniger klare Machtverhältnisse, an die sich die Menschen weitgehend halten.
Zur Erklärung der Gründe dieses Zusammenhalts ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt entwickelte die Philosophin Hannah Arendt die Konsenstheorie: In einem sozialen Kontext haben alle Parteien ein Nutzen durch die Verteilung von Macht. Die Manager*innen und Führungskräfte bekommen mehr Geld und haben mehr Mitbestimmungsrechte, was für sie häufig mit der Freiheit zu tun hat, sich die eigene Zeit selbst einzuteilen und Aufgaben zu erledigen, die ihnen attraktiver vorkommen. Die Mitarbeiter*innen wiederum vertrauen darauf, dass ihre Chef*innen sie vor Angriffen von außen schützen, bspw. vor verbal übergriffigen Kund*innen, auch mal länger bleiben, wenn etwas dringend erledigt werden muss, während sie sich an einer regelmäßigen Arbeitszeit orientieren und sich nicht unbedingt einen Kopf um die langfristigen und externen Konsequenzen ihrer Arbeit machen müssen. Zudem investieren Führungskräfte i.d.R. mehr Zeit und Mühen, um sich Wissen und Führungskompetenzen anzueignen. Zeit, die die restliche Belegschaft lieber in private Belange investiert.
Aufgrund dieser Vorteile sind Mitarbeiter*innen in der Regel gerne bereit, auf eine umfassende Mitbestimmung zu verzichten. Lassen sich beide Seiten auf diesen Deal ein, erhöht dies die Stabilität in einem Team, weil eindeutig geklärt ist, wer wofür zuständig ist.
Systemische Gründe für eine akzeptierte Machtverteilung
Neben diesen persönlichen Gründen gibt es noch weitere gruppendynamische Argumente für eine Akzeptanz der Verteilung von Macht:
Konfliktvermeidung: Sich um Macht zu streiten kostet Energie, die zur Erreichung des Ziels einer Gruppe besser investiert werden kann.
Bindung: Menschen wollen dazu gehören. Wer sich unterordnet oder sich eine Nische im System sucht, ohne sich auf einen Machtkampf einzulassen, riskiert in Folge auch keinen Ausschluss aus der Gruppe.
Status Quo-Bewahrung: Wer sich einmal auf ein System eingelassen hat, arrangiert sich selbst bei Unzufriedenheit lieber mit dem Status Quo als sich mit Machthabenden anzulegen. Die Folgen eines solchen Machtkampfes können unkalkulierbar sein, sind jedoch mindestens mit Stress verbunden.
Kulturelle Regeln vs. Sanktionsregeln
Dieses unbewusste Band wird durch meist ebenso unausgesprochene kulturelle Regeln gelebt. Solche Regeln lassen sich als Wenn .., dann …-Verknüpfungen erfassen und beziehen sich auf alles Mögliche rund um die Zusammenarbeit:
Lob und Kritik:
Wenn ich anderer Meinung bin als mein Chef, (dann) kläre ich das unter vier Augen, um seine Machtposition nicht zu gefährden, indem ich ihn öffentlich herausfordere.
Arbeitsethos:
Wenn mein Chef länger bleibt, (dann) heißt das noch lange nicht, dass ich auch länger bleiben muss.
Wenn ich doch einmal gezwungen bin, „die Extrameile zu gehen“, (dann) sollte das eine Ausnahme sein. Zudem erwarte ich ein Extralob oder eine anderweitige Vergütung.
Wollen Sie selbst den Regeln in Ihren Teams auf den Grund gehen, fragen Sie sich:
Wofür bekommen die Teammitglieder Anerkennung?
Wofür werden sie bewundert?
Was darf nicht angesprochen werden, wird aber dennoch befolgt?
Sollte es in Ausnahmefällen doch einmal nötig sein, wird mittels Sanktionsregeln auf die Gewaltkomponente als eine Art Joker zurückgegriffen, die ebenfalls als Wenn …, dann …-Regeln funktionieren:
Wenn jemand dauerhaft gegen Arbeitsregeln verstößt, bekommt er oder sie eine Abmahnung.
