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Weihnachten überstehen

Bald ist es wieder soweit. Dann treffen am Fest der Liebe Menschen aufeinander, die genau einmal im Jahr in einer solchen Konstellation zusammentreffen und sich so gar nicht verstehen. Das war schon immer so. Und doch haben die potenziellen Themen des Missverstehens in den letzten Jahren so zugenommen wie die Jahresendmägen der Diskutanden. Zum einen gab es früher keine Coronamaßnahmen, Waffenlieferungen an Europas Grenzgebiete, Solidaritätsfrieren oder Straßenblockaden der selbsternannten „Letzten Generation“. Auch Themen wie Veganismus oder Flugreisen wurden weniger heiß diskutiert. Zum anderen scheinen Diskussionen allgemein jakobinischer geworden zu sein.

Grund genug, sich anzusehen, welche Möglichkeiten es gibt, das Weihnachtsfest auch bei weit auseinander liegenden Meinungen heil zu überstehen.

Zwischen Befürchtungen und Bedürfnissen

Bevor wir dazu kommen, ist es hilfreich zu überlegen, aus welchen Gründen jemand seine Meinung vehement verteidigt. Ein Grund, der häufig genannt wird ist die allgemeine Meinungsfreiheit. Dahinter scheint es eine Angst zu geben, in dunkle Zeiten zurückzufallen, in denen nicht mehr alles gesagt werden durfte. Schnell ist dann der Begriff einer „Cancel Culture“ zur Hand, in der eine Meinung zwar gesagt werden darf, aber drastische Konsequenzen nach sich zieht. Wenn beispielsweise eine Professorin an einer Universität eine Statistik zitiert, bei der es um biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau geht, die von manchen gesellschaftlichen Gruppierungen geleugnet werden. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine ganz banale Diskussion handelt, die durchaus auch heiß werden kann, oder ob das Zitat der Professorin tatsächlich zu einer Entlassung oder einer Ausladung von Konferenzen führt. Im ersten Fall, der nach meiner Beobachtung weit häufiger passiert, allerdings im Vergleich zu früher nun vor aller Augen im Internet vollzogen wird, handelt es sich sicherlich nicht um einen Fall von Cancel Culture. Im zweiten Fall wohl schon. Leben wir also in einer Gesellschaft, in der einzelne Meinungen gecancelt werden? Ja und Nein.

Was passiert jedoch an Weihnachten? Muss ich befürchten, dass ich kein leckeres Stück von der Weihnachtsgans (bereits hier kann der Streit schon anfangen) aufgrund meiner Äußerungen bekomme? Oder dass ich mit bösen Blicken überzogen werde? Zwei Tage später ist der Liebes-Spuck wieder vorbei und ich kann in mein altes Leben und in meine ganz persönliche Filterblase zurückkehren. Die Konsequenzen sind also überschaubar.

In öffentlichen Diskussionen greift zudem die Angst um sich, dass ich meine Meinung gegen andere „falsche“ Meinungen verteidigen muss, damit mein Gegenüber seinen Einfluss auf potentielle Anhänger*innen nicht ausbaut. Auch dieses Argument fällt in Familien weg.

Neben diesen Befürchtungen bleiben ureigene Bedürfnisse übrig, mit denen sich wesentlich besser erklären lässt, woher die Vehemenz in Diskussionen kommt. Menschen suchen nach Anerkennung. Und sie wollen vor allem gesehen werden. Zumindest diese Minimalvoraussetzung sollte gegeben sein: Ich muss die Meinungen anderer nicht gut finden, aber ich kann sie mir zumindest anhören und mein Gegenüber damit wahrnehmen.

Verstehen bezieht sich nicht auf Meinungen

Zwar kommt vorschnell der Satz „Das musst du doch verstehen!“. Ein Verstehen ist jedoch niemals in Gänze möglich und auch nicht wünschenswert, weil jeder Mensch mit anderen Erfahrungen und anderen Fähigkeiten auf die Welt blickt. Was den einen ängstigt, ist für den anderen normal. Zudem ist es keineswegs wünschenswert, einen anderen Menschen komplett zu verstehen. Was das Zusammenleben von Menschen spannend und interessant macht, ist gerade das Gegensätzliche. Was wäre denn, würde ich meine Frau oder meine Kinder komplett verstehen? Wir müssten uns nicht mehr unterhalten. Sie würde einen Satz beginnen … und ich würde sofort sagen: „Weiß ich. Kenne ich. Geht mir genauso“. Ist es da nicht viel spannender, sich ein Leben lang vom Gegenüber, selbst nach vielen Jahren, immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen?

