Schlagwort-Archive: Coaching

Über die Emotionalisierung der Arbeitswelt

Bild von vectorjuice auf Freepik

Die Psychologisierung der Arbeitswelt

In den 70er Jahren, als Therapien und Coachings intensiv erforscht wurden und zumindest im privaten Bereich u.a. durch Encountergroups in Mode kamen, gab es noch eine strikte Trennung zwischen Privatem und Arbeitsleben. Heutzutage gelten Coachings teilweise schon zum guten Ton. Es gbit noch Ausnahmen in deutschen Unternehmen. Doch der Weg ist geebnet. Der Makel ein Coaching zu benötigen ist kaum noch vorhanden. Stattdessen heißt es eher: Toll, dass unsere Firma dafür Geld ausgibt. Coachings werden heutzutage weitgehend als Wertschätzung für eine*e Coachee betrachtet.

Mediationen haben es immer noch schwer. Doch mit dem Coaching kam auch der Gedanke einer emotionalen Ganzheitlichkeit in die Unternehmen. In einem Coaching wird – nicht immer, aber meistens – nicht nur eine Teilkompetenz des Menschen, sondern der ganze Mensch angesprochen, mitsamt seiner Schwächen, Ängste und Probleme. Dieser Blick hinter die Bühne ist normalerweise nicht erlaubt. Zu recht, denn welcher Kunde möchte sich mit den Sorgen und Nöten eines Verkäufers oder einer Beraterin auseinandersetzen? Auf der Arbeitsbühne gilt es eine saubere Vorstellung hinzulegen. Auf der Bühne zählen Kompetenzen, auch wenn ein Sahnehäubchen menschliche Fehlbarkeit niemals fehl am Platz sind.

Doch hinter der Bühne darf der Mensch als Ganzes wahrgenommen werden. Er muss es sogar, damit er später gut „performen“ kann. Erst wenn er lernt, gut mit seinen Schwächen umzugehen, ist er in der Lage, später eine gute Leistung abzuliefern, die nicht darauf beruht, Unsicherheiten zu verbergen, sondern darauf fußt, seine Schwächen zu kennen und sie im Griff zu haben.

Dieser grundlegende Coaching-Gedanke ging über die letzten Jahrzehnte auch in andere Bereiche des Arbeitslebens über, beispielsweise in die Didaktik in Seminaren:

  • In Seminaren nach behaviouristischem Muster geht es um pure Verhaltensänderungen. Seminarteilnehmer*innen sollen sich Wissen aneignen, um es bei Bedarf abzurufen. Unser Schulsystem ist weitgehend so aufgebaut. Trainer*innen treten hier als Expert*innen auf. In den letzten Jahrzehnten kam dieses Modell jedoch immer mehr aus der Mode, da es wenig nachhaltig ist.
  • Seminare nach kognitivistischem Muster sollen das Verständnis fördern. Seminarteilnehmer*innen analysieren und reflektieren Themen und Probleme, um eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Trainer*innen treten in diesem Kontext als Mentor oder Tutor auf.
  • In einem systemisch-konstruktivistischen Kontext wiederum werden Seminare als Partizipationsveranstaltung konzipiert. Jede*r Teilnehmer*in gilt als Expert*in ihres eigenen Gebiets. Entsprechend werden auf Augenhöhe gemeinsam neue Wege und Lösungen erkundet. Diese Erkundungen werden von Coaches, Moderator*innen oder Teamentwickler*innen begleitet, damit es nicht zu einem Chaos kommt und Ungleichheiten in Teams ausgeglichen werden.

In den letzten Jahren verschob sich die Didaktik in Seminaren immer mehr in Richtung systemisch-konstruktivistisch. Insbesondere, wenn wir an Formate wie Open Space oder Bar Camps denken. Das heisst nun nicht, dass nur noch offen diskutiert wird. Natürlich spielt Expertenwissen immer noch eine Rolle, beispielsweise im Rahmen kurzer Online-Impulsvorträge. Und auch das „einfache“ Reflektieren über Probleme und Themenstellungen ist nach wie vor wichtig. Die grundsätzliche Organisation zur Wissensgenerierung und Kompetenzentwicklung ist jedoch weniger hierarchisch als früher.