Die Regel lautete bislang: Je weniger offizielle Sanktionen notwendig sind, desto mehr halten sich die Teammitglieder an inoffizielle kulturelle Regeln und desto stabiler ist ein Team.
Die „Neue Normalität“ als Irritation
In neuer Zeit hat dieses System einen Riss bekommen und dies nicht erst seit Corona:
Agilität und Partizipation: Teamleitungen ohne Weisungsbefugnis, wie es in agilen Teams häufig der Fall ist, verfügen kaum noch über Macht. Damit greift die alte Aufteilung zwischen Mächtigen, die mehr leisten und auch mehr Befugnisse haben und weniger Mächtigen mit klaren Arbeitszeiten nicht mehr. In einem Team zu arbeiten, das alles zusammen entscheidet, macht sicherlich mehr Spaß, als in einem streng hierarchischen Team zu sein. Ob jedoch alle auch gerne länger bleiben, wenn es notwendig ist, hängt meist von den familiären Rahmenbedingungen der Mitarbeiter*innen ab. Zudem gibt es immer noch Menschen, die sich lieber als andere weiterbilden und dafür vermutlich auch einen Macht-Benefit in Unternehmen erwarten. Was würde jedoch passieren, wenn es diesen nicht mehr gibt?
Eigeninitiative im Homeoffice: Die Arbeit im Homeoffice führt automatisch zu mehr Eigenverantwortung. Und Eigeninitiative kann eine feine Sache sein, wenn Mitarbeiter*innen dies wollen. Manche Mitarbeiter*innen sind jedoch überfordert bei so viel Verantwortung. Während sie früher von der Arbeit nach Hause gingen, selbst, wenn eine dringende Aufgabe noch nicht erledigt war, mit dem Vertrauen darauf, dass ihr/e Chef*in den Rest erledigen wird, sind sie nun stärker auf sich alleine gestellt. Die Erwartungen an jede/n Einzelnen sind definitiv gestiegen.
Krisen und Dauerbelastungen: Lautete der Deal früher für Mitarbeiter*innen „Ich mache meinen Job, aber mehr auch nicht“, wird nun dauerhaft von ihnen verlangt, in unterbesetzten Teams mehr zu leisten als früher, oftmals jedoch ohne die Sicherheit zu haben, dass sie ihren Job auch morgen noch haben werden. Ob dies für sie unangenehm ist, hängt von der jeweiligen Branche und dem entsprechenden Fachkräftemangel ab. Bei vielen Mitarbeiter*innen (und Führungskräften ebenso) geht dies auch an die körperliche Substanz bis hin zu somatischen Beschwerden wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen oder psychischen Beschwerden wie Depressionen oder einem Burnout.
All dies zeigt uns, dass das bisherige Konsensmodell der Machtverteilung in weiten Teilen nicht mehr greift und damit die Stabilität in vielen Teams gefährdet:
Ob in agilen Teams oder im Homeoffice: Die Verantwortung für Ergebnisse hängt nicht mehr final von der Führungskraft ab, sondern wird im besten Fall auf alle Schultern verteilt.
Bei einer Führung auf Distanz entsteht zudem der Eindruck, dass Führungskräfte nicht so greifbar sind, so schnell wie vor Ort reagieren und für ihre Mitarbeiter*innen die Kohlen aus dem Feuer holen können, wobei dies v.a. ein psychologischer Faktor ist. Selbst wenn die alten Machtverhältnisse aufrecht erhalten bleiben, ist es für Mitarbeiter*innen schwer, die Signale der Macht zu deuten und damit Klarheit darüber zu erlangen, wem sie aufgrund eines souveränen Auftretens als Führungskraft Macht zutrauen und wem nicht.
Am schwersten wiegt jedoch die derzeitige Dauerbelastung: Während Mitarbeiter*innen früher leichter abschalten konnten, werden sie heute mehr in die Pflicht genommen, was die Gefahr mit sich bringt, dass sich manche überarbeiten, während sich andere vehementer als früher abgrenzen und egoistischer werden.