Zudem ließe sich der Drang eines allumfassenden Verstehens eines anderen Menschen durchaus als privaten Kolonialismus deuten: „Ich ordne dich komplett in mein Verstehens-Schema, um dich zu begreifen“. Wie schnell wird dann aus einem „Begreifen“ ein „Ergreifen“ oder „Im Griff haben“?

Vielleicht kennen Sie das Phänomen, wenn andere Menschen vorschnell zu Ihnen sagen: „Das verstehe ich“, obwohl Sie noch nicht am Ende Ihrer Erzählung angekommen sind. In einem solchen Fall fühlen Sie sich in der Regel alles andere als verstanden. Sie wurden eingeordnet und möchten laut ausrufen: „Stopp! Ich will gar nicht, dass Du mich verstehst! Du kannst das vermutlich auch gar nicht verstehen! Wirklich verstehen kann nur ich, was ich erlebt habe. Denn Du warst nicht dabei“.

Dass es dennoch eine Sehnsucht gibt, verstanden zu werden, ist unbenommen. Diese Sehnsucht lässt sich vermutlich tatsächlich nur von Erlebens- und Leidensgenossen oder Menschen, denen wir sehr nahe stehen, stillen. Kein Wunder, dass es seit einiger Zeit eine starke Tendenz in unserer Gesellschaft gibt, sich in solchen Erlebensgruppen gegenseitig auszutauschen und zu solidarisieren. Sozusagen eine organische und stützende Solidarität unter Gleichen zu pflegen, während nach dem Soziologen Emile Durkheim in modernen Gesellschaften ebenfalls eine funktioniale und ergänzende Solidarität unter Ungleichen besteht. Bei gleichzeitiger Auflösung von Verbindungen – nachdem Gewerkschaften und Kirche bereits seit langer Zeit im Rückgang sind, lösen sich aktuell auch berufsbezogene Verbindungen durch die Arbeit im Homeoffice auf – ist die Suche nach neuen stützenden Verbindungen evident. Das Tummeln in Filterblasen lässt sich also auch aus einem Bedürfnis nach Verständnis deuten.

5 Tipps für bessere Gespräche an Weihnachten (und überhaupt)

Wenn also ein Verständnis unter Ungleichen schwer möglich und vielleicht sogar nicht einmal sinnvoll ist, was wäre dann zu tun, um sich an Weihnachten nicht gegenseitig den Appetit zu verderben?

Tipp 1: Wohlwollen als Grundbedingung

Vorneweg ist eine Grundbedingung wichtig, um sich zumindest nicht destruktiv zu begegnen: Das Wohlwollen, dass mein Gegenüber mich nicht anlügt, sondern aus seiner Sicht einen Teil der Wahheit über die Welt in der Hand hält, auch wenn das für mich übertrieben oder sogar vollkommen hahnebüchen erscheint. Wir sollten uns allerdings immer vor Augen halten: Unser Gegenüber denkt genauso.

Tipp 2: An der eigenen Toleranz arbeiten

Bereits hier scheint ein Scheitern vorprogrammiert. Denn es gehört (aus unserer eigenen Sicht) eine Menge Ambiguitätstoleranz und Geduld dazu, unser Gegenüber mit seinen seltsamen Meinungen auszuhalten. Dabei ist es genau diese Toleranz, die ein Miteinander unter Ungleichen seit jeher ausmachte. Wir glauben vielleicht, wir sollten gleich sein, weil wir doch aus einer Familie kommen. Doch wir sind in der Regel verschiedener als im Austausch mit Freunden.

Tipp 3: Fokus auf Sachen

Stellen Sie sich vor, Sie wären in der Arbeit und müssen mit Menschen auskommen, die Sie kaum kennen. Was tun Sie? Sie konzentrieren sich auf die Sache. Sie müssen niemanden von Ihrer Meinung überzeugen. Es reicht, wenn „der Laden läuft“. So ein Fokus auf die Sache kann sehr entspannend sein. Vielleicht gehen deshalb manche Menschen so gerne in die Arbeit. Weil es nicht so menschelt.