Der Mensch wird also heutzutage nicht nur in Coachings oder Therapien, sondern auch in Seminaren ganzheitlicher angesprochen. Ein zentraler Satz des Vorreiters des Open Space-Gedankens, Harrison Owen, lautet entsprechend: Was da ist, ist da.1 Es wird mit den Ideen und dem Wissen gearbeitet, das aktuell im Rahmen einer Veranstaltung im Raum ist. Ein klassischer Spruch aus dem Wissensmanagement unterstreicht diesen Gedanken: Wenn das Unternehmen wüsste, was das Unternehmen weiß …

Die Generation-Z hätte es gerne emotionaler

Doch damit nicht genug. Auch in Teamentwicklungsmaßnahmen fand über Jahrzehnte hinweg eine Emotionalisierung statt, von Kletterparks bis Escape-Rooms. All das kommt insbesondere jüngeren Generationen entgegen, die sich laut Umfragen sowohl eine klarere Positionierung ihres Unternehmens in punkto Werte, beispielsweise zu Themen wie Nachhaltigkeit und Diversität, als auch eine ehrlichere und damit auch authentischere Kommunikation wünschen. Das Verstecken von Chef*innen hinter einer Rolle der Macht ist weniger angesagt. Arbeit soll stattdessen Spaß machen und sich gut mit dem restlichen Leben, beispielsweise im Homeoffice vereinbaren lassen.2 Kein Wunder, dass ein Begriff wie Work-Life-Balance, der eine klare Trennlinie zwischen Arbeit und Privatleben suggeriert, von vielen eher skeptisch betrachtet wird.

Doch auch hier stellt sich die Frage: Was passiert, wenn jemand kein Spieltyp ist und keine Lust auf Escape-Rooms hat? Was passiert beispielsweise mit Menschen mit autistischen Zügen, die sich anderen Menschen ungern öffnen und offenbaren? Früher konnten diese Menschen einfach nur ihrer Arbeit nachgehen. Sie schlüpften in eine Rolle, erfüllten bestimmte Erwartungen und Anforderungen und gingen am Abend vermutlich nicht glücklich, aber doch irgendwie zufrieden nach Hause.

Vor ein paar Jahren wurde ich als Mediator zu einem Konflikt berufen, bei dem ein Mitarbeiter sich partout nicht am Teamgeschehen beteiligen wollte. Alle Vermittlungsversuche schlugen fehl, weil sich der Mitarbeiter im Rahmen der Mediation nur noch mehr verschloss. Es endete schließlich mit einer Kündigung, wie ich im Nachhinein erfuhr. Der Mitarbeiter passte letztlich nicht in das kleine Team von etwa sechs Personen, weil er nicht zum Mittagessen mitging und auch sonst mit den Kolleg*innen kaum einen kommunikativen Austausch pflegen wollte. Dies wurde ihm als Vertrauensbrauch ausgelegt. Der Fall hatte insgesamt eine kompliziertere Vorgeschichte als hier dargestellt. Der Mitarbeiter startete zusammen mit dem Geschäftsführer als Zweiterteam. Doch irgendwann ist zwischen den beiden aufgrund eines beinahe gescheiterten Projekts ein Bruch entstanden, worauf sich der Mitarbeiter zurück zog. Was aber, wenn ein Mitarbeiter von Anfang nicht so offen kommunizieren will? Gibt es Inseln für diese Menschen? Verbannen wir sie ins Homeoffice? Oder profitieren dann endlich diejenigen, die früher leiden mussten und es immer schon emotionaler wollten?

Höhere Ansprüche erfordern mehr Offenheit

Sicherlich, die Ansprüche sind gestiegen. Das Homeoffice erfordert eine Menge Selbstführung von Mitarbeiter*innen, die bislang das Thema Führung eher vermieden. Der Umgang mit Krisen, Dauerbelastungen und Unterbesetzung erfordert von allen Beteiligten enorme (Rest-) Reserven ab. Und die stetigen Veränderungen und Anpassungen torpedieren das Thema „Lernende Organisation“ erneut auf die Unternehmens-Agenda. All das erfordert auch ein offeneres Miteinander.