Kulturelle Regeln bewusst machen
Insbesondere der letzte Punkt eröffnet die Gefahr, verstärkt mit Sanktionen gegenüber sich egoistisch Abgrenzenden zu arbeiten, da diese leichter umzusetzen sind, als über kulturelle Regeln der Zusammenarbeit zu sprechen. Dabei würde genau das zu einer nachhaltigen Stabilisierung führen. In diesem Sinne ist es hilfreich für Teams, den bislang unbewussten Nutzen der beiden Seiten bewusst zu machen, um zu klären, welche neuen kulturellen Regeln sich ein Team geben will, um unter neuen Bedingungen, d.h. im Homeoffice und im Rahmen einer Führung auf Augenhöhe als auch unter Dauerbelastungen stabil zu bleiben, bspw:
Wenn ich überlastet bin, (dann) spreche ich darüber.
Wenn wir gemeinsam Entscheidungen treffen, (dann) hören wir alle Meinungen im Team an, bevor wir ein finales Urteil fällen.
Wenn wir an unsere Grenzen kommen, (dann) gehen wir davon aus, dass jede*r sein / ihr Bestes gibt.
Wenn ich sehe, dass jemand dauerhaft über seine Grenzen geht, (dann) biete ich ihm oder ihr Hilfe an.
Erhöhung der sozialen Kompetenz
Die Klärung neuer kultureller Regeln machen einen Teil der sozialen Kompetenz in einem Team aus. Diese lässt sich noch weiter erhöhen, indem – insbesondere bei einer Zusammenarbeit auf Distanz – der egozentrierte Blick aller Mitarbeiter*innen immer wieder auf das soziale Zusammenspiel der Akteure gelenkt wird:
Wie fördern wir das Verständnis füreinander?
Wir bauen wir Bindungen zueinander auf und lassen tragfähige Netzwerke entstehen?
Welche Ziele verfolgen wir gemeinsam?
Wie sollten wir zusammenarbeiten, um unsere Ziele zu erreichen?
Was ist uns in der Arbeit und Zusammenarbeit wichtig?
Welches Verhalten könnte zu Missverständnissen führen?
Oder konkret: Wie könnte sich Kollege X fühlen, wenn er nicht weiß, wann er seine Unterlagen von Kollegin Y bekommt?
Während die soziale Kompetenz und damit Deutung von Signalen in Präsenz relativ einfach ist, kommen wir nicht umhin, die soziale Kompetenz insbesondere bei einer Zusammenarbeit auf Distanz aktiv zu fördern und weiterzuentwickeln. Letztlich brauchen also auch Mitarbeiter*innen ohne offizielle Führungsverantwortung Weiterbildungen in Kommunikation und Konfliktmanagement, die bislang v.a. Führungskräften vorbehalten waren. Um diese Lücke zu schließen bietet die Digitalisierung (kurze Online-Trainings, Lernplattformen) enorme Chancen.
Zugehörigkeit und Bindung am Arbeitsplatz haben sich verschoben
Die Zugehörigkeit zu einem Arbeitsplatz wird in meinen Führungsseminaren häufig beklagt. Das beginnt bereits beim Vorstellungsgespräch: „Die wissen oft gar nicht, wo sie sich bewerben und was wir hier eigentlich machen“, so ein O-Ton aus meinen Seminaren.
Die Prioritäten haben sich hier in den letzten Jahren deutlich verschoben. Früher wollten Mitarbeiter*innen wohin, „weil die einen guten Ruf hatten, man dort Karriere machen konnte und die gut bezahlten“. Heute wollen junge Leute wohin, „weil es Teilzeitangebote gibt, ich viel vom Homeoffice aus erledigen kann … und klar: die Bezahlung sollte angemessen sein“.