Übertragen auf Weihnachten bedeutet das: Fokussieren Sie sich auf gemeinsame Tätigkeiten. Kochen Sie zusammen, decken den Tisch, schmücken den Baum, packen Geschenke aus oder spielen ein Spiel. Und sorgen Sie dafür, dass die Welt der vielen Meinungen da draußen zumindest für ein paar Tage schweigen darf.

Tipp 4: Seien Sie neugierig

Gibt es in Ihrem eigenen Umfeld kaum eine solche Exotin wie Ihre Schwester? Freuen Sie sich, sich Sichtweisen und Meinungen erläutern zu lassen, die komplett anders sind als das, was Sie gewohnt sind. Manche Menschen scheinen beinahe Angst zu haben, durch abweichende Meinungen beschmutzt zu werden. Aber warum? Sind Sie so leicht zu verunsichern, dass Sie am Ende noch umgestimmt werden könnten? Was soll schon passieren? Sie hören sich das „Exotische“ aus einem höflichen, aber neugierigen Wissensdrang heraus an und können auch Ihrerseits darum bitten, angehört zu werden.

Tipp 5: Experimentieren Sie

Haben Sie jemals versucht, andere Menschen, die komplett anderer Meinung sind als Sie, von Ihrer Meinung zu überzeugen? Und? Hat es funktioniert? Vermutlich nicht.

Wie wäre es, wenn Sie experimentieren und etwas anderes versuchen? Was wäre, wenn es nicht darum ginge, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, ein interessantes Gespräch zu führen? Sie könnten Ihre Sprechart verändern, beispielsweise langsamer, unheimlicher, akzentuierter oder ruhiger sprechen, Betonungen anders setzen, Metaphern nutzen, Humor einsetzen oder Ihre Aussagen in Fragen formulieren.

Bei Experimenten geht es nicht darum, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, es zu locken und neugierig zu machen auf das, was Sie zu sagen haben.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Inspiriert durch mehrere Artikel im aktuellen Philosophie-Magazin 01/2023

Siehe auch: https://www.metropolitan.de/buch/wir-sollten-reden

Quiet quitting, quiet beginning

Das Phänomen des „Quiet Quitting“, zu deutsch etwa „Stilles Aufhören“ wird in meinen Seminaren sehr häufig angesprochen:

  • Mitarbeiter*innen arbeiten nur noch das nötigste.
  • Mitarbeiter*innen lassen die Loyalität zu ihrem Arbeitgeber vermissen, wenn es um flexible Arbeitszeiten oder Überstunden geht.

Noch drängender wird es bei neuen Bewerber*innen in bestimmten Schlüsselfachgebieten, bspw. der IT, wenn Bewerber*innen kaum etwas vom Unternehmen wissen, am liebsten im Homeoffice arbeiten und eher wenig Teambindung haben wollen und aufgrund dessen wenig soziale Bereitschaft aufbringen, mehr als ihren verbrieften Job zu machen.

Quiet Beginning als Zukunftsthema

Das Thema „Stilles Aufhören“ ist also noch mehr ein Thema der Zukunft, wenn wir uns die Werte jüngerer Generationen ansehen und wird damit zu einem „Quiet Beginning“:

  • Familie, Freunde und Hobbys sind wichtiger als Arbeit.
  • Fahrzeiten wollen reduziert werden, insbesondere in Großstädten.

Worum geht es hier wirklich?

Dabei ist der Begriff „Quiet Quitting“ wohl eher der schicken Alliteration geschuldet als einer klaren Beschreibung, worum es wirklich geht. Es geht eben nicht darum, sich langsam und leise aus dem Job zu verabschieden oder – wie in meiner Erweiterung – gar nicht erst 100%ig einzusteigen. Es geht vielmehr darum, sich nicht mehr mit dem Wert der Aufopferung für ein Unternehmen zu identifizieren.