Und dennoch, oder gerade deshalb, gibt es eine enorme Sehnsucht von Mitarbeiter*innen, wenn auch nur temporär, einfach nur ihren Job zu machen – sachlich, stoisch, unemotional und vollkommen unbegeistert.

Dieses Bedürfnis ist auch in Seminaren zu spüren: Wer in der Arbeit stetig Entscheidungen trifft, möchte sich auch mal berieseln und von Expert*innen die Welt erklären lassen. Vielleicht spiegelt sich darin auch der gesellschaftliche Trend der Expertokratie wieder. Oder frei nach Karl Valentin: Denken ist schön. Macht aber auch Arbeit.

Seien wir also froh darüber, dass der Trend der letzten Jahre in der Arbeit eindeutig in Richtung Offenheit und Partizipation ging, gewähren den Mitarbeiter*innen zur emotionalen Erholung aber auch den ein oder anderen Moment des bloßen sachlichen Ableistens ohne große Emotionalität.

1Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Open_Space

2Vgl. https://unicum-media.com/marketing-wiki/generation-z/#werte

Energiefluss als Zeichen der Zufriedenheit

Bild von pch.vector auf Freepik

Weniger Schmerzen durch Auflösung von Energieblockaden

Neulich litt ich unter starken Nervenschmerzen im Zahnbereich, die erst abnahmen, als ich nicht mehr dagegen ankämpfte, sondern stattdessen die Schmerzen akzeptierte und mich auf die Suche nach deren Ursache machte. Der Auslöser war eine Zahn-OP. Die eigentliche Ursache jedoch lag in einer tiefen Verspannung im linken Schulterbereich, vermutlich durch eine monatelange Sitzfehlhaltung, die ich zuvor kaum bemerkte. Erst durch die Zahn-OP kam es zum Ausbruch der besagten Schmerzen.

Als die Verspannung durch mehrere gezielte Massagen gelöst wurde, ließ auch der Schmerz nach. Dies betrifft jedoch lediglich die körperliche Ebene. Parallel dazu hatte ich auch meine innere Haltung verändert, weg von „Ich muss das alleine schaffen“ und mich im wahrsten Sinne des Wortes durchbeißen, hin zu „Ich darf mir Hilfe holen“.

Als der Schmerz sich (beinahe) in Nichts auflöste, begann mein Gesicht zu kribbeln, als würde es wieder stärker durchblutet werden. Meine linke Gesichtshälfte fühlte sich nicht mehr so kontrolliert an wie zuvor. Durch die körperliche und psychische Blockade konnte die Energie wieder vollkommen durch meinen Körper fließen.

Die Entstehung von Schmerzen ist sicherlich vielfältig. Hier bin ich kein Experte. Meine eigene Erfahrung zeigte mir jedoch, dass ein Aspekt des Schmerzes die Unterbrechung von Energie sein kann. Damit Energie wieder fließen kann, gibt es verschiedene Möglichkeiten:

  • Offenes Denken: Als erstes ist es hilfreich, seine „Ich muss“-Sätze zu überprüfen, mit denen ich mich selbst blockiere: Ich muss es alleine schaffen. Ich muss durchhalten. Ich muss stark sein. Und natürlich auch: Ich darf keine Schwäche zeigen.
  • Akzeptierendes Fühlen: Eng damit verbunden sind unsere Gefühle. Hinter dem Satz „Ich muss stark sein“ steckt das Gefühl der Angst, bspw. als unsouverän oder verantwortungslos zu gelten. Wird diese Angst verdrängt, anstatt reif und erwachsen mit ihr umzugehen, kann sie die inneren Blockaden im Körper verstärken oder sogar deren Ursprung sein.
  • Veränderung von Beziehungen: Sowohl das Denken als auch das Fühlen beinhalten meist eine deutliche Beziehungskomponente: Akzeptiere ich, dass ich Hilfe brauche, weil meine eigenen Kompetenzen in diesem Fall nicht (mehr) ausreichen, verändere ich entweder eine Beziehung in meinem Nahbereich oder suche mir externe Hilfe. Wenn die Angst vor Verantwortungslosigkeit mein Thema ist, bezieht sich das ebenso auf mindestens eine andere Person, mit der eventuell eine Beziehungsklärung ansteht.
  • Körperliche Veränderung: Gerade im Gesundheitsbereich etwas körperlich zu verändern durch Massagen, mehr Bewegung oder eine andere Sitzhaltung, um den Energiefluss durch den Körper zu verbessern, liegt meist am nächsten und wirkt logischerweise auch am schnellsten. Wird das Denken und Fühlen hingegen nicht mitgenommen, sind auch körperliche Veränderungen lediglich von kurzer Dauer sein. Sind die Rückenschmerzen erst wieder weg, vergesse ich schnell, dass ich jemals Rückenschmerzen hatte.