Karriere machen? Eher nicht mehr so wichtig. „Family first, Arbeit second“, könnte der geheime Leitspruch vieler junger Menschen lauten. Und damit werden auch Führungspositionen auf lange Sicht schwieriger zu besetzen sein. Nur: Brauchen wir in einer zunehmend enthierarchisierten und auf Distanz zusammenarbeitenden Welt noch Führungskräfte?
Ich vermute schon, weil wir niemals in einer zu 100% enthierarchisierten Welt leben werden. Es wird immer Momente geben, in denen am Ende des Tages irgend jemand eine Entscheidung treffen muss, die anderen im Team nicht zu 100% gefallen wird. Und da werden uns vermutlich auch keine cleveren Algorithmen raus helfen.
Zugehörigkeit ist nach wie vor wichtig
Die Zugehörigkeit findet heutzutage also nicht mehr automatisch über eine klare Struktur und einen potenziellen Aufstieg am Arbeitsplatz statt. Die Mitarbeiter*innen orientieren sich also immer weniger an einer Führungskraft, von der sie sagen: „Da will ich auch hin“, so wie einst Gerhard Schröder mit langen Haaren am Zaun des Kanzleramts rüttelte.
Und dennoch bleibt Zugehörigkeit und Bindung ein zentraler Aspekt, gerade in Zeiten der Distanz bzw. im Rahmen einer hybriden Zusammenarbeit.
Das Achievers Workforce Institute brachte 2021 den „Culture Report on Belonging at Work“ (externer Link) heraus. Darin zeigt sich, dass Beschäftigte mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl motivierter, produktiver, engagierter und widerstandsfähiger sind. Dies wird erreicht, wenn Mitarbeiter*innen sich
willkommen,
bekannt,
einbezogen,
unterstützt und
verbunden fühlen.
Strategischer Aufbau einer Kultur der Zugehörigkeit und Bindung
Wie in jedem (strategischen) Verbesserungs-Prozess sollte zuerst eine Analyse der aktuellen Probleme stattfinden, anschließend eine Festlegung der Ziele, dann eine Analyse der vorhandenen Instrumente und schließlich – nach der Durchführung einer Testphase – die Evaluation der Erkenntnisse und Ergebnisse:
Problem-Analyse: In welcher Situation sind wir? Was hat sich verändert (von Präsenz zu hybrid, von traditionell zu modern)? Welche Probleme tauchen dadurch auf (geringere Kreativität, mehr Missverständnisse, Unruhe und Unzufriedenheit)? Was erwarten oder wünschen sich die Mitarbeiter*innen? Brauchen wir dazu eine Mitarbeiterbefragung? Oder können wir andere Instrumente der Messung nutzen, beispielsweise Kundenunzufriedenheit, Krankheitsdaten oder Konflikte? An dieser Stelle sind die fünf Kategorien aus der genannten Studie hilfreich, um zu erkennen, woran es v.a. hapert:
Willkommenskultur: Gibt es ein Willkommensritual für neue Mitarbeiter*innen? Finden sie alles auf ihrem Schreibtisch (sofern es diesen noch gibt), was sie zur Arbeit brauchen? Wie sauber läuft der Onboarding-Prozess ab? Kennen die Vorgesetzten die Namen der Neuen? Wie schnell kommen die neuen Mitarbeiter*innen in Kontakt mit anderen Kolleg*innen im Team als auch mit Mitarbeiter*innen im gesamten Unternehmen?
Bekanntheit im Unternehmen: Gibt es Events im Unternehmen, um nicht nur die Fachkraft kennenzulernen, sondern auch den Menschen dahinter? Gibt es Ort des Kennenlernens für einen unverbindlichen Austausch, beispielsweise eine (virtuelle) Teeküche oder Chatrooms, in denen Kochrezepte oder Filmtipps ausgetauscht werden?
Einbezogen werden: Inwiefern werden Ideen der Mitarbeiter*innen in Projekten oder Verbesserungsprozessen berücksichtigt? Inwiefern werden Bedürfnisse nach einer gelingenden Work-Life-Balance berücksichtigt? Gibt es eine Toleranz für abweichende Meinungen? Gibt es Gruppen zum Austausch über bestimmte Themen, zum Beispiel über Gesundheit am Arbeitsplatz?