Klassisch – agil – 80%-Engagement

Spannend dabei ist der Werdegang über die letzten Jahrzehnte. Lassen wir die klassische Verbundenheit mit dem Arbeitgeber einmal außen vor – bei vielen Führungskräften in meinen Seminaren kommt der Spruch „die interessieren sich gar nicht mehr dafür, was uns ausmacht“ – gab es durch die agile Revolution, New Work- und Feelgoodmanagement-Bewegung durchaus eine Verschiebung in Richtung Mitarbeiter*innen. Zwar steht in agilen Settings das Kundenwohl an oberster Stelle. Dennoch haben viele Unternehmen verstanden, dass dies nur erreicht wird, wenn ich Mitarbeiter*innen mehr Freiheiten zur kreativen Gestaltung lasse. Wie so oft wurden vermeintliche (agile) Freiheiten aber auch von Unternehmen oder einzelnen Teamleiter*innen pervertiert. Ein Teilnehmer eines meiner Seminare brachte es so auf den Punkt: In agilen Teams herrscht viel Freiheit, die durch tägliche ‚dailys‘ einen Orientierungsrahmen bekommen. Diese Freiheit wurde jedoch durch seinen Exteamleiter zerstört. Wenn jemand im Team nicht gleich wusste, wie er seine tägliche Arbeit in Worte fassen sollte, meinte dieser „Come on. There must have been something, that you’ve been done.“ Damit wurde die vermeintliche Freiheit doch wieder zur Kontrolle. Das traditionelle Mindset killte sozusagen das moderne Framework.

Das gleiche gilt für viele vermeintlich mitarbeiterfreundliche Strukturen, egal ob sie in einer New Work- oder Feelgoodmanagement-Verkleidung daher kommen. Natürlich ist der oberste Unternehmenszweck Geld zu verdienen oder zumindest zu überleben. Dennoch sollte dies niemals zu einem utilitaristischen Selbstzweck verkommen oder schlimmer noch als Nettigkeit verkleidet werden.

Kein Wunder, wenn manche Mitarbeiter*innen nur noch 80% Leistung als Maximum bieten wollen. Lorbeeren mit Extrameilen sollen sich andere verdienen.

Eine wertebasierte Ethik fördert Loyalität

Wer sich intensiver mit dem Balanceakt zwischen Mitarbeiter- und Kundenorientierung auseinandersetzen möchte, kann ich meinen New-Work-Ansatz ans Herz legen (externer Link). Darin geht es auch um die Grenzen der Kundenorientierung und damit um eine klare wertebasierte Ethik zugunsten der Mitarbeiter*innen, sozusagen um Ausnahmen, um die Menschlichkeit im Unternehmen zu erhalten. Stellen sich Führungskräfte hinter ihre Mitarbeiter*innen, fördern sie auch deren Loyalität. Einer meiner Seminarteilnehmer*innen denkt noch heute an seine ersten Arbeitstage bei einem Unternehmen, als sein Computer nicht richtig funktionierte und sein Teamleiter meinte: „Du machst, was möglich ist und wenn etwas schief läuft, nehme ich das auf meine Kappe“.

Führungskräfte (und Unternehmen) sollten gleichzeitig die provokante Frage jüngerer Mitarbeiter*innen „Warum ist das sinnvoll, was ich gerade mache und muss ich das wirklich tun?“ ernst nehmen und auch ihr eigenes Handeln regelmäßig auf den Prüfstand stellen. Mir scheint jedoch, dass die Abwehr gegen das „Why“ der Generation Y mitverantwortlich für die Abkehr der Generation Z ist.

Gesellschafts- oder Generationenkonflikt

Zudem wird der Generationenkonflikt durch die allgemeine gesellschaftliche Stimmung verschärft. Im Angesicht so vieler Krisen (Umwelt, Corona, Krieg, Rezession) scheint vielen Menschen der Sinn in der Arbeit abhanden gekommen zu sein: „Ein Haus kann ich mir nicht mehr leisten. Ein Auto will ich mir (in der Stadt) nicht mehr leisten. Wofür also die ganze Plackerei?“ Überspitzt könnte man auch formulieren: „Wenn die Welt bald untergeht, will ich doch nicht die nächsten Jahre mit Überstunden verbringen“. Damit steht das Wirtschaftsmodell, das wir seit dem Nachkriegs-Wirtschaftswunder fahren verfolgen insgesamt auf dem Prüfstand.

Das Phänomen des „Quiet Quittung“ hat also nicht nur mit Egoismus zu tun, sondern auch mit Frustration und Depression. Manche kleben sich aus Frust auf Straßen fest. Andere ziehen sich zurück ins Private und machen nur noch das Nötigste, um gut durch das Leben zu kommen.