Energiefluss als Sinn- und Glückserleben

Einige Wochen vor meiner Nervenattacke unterhielt ich mich mit meiner jüngeren Tochter (17) auf einem Spaziergang über den Sinn des Lebens. Sie meinte: „Keinen Mangel zu haben – d.h. auch schmerzfrei leben – ist doch schon mal was.“ Wer jemals starke Schmerzen erlebte, kann das vermutlich gut nachvollziehen. Unter Schmerzen fokussiert sich die gesamte Wahrnehmung auf den Schmerz oder das Abstellen des Schmerzes. Alles andere – ein leckeres Essen genießen, sich mit Freunden unterhalten, mit den Kindern ein Brettspiel spielen, Wandern, Arbeiten – ist allenfalls Ablenkung. Ein Teil des Gehirns ist jedoch beständig mit dem Schmerz beschäftigt. Erst wenn der Schmerz gebändigt oder zumindest auf ein Mindestmaß reduziert ist, lässt sich das Leben wieder vollkommen genießen.

Energiefluss im Alltag

Lässt sich der Umgang mit Schmerz und damit auch die Frage nach Sinn, Glück und Zufriedenheit auch auf den normalen Alltag übertragen? Ich denke ja. Denn auch ohne Schmerzen kann es eine Maxime des Lebens sein, dass die eigene Lebensenergie ohne Blockaden durch den Körper fließt. Ich kenne beispielsweise Menschen, die von sich selbst behaupten, vom Kopf ab (nach unten) abgeschnitten zu sein. Sie denken zwar, haben aber kaum einen Zugang zu ihrem restlichen Körper. Anderen fehlt der Zugang zu ihren Händen, wenn sie nicht wissen, was sie damit während einer Präsentation tun sollen. Dahinter steckt vermutlich die Angst, zu sehr aufzufallen, wenn ge-hand-elt wird. Oder jemand hat keinen Zugang zu seinen Beinen, wenn er nicht stabil auf dem Boden steht.

Um den Energiefluss zu fördern, müssen wir vermutlich nicht einmal wissen, welche Ziele wir damit anstreben, ob wir erfolgreich sein wollen, kreativ oder ein entspanntes Leben führen wollen. Die Energie findet ihren eigenen Weg und erreicht das Ziel, das unser Körper sich wünscht, nebenbei.

(Selbst-) Coaching-Fragen zur Förderung des Energieflusses

Hilfreiche Coachingfragen lauten daher:

  • Bis wohin fließt die Energie und wo hört sie auf zu fließen?
  • Wie fühlt es sich an, wenn ein Teil des Körpers nicht mit Energie „versorgt“ wird?
  • Wann fließt mehr Energie durch meinen Körper – auch durch kritische Bereiche? Und was mache ich da anders?
  • Wodurch blockierst du dich geistig selbst mit „Ich muss“-Aussagen?
  • Welche Emotionen hindern dich an einem guten Energiefluss?
  • Welche Beziehungen sollten geklärt werden, um einen guten Energiefluss zu fördern?
  • Welche körperlichen Veränderungen wären sinnvoll, um den Energiefluss zu fördern?
  • Wie fühlt es sich an, wenn die Energie wieder in den Bereichen fließt, in denen sie zuvor nicht floss?