Unterstützt werden: Wie wird gewährleistet, dass Mitarbeiter*innen ein konstruktives Feedback und die Möglichkeit zur beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung bekommen? Gibt es beispielsweise regelmäßige kollegiale Beratungsgruppen, insbesondere für Führungskräfte, oder ein institutionalisiertes 360-Grad-Feedback?
Verbunden sein: Welche Möglichkeiten können Mitarbeiter*innen selbst nutzen, um ihr Netzwerk im Unternehmen aufzubauen und miteinander in Kontakt zu treten? Gibt es auch einen hierarchie- und abteilungsübergreifenden Austausch? Wird dieser gefordert und gefördert oder eher ungern gesehen?
Ziel-Definition: Wo wollen wir bezüglich des Themas ‚Zugehörigkeit‘ hin? Was wollen wir erreichen? Was ist uns wichtig? Warum und wofür ist uns das wichtig?
Instrumenten-Analyse: Welche Instrumente haben wir bereits (beispielsweise aus dem Bereich des Onboarding)? Welche hatten wir früher? Welche ließen sich reaktivieren (beispielsweise Stammtisch, Sportgruppen, Chor, Ausflüge)? Welche lassen sich nur in Präsenz durchführen? Welche funktionieren auch online? Aufbauend auf der Problemanalyse lassen sich auch hier wieder die fünf Kategorien aus der genannten Studie heranziehen: Welche Instrumente haben wir in den fünf Bereichen und wie lassen sich diese anwenden, erweitern oder verbessern?
Testphase und Evaluation: Was davon hat gut funktioniert? Was davon soll weitergehen? Wovon sollten wir uns verabschieden?
Wer sich als Führungskraft ab und an die Frage stellt, warum manche Mitarbeiter*innen so demotiviert sind oder nur noch Dienst nach Vorschrift leisten, sollte sich mit dem Thema der Kränkung beschäftigen. Kränkungen sind allgegenwertig. Es soll hier auch nicht darum gehen, seine Mitarbeiter*innnen in Watte zu packen. Ein wenig Hintergrundwissen zum Thema bietet jedoch gute Erklärungen für die Demotivation der eigenen Belegschaft und damit die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wo evtl. eine Veränderung des eigenen Führungsstils in Richtung Achtsamkeit sinnvoll wäre. Gleichzeitig wird deutlich, dass gerade in der aktuellen Zeit globale Krisen zu Kränkungen führen, ohne dass Sie als Führungskraft daran schuld wären. Und dennoch ist es hilfreich, auch diese Zusammenhänge zu kennen, um wertschätzend miteinander umzugehen.
Wie entstehen Kränkungen?
Eine Kränkung verletzt einen Menschen in seiner Ehre, Würde, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Sie erschüttert die eigenen Werte sowie den Selbstwert und den Gerechtigkeitssinn. Kränkungen können nur stattfinden, wenn zuvor etwas anderes erwartet wurde. Sie haben immer mit einer Enttäuschung oder sogar einem Schock zu tun.
Typische Kränkungen stehen in Verbindung mit …
Beleidigungen, Beschämungen, Bloßstellungen, Demütigungen, Herabwürdigungen und Erniedrigungen,
Zurückweisungen,
Nichtbeachtungen, Ignoranz oder Übergangen werden.1
Je öffentlicher und absichtlicher die Kränkungen stattfinden, desto schlimmer. Oftmals hängen Kränkungen auch mit einem Vertrauensbruch oder empfundenen Ungerechtigkeiten zusammen.
Was haben Kränkungen mit Krisen zu tun?