Kontraintuitive Fragetechniken

Bild von pch.vector auf Freepik

Unsere Intuition liefert uns Handlungsanweisungen in unklaren Momenten und zeigt uns auf, mit welchen Strategien wir am besten zu einem wünschenswerten Ziel kommen. Während also unsere Intuition in neuen Situationen ein guter und vor allem schneller Ratgeber sein kann, sind es leider genau solche Situationen, in denen ein Versagen möglich ist, da nicht jede Erfahrung auf einen neuen Kontext übertragbar ist. Denn unsere Intuition besitzt zwei blinde Flecken, die eine 1 zu 1-Übertragung schwierig macht:

  • Zum einen die Besonderheit ihrer Prägung. Kein Mensch macht die gleichen Erfahrungen wie ein anderer.
  • Zum anderen ihr Prägungsumfeld, das immer auch von bestimmten Zielen beeinflusst wird, die mit mehr oder weniger Macht durchgesetzt werden wollen. Sowohl die eigenen Eltern als auch Kindergärten, Schulen, die Medien, die wir konsumieren oder auch unser gesellschaftspolitisches Umfeld versuchen unsere Intuition machtvoll zu prägen.

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die eigene Intuition immer wieder zu hinterfragen, indem ihr durch kontraintuitive Fragen neue Perspektiven hinzugefügt werden: Was wäre, wenn es ganz anders wäre?

Unsere Intuition zeigt uns also, wie wir unter Unsicherheit ein bestimmtes Ziel dennoch mit einer bestimmten Strategie erreichen oder ein unerwünschtes Ereignis vermeiden. Am aktuellen Beispiel des russischen Angriffs auf die Ukraine:

  • Um den Krieg in der Ukraine zu beenden, sollten wir Friedensverhandlungen führen. Was wäre jedoch, wenn ein Frieden kontraintuitiv schneller durch Waffenlieferungen erreicht wird?
  • Oder was wäre, wenn andererseits eine offizielle Kapitulation der Ukraine kein Aufgeben bedeutet, sondern einen inoffiziellen inneren Widerstand gegen die Besatzer erst ermöglicht?

Solche kontraintuitive Fragen sind auch im Alltag gerade dann sinnvoll, wenn wir uns zu sehr in vermeintlicher Sicherheit wiegen oder wenn wir zu sehr in unseren (intuitiven) Mustern gefangen sind, im Sinne eines „Ich muss so handeln, um …“: Während wir meist davon ausgehen, dass harmonische Beziehungen am besten über Freundlichkeit aufgebaut werden, könnten Beziehungen auch über eine unverblümte Direktheit gefördert werden. Und während manche Führungskräfte davon ausgehen, dass Kontrolle zu schnellen Ergebnissen führt, kann auch das Gegenteil des Vertrauens äußerst produktiv sein.

Wir sollten uns daher gerade in neuen, aber vermeintlich klaren Situationen selbstkritisch hinterfragen, um unserer Sicht auf uns und auf die Welt eine neue Perspektive hinzuzufügen. Diese neue Perspektive kann zu drei Erkenntnissen führen:

  1. In diesem Fall gibt es keine andere Sichtweise und ich kann meiner Intuition absolut vertrauen.
  2. Dieser Fall könnte tatsächlich die große Ausnahme von meinen bisherigen Erfahrungen sein.
  3. Dieser Fall ist komplex. Ich sollte meiner Intuition trauen und gleichzeitig in Betracht ziehen, dass es Ausnahmen gibt. Ich sollte daher meine Intuition regelmäßig überprüfen, um zu erkennen, ob meine gelernten Strategien tatsächlich zu einem erwünschten Ziel führen.

Gedankenhygiene betreiben

Bild von DilokaStudio auf Freepik

Wir können uns sowohl positiv als auch negativ hypnotisieren. Welchen Weg wir wählen hängt weitgehend von unseren Gedanken ab. Als meine Kinder klein waren, war bei ihnen im Kindergarten der Begriff „Scheiße“ verboten. Als verantwortungsvoller Vater erklärte ich daraufhin meinen Kindern den Unterschied zwischen „Mist“ und „Scheiße“: „Wenn ihr eine Tasse kaputt macht, ist das Mist. Wenn ihr jedoch einen Kakao auf meinen Laptop verschüttet ist das Scheiße.“

Wir wählen nicht nur bestimmte Gedanken und Begriffe aus. An diesen Begriffen hängen durch die Vernetzung in unserem Gehirn ganze Gedanken- und Gefühlswelten. Wenn wir von Problemen und Konflikten sprechen, merken wir sofort, wie unsere Stimmung negativ wird. Sprechen wir jedoch von Aufgaben, Projekten, Chancen oder Herausforderungen, wirkt sich dies meist positiv auf unser Gemüt aus. In meinen Seminaren führe ich dazu ein Gedankenexperiment durch, dass ich mir von dem Hypnosystemiker Gunther Schmidt ausleihe – hier in einer Schnellversion:

  • Denken Sie an ein Problem aus der letzten Woche und achten darauf, wie es Ihnen damit körperlich geht.
  • Tauschen Sie nun den Begriff des Problems gegen den Begriff der Aufgabe aus. Wie geht es Ihnen körperlich damit?
  • Tauschen als als nächstes den Begriff der Aufgabe gegen den Begriff der Herausforderung aus. Wie geht es Ihnen damit?

Das Fazit ist immer ähnlich:

  1. Das Austauschen ist für 11 von 12 Personen emotional angenehmer, weil Probleme negativ besetzt sind. Meist ist ein Problem dabei, das sich nicht so einfach austauschen lässt. Die „Täuschung“ erscheint zu einfach.
  2. Das Austauschen gegen den Begriff der Aufgabe versachlicht das Thema und macht es damit handhabbarer. Bei vielen entsteht im Gehirn spontan eine Art Projektplan. Aufgaben passen meist – nicht immer – besser in den beruflichen Bereich und hängen eng mit Erwartungen und Rollen in der Arbeit zusammen.
  3. Das Austauschen gegen den Begriff der Herausforderung kann sowohl in privaten als auch beruflichen Bereichen passen. Manche Teilnehmer*innen wehren sich gegen den Begriff der Herausforderung im beruflichen Bereich, weil dieser in den letzten Jahren zu inflationär eingesetzt wurde: „Sehen Sie es als Chance! Wir stehen vor einer großen Herausforderung!“ Oftmals sollen damit reale Probleme verdeckt werden, wogegen sich unser Gehirn wehrt. Wenn es dennoch funktioniert, berichten die meisten von einem inneren Motivationsschub.

Es geht also nicht um ein simples „Think positiv!“ oder um ein magisches Austauschen von Begriffen, wie dies auf manchen Blog-Seiten propagiert wird. Um im Bild zu bleiben: Es geht nicht darum, zu einem klinisch sauberen Gehirn zu kommen, sondern darum, sich bewusst zu machen, wann ich mir übertriebene Sorgen mache und wann es angebracht ist, sich Sorgen zu machen. Es geht also um ein real angepasstes „Think positiv!“.

Mit der Philosophie des Kintsugi zu einem „neuen“ Umgang mit Biographiebrüchen

Bild von ededchechine auf Freepik

Bild von ededchechine auf Freepik

Mit Kintsugi zerbrochene Schalen veredeln

In Japan gibt es die Tradition des Kintsugi: Altes wird nicht nur repariert, sondern bekommt durch die kunstvolle Wiederherstellung einen neuen, besonderen Glanz. Antike Schalen steigen damit sogar im Wert (Externer Link: www.japan-budo.com/japanische-antiquitaeten/kintgusi-ko-karatsu.html). Immerhin erforderten sie eine beachtliche Mehrarbeit, Achtsamkeit und Wertschätzung im Vergleich zu einer unzerbrochenen Tasse. Sie sind mit mehr Leben gefüllt, haben mehr erlebt. Sie haben eine Geschichte zu erzählen.

Kintsugi als Metapher

Was würde passieren, wenn wir diese Metapher auf unser Leben übertragen? Auf all unsere Biographiebrüche.

Bei der Übertragung ließen sich folgende Aspekte beleuchten:

  • Worüber sollte ich mich nicht mehr ärgern?
  • Auf welche Weise will ich mit mir selbst wohlwollender umgehen?
  • Was will ich mir selbst verzeihen?
  • Was sollte ich hinter mir lassen?
  • Wofür bin ich im Nachhinein dankbar?
  • Was will ich anderen Menschen vergeben?