Auf der einen Seite gibt es die alltäglichen Kränkungen beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz oder die Nichtbeachtung im Falle einer Beförderung. Daneben gibt es jedoch auch die mit Krisen verbundenen großen Kränkungen der Menschheit. Nachdem Sigmund Freud auf drei große Kränkungen der Menschheit hinwies, kommen durch die Digitalisierung weitere Kränkungen hinzu:2
Die erste Kränkung bestand nach Freud darin, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist.
Die zweite Kränkung bestand in der Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und damit nicht die Krone der Schöpfung Gottes ist.
Die dritte Kränkung bestand darin, dass es ein Unterbewusstsein gibt und der Mensch weniger Kontrolle über sein Leben hat als er bislang dachte.
Die vierte Kränkung begann in den 50er Jahren mit der Automatisierung der Arbeitswelt. Zwar helfen Maschinen dem Menschen, schwere oder stupide Arbeiten zu tätigen. Dennoch droht damit immer auch die Ersetzbarkeit des Menschen. Und je schneller und genauer unsere Computer werden, desto größer ist die Kränkung.
Die fünfte Kränkung schließlich sieht intelligente Computer als dem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen an. Mit Big Data lassen sich in wenigen Sekunden Zukunftsmodelle errechnen, für die der Mensch Jahre bräuchte.3
Emotionen können Algorithmen noch nicht empfinden. Sollte jedoch eines Tages ein Computer dazu fähig sein, genauso spontan und emotional zu reagieren wie ein Mensch, wäre dies die sechste Kränkung. Filmische Visionen davon gibt es bereits. In Alien 4 beispielsweise spielt Winona Ryder eine Androidin, die menschlicher ist als die Menschen um sie herum.
Dabei zeigt sich bei all diesen großen Menschheitskränkungen, dass nie alle Menschen gleich betroffen sind. Kopernikus war sicherlich nicht gekränkt, sondern die Kirche. Auch Darwin wurde sicherlich nicht durch seine eigenen Studien gekränkt. Das gleiche gilt für Freud selbst. Und wer von Automatisierungen, der Digitalisierung, dem Internet und smarten Algorithmen profitiert, wird sich kaum von der Geschichte übergangen fühlen, sondern diese gesellschaftlichen Veränderungen als Chance betrachten. Wer jedoch bislang sein Geld mit Handarbeit verdiente und nun sieht, dass alleine der Verkauf von Whats App an Facebook 2014 22 Milliarden Dollar wert war, fragt sich, ob die Welt, in der er sich befindet noch die seine ist. Krisen wirken also nie auf alle gleich. Genauso wie es in der Gesellschaft Krisengewinner und -verlierer gibt, gibt es auch in Unternehmen Profiteure und Abgehängte.
Der Soziologe Andreas Reckwitz unterscheidet zur Verdeutlichung dieses Phänomens der Entwertung von Biographien eine alte von einer neuen Mittelschicht. Während in der Industriegesellschaft nach den Weltkriegen beinahe jeder Mensch mit einer Normalbiographie an einem gewissen Wohlstand teilhaben konnte, sind Ausbildungen und Abschlüsse heutzutage kein Garant mehr für ein ausreichendes Auskommen. Die Unterschicht nimmt zahlenmäßig zu und die nichtakademische alte Mittelschicht kann sich nicht mehr sicher sein, ob sie ihren Lebensstandard auf Dauer halten kann. Die weitgehend akademisch geprägte neue Mittelschicht wiederum ist häufig geprägt durch eine Vermischung mit kreativen Milieus, eng verbunden mit der Digitalisierung, dem Internet und Medien, und damit mehr oder weniger krisenfest. Die damit verbundenen Kränkungen der alten Mittelschicht beziehen sich auf drei Aspekte:4
Entwertung kultureller Werte: Alte Werte wie Fleiß und Beständigkeit führen nicht mehr automatisch zum Erfolg. Heutzutage hat Erfolg, wer zur richtigen Zeit am richtigen Platz und mutig genug ist, seine Chancen zu nutzen.
Finanzielle Unsicherheit: Damit einher geht auch eine finanzielle Unsicherheit. Hatte die alte Mittelschicht gestern noch ein gesichertes Einkommen, kann sie morgen schon – insbesondere in Krisenzeiten als Turbo – absteigen und zur Untterschicht gehören.
Verhältnismäßigkeit des sozialen und kulturellen Einflusses: Eine nicht unbedingt zahlenmäßig überlegene Gruppe von Menschen aus dem akademischen Milieu gibt durch die Verbindung zum kreativen Milieu und den digitalen Möglichkeiten an, welche Lebensstile wertvoll sind. Es geht in aktuellen Kränkungen also nicht nur um eine finanzielle Entwertung, sondern auch und vor allem um die Entwertung kultureller Aspekte wie beispielsweise der Sprache. Gerade deshalb wirkt das Gender-Sternchen wie ein rotes Tuch für manche Menschen. Es geht dabei weniger um das Sternchen, sondern die akademisch diktierte Vorgabe an die alte Mittelschicht, was richtig oder falsch ist.
Die Enttäuschung und damit Kränkung findet jedoch nur statt, wenn Menschen vor einer Krise oder großen gesellschaftlichen Veränderung einen höheren Status inne hatten oder es zumindest die Erwartung darauf gab. Die alte Mittelschicht erleidet diesen Verlust direkt. Und ein erfolgloser Akademiker hatte sich vermutlich mehr erhofft. Ein Hartz-4-Empfänger jedoch wird weniger oder gar nicht gekränkt sein, weil er ohnehin keine hohen Erwartungen an sein Leben hatte.
Solche Erwartungsenttäuschungen gibt es freilich auch in Unternehmen, wenn wir beispielsweise an eine ausgebliebene Beförderung denken. Damit lässt sich auch erklären, warum manche Mitarbeiter*innen trotz persönlichen oder globalen Krisen weitermachen, als wäre nichts geschehen, während andere eine Zurückweisung und Kränkung erleben.
Jeder Mensch hat unterschiedliche Triggerpunkte
Dabei zeigt sich, dass jeder Mensch unterschiedliche Kränkungspunkte hat:5
Welche emotionalen und gesundheitlichen Folgen haben Kränkungen?
In Krisen verlieren Menschen einen Teil der Kontrolle über ihr Leben. Bislang hatten sie eine Arbeit, verdienten für sich und andere ihren Lebensunterhalt und wirkten zudem als Vorbild für ihre Kinder. Nun scheint all das auf dem Prüfstand zu stehen. Die damit verbundene Bloßstellung, nicht krisensicher oder wie es in der Pandemie für manche Berufsgruppen hieß „nicht systemrelevant“ zu sein, kann beschämend sein. Plötzlich habe ich keinen Wert mehr für die Gesellschaft. Ich bin also nicht gut genug. Scham jedoch ist schmerzhaft, weshalb sie oftmals durch Wut überdeckt wird.6
Wut wiederum verengt unseren Blick. Wir sehen dann nur noch den Auslöser unserer Scham oder unseren Widersacher. Gibt es einen Widersacher, beispielsweise eine Führungskraft als Hiobsbotschaftenüberbringer, fokussiert sich unsere Wut auf diese Person. Gibt es kein direktes Subjekt, an dem wir unsere Wut auslassen können, verschiebt sich die Wut auf andere unklare Subjekte wie die Eliten oder Weltverschwörer*innen. Dass Krisen meist aus einem Zusammenspiel vieler kaum durchschaubarer und global vernetzter und voneinander abhängiger Faktoren entstehen, ist schwerer zu fassen.
Während persönliche Kränkungen oft mit einem Ausschluss aus einer Gruppe zu tun haben, schweißen die Kränkungen ganzer Gruppen diese noch mehr zusammen: Bevor wir noch mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, schließen wir uns selbst aus und gehen aktiv gegen die Gesellschaft vor, wie es beispielsweise in Frankreich mit der Gelbwesten-Bewegung passiert. Für viele Mitglieder der Gelbwesten spielt(e) der Stolz, seinen Lebensunterhalt mit einfacher Arbeit zu verdienen vor den Reformen von Emanuel Macron eine wichtige Rolle. Dass dies aus eigener Kraft nicht mehr möglich ist, geht einher mit einer tiefen persönlichen Kränkung.