Es stellt sich also die Frage, ob sich der Ärger über einen Bruch wirklich lohnt und was ich brauche, um diesen Bruch zu akzeptieren, um einen Neuanfang bestmöglich zu gestalten.

Gleichzeitig wird deutlich: Jeder Mensch ist ein Unikat. Niemand lässt sich einfach so in einem Laden als Massenware erwerben. Was uns stattdessen als Individuen ausmacht, sind nicht nur unsere Erfolge, sondern auch unser Scheitern. Dies erinnert mich an ein Zitat aus dem Song Anthem von Leonard Cohen: “There is a crack in everything. That’s how the light gets in.”

Für einen „neuen“ Umgang mit Fehlern

Verinnerliche ich die Philosophie des Reparierens – die in unserer konsumatorischen Zeit einen sehr negativen Beigeschmack hat – kehre ich langfristig ab vom Diktat des Perfektionismus. Ich versuche dann Fehler nicht mehr zu vermeiden, sondern akzeptiere sie als einen Teil des Lebens. Genau wie wir nicht absichtlich eine schöne Tasse aus unserem Schrank auf den Boden werfen, sondern viele Jahre verhindern, dass dies passiert, akzeptieren wir den Umstand, dass es nun einmal trotz Achtsamkeit eines Tages so weit ist. Dann jedoch behandeln wir die zerbrochene Tasse mit der gleichen Achtsamkeit und Wertschätzung wie zuvor.

Die drei Phasen eines Heilungsprozesses

Was brauchen wir nun – neben den oben genannten Fragen – um sich selbst oder sich gemeinsam in einem Workshop zu reparieren?

Zuerst einmal finde ich den DIY-Gedanken spannend. Wir brauchen keinen großen Meister. Es braucht Achtsamkeit, Wertschätzung, Geduld und sicherlich viel Übung, um eine Schale und im übertragenen Sinn sich selbst zu reparieren. Und natürlich braucht es ein paar Materialien. Der wichtigste Faktor ist jedoch man oder frau selbst.

Was also brauchen wir zur Heilung unserer Brüche und Narben?

Wie so oft im Leben lässt sich ein Heilungsprozess, der auch sehr gut als Multi-Impact-Coaching-Tool eingesetzt werden kann in mehrere Phasen einteilen:

Phase 1: Das Zusammenfügen

MaterialienÜbertragung
HandschuheBei welchen Themen sollte ich besonders achtsam, wertschätzend und vorsichtig mit mir umgehen?
Zwei-Komponenten-KleberWas hält mich noch oder wieder zusammen? Was brauche ich, um wieder ganz zu sein?
ModelliermasseWoraus ziehe ich eine Erkenntnis? Was kam durch den Bruch Neues in mein Leben? Woran bin ich gewachsen?

Phase 2: Die Feinarbeit

MaterialienÜbertragung
Grobes und feines SchleifpapierManche Komponenten unseres Lebens lassen sich leicht reintegrieren. Andere brauchen erst einen neuen Schliff. Ich kann daher das Abgebrochene als ehemaligen Teil von mir betrachten, der erst reintegriert werden kann, wenn mir die Bedeutung für mich bewusst wird.
ReinigerNach einer Reintegration braucht es manchmal eine Reinigung, beispielsweise im Rahmen eines Rituals, um Wut, Ärger und Enttäuschungen loszulassen. Erst dann wird das Abgebrochene als Teil von uns akzeptiert. Was will ich mir also selbst verzeihen? Wovon will ich mich selbst freimachen und reinigen?

Phase 3: Verschönerung

Bauschiger PinselManche Themen erfordern einen robusten Umgang im Sinne eines „Schwamm drüber und weiter machen“. Hierzu passt die Frage nach der Vergebung und dem Abhaken.
Spitzer PinselAndere Themen erfordern eine filigrane Behandlung. Hier geht es um die Details.
Gold- und SilberfarbeWas verleiht mir sogar einen neuen Glanz? Worauf kann ich wirklich stolz sein?
Verschiedene FarbenManchmal möchte man seine Brüche, Narben und Wunden bunt anmalen, um seine Einzigartigkeit zu feiern. In diesem Sinne kann ich auch dankbar für meine neue Buntheit sein.