Ein gekränkter Mensch wiederum ist nicht mehr bereit, auf seine vermeintlichen Aggressoren zuzugehen oder auch nur die Erwartung zu haben, dass sich etwas zum Besseren wendet. Dadurch entsteht der Teufelskreis einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung. Die aktive Kränkungssituation ist zwar vorbei. Es werden jedoch stetig Zeichen gesucht und gefunden, um neue Kränkungen ausfindig zu machen.
Starke Kränkungen können bis zu einem dauerhaften Alarmmodus führen, um sich vor neuen Angriffen zu schützen. In diesem Fall spricht man von Verbitterungen. Der Körper befindet sich damit in einer auslaugenden Daueranspannung. Dauerhafte Kränkungen begünstigen unter anderem Angststörungen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen, Sucht oder Burnout.7
Wie gehen wir am besten mit Kränkungen in Krisen um?
1. Abstand hilft beinahe immer
Wie dargelegt setzt sich mit einer Kränkung eine negative Kettenreaktion in Gang, die schwer wieder aufzuhalten ist: Kränkungen führen zu Scham, diese zu Wut, diese zu einem Tunnelblick, der einen offenen Blick auf die Situation verhindert und damit auch eine kreative Auseinandersetzung mit der Krise. Um diese Kettenreaktion zu unterbrechen, hilft beinahe nur eins: Mit Abstand, Ruhe und Geduld einen sachlichen Blick auf die Situation zu werfen:
Was verändert sich wirklich?
Was bleibt gleich?
Welche Veränderung ist bedrohlich?
Welche werde ich leicht meistern können?
Und welche wird anstrengend, aber ich werde es dennoch schaffen?
2. Gruppen wirken stärkend und verstärkend
Da in Krisen ganze soziale Gruppen gekränkt werden, liegt es nahe, hier Zuflucht, Beistand und Unterstützung zu finden. Dies wirkt im ersten Moment stärkend, kann jedoch den wütenden Blick auf die Ursachen oder vermeintlichen Verursacher der Krise zusätzlich verengen. Dieses Phänomen der Gruppenbildung sehen wir aktuell an vielen Punkten, wenn es um Essenskonsum, Positionen im Ukrainekrieg beziehungsweise Unterstützung der Ukraine versus Friedensverhandlungen, Fahrverhalten oder Energiesparen geht. Schnell bilden sich zwei Gruppen, die sich gegenseitig in digitalen Netzwerken beleidigen, beschämen oder auch „nur“ humorvoll bloßstellen. Doch nur weil eine Gruppe adressiert wird, muss ich mich davon – auch wenn ich ein Teil dieser Gruppe bin – nicht angesprochen fühlen. Sinnvoller wäre es, aus diesem Solidarismus auszubrechen, sich seine eigene Meinung zu bilden und damit den gedanklichen Grundstein zu legen, um sich auf eine Neue Normalität einzulassen.8
Dasselbe Spiel findet logischerweise auch in Unternehmen statt. Auch hier gibt es Gruppenbildungen und Konfrontationen zwischen „denen da oben“, den „Mitläufern“, den „Blockierern“ und denen „Dazwischen“ (das sind meist die Führungskräfte selbst, außer sie zählen sich zu einer anderen Gruppe). Und auch hier ist es wichtig, sich seine eigene Meinung und damit gegebenenfalls neue Gruppen zu bilden. Vielleicht entstehen dann die „Vorsichtigen“, „Skeptischen“, „Optimistischen“, „Schnellen“ und „Vermittelnden“.
Gleichzeitig kann ich nur durch einen eigenen neutralen Blick auf die Kränkungen durch die Krise auch anderen krisengebeutelten Menschen in meiner ursprünglichen Gruppe langfristig und konstruktiv bei der Bewältigung der Krisefolgen helfen.