Arbeit kann auch glücklich machen

Auf der anderen Seite wissen wir, dass Arbeit (in vielerlei Formen) auch glücklich machen kann. Und ist es nicht noch frustrierender, wenn Mitarbeiter*innen lediglich Dienst nach Vorschrift machen, obwohl sie noch ein ganzes Arbeitsleben vor sich haben?

An dieser Stelle kommen Aspekte der „Positiven Psychologie“ (externer Link) zum tragen und damit Instrumente wie:

  • Job Crafting, indem Mitarbeiter*innen sich ihre Aufgaben wo möglich selbst zusammenstellen.
  • Transparente Einbeziehung der Mitarbeiter*innen in Entscheidungen.
  • Fehler respektvoll aufarbeiten und vieles mehr.

Siehe auch meine Zusammenfassung von New Work auf der Basis einer positiven Psychologie.

Das Phänomen des Quiet Quitting ist damit noch lange nicht behoben, da es – wie dargelegt – auch ein kulturelles Thema ist. Ganz machtlos sind Führungskräfte und Unternehmen jedoch auch nicht.

Leistungsbeurteilung aus der Distanz

Neulich in einem Seminar zum Thema „Führung auf Distanz“ kam ein Thema auf, das meines Erachtens noch kaum bis gar nicht in der Fachwelt beleuchtet wurde: Während es den aktuellen Führungskräften noch relativ leicht fallen sollte, ihre Mitarbeiter*innen auch aus der Distanz zu beurteilen, weil sie sie entweder schon von früher kennen oder sie zumindest das Rüstwerk mitbringen, andere zu beurteilen, könnte dies zukünftigen Führungskräften schwerer fallen. Denn wie beurteile ich jemanden, von dessen Arbeit ich lediglich Ergebnisse sehe, nicht jedoch seine Performanz?

Die klassische Leistungsbeurteilung wird sich verändern (müssen)

Auf Distanz lassen sich Leistungen freilich genauso beurteilen wie bisher. Individuelle und soziale Komponenten könnten jedoch zu einem Problem führen. Schauen wir uns dazu einige gängige Kriterien zur Leistungsbeurteilung an:

  • Das Fachwissen auch auf Distanz zu beurteilen sollte kein Problem darstellen.
  • Die Lust zur Weiterbildung ebenso.
  • Auch bei der Beurteilung der Arbeitsqualität wird sich wenig verändern.
  • Bei der Übernahme von Verantwortung wird es schon schwieriger, insbesondere wenn – wie es in Expertenteams häufig der Fall ist – Chef*innen oftmals nicht einschätzen können, welchen Aufwand die Expert*innen betreiben müssen, um an ihr Ziel zu kommen.
  • Bei der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen wird es noch komplizierter. Gilt dann die Devise „Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“?
  • Die Loyalität zu Unternehmen und Team hat in manchen Branchen, insbesondere in Ballungsgebieten ohnehin stark nachgelassen. Bei vielen Neubewerber*innen scheint die Maxime zu gelten „Ich will einfach nur (m)einen Job machen, egal wo und bei wem. Hauptsache ich kann das meiste von zuhause aus erledigen“. Doch selbst wenn dieser Punkt weiter in die Beurteilung fließen soll: Wie beurteilen Führungskräfte die Loyalität von Mitarbeiter*innen aus der Distanz?
  • Und wie schaut es mit dem Selbstmanagement der Mitarbeiter*innen aus, dem Arbeitstempo oder Kundenbezug? Sollte all das nur noch am Ergebnis festgemacht werden, ohne sich auf beobachtbare Fakten zu beziehen? D.h. auch hier: Wenn kein Kunde vergrätzt wurde und die Ergebnisse auch sonst passen, brauchen wir nicht darüber zu sprechen. Doch was, wenn nicht? Im negativen Fall sind Führungskräfte mehr oder weniger von den Aussagen der Mitarbeiter*innen über die Gründe des Nicht-Gelingens abhängig, was die Bewertung nicht leichter macht.

Führungsrenaissance

Summa sumarum gibt es also Unterpunkte einer Beurteilung, die sich nicht bis wenig verändern werden und andere Punkte, die eine Führung auf Distanz kaum noch beurteilen kann bzw. bei denen sie von der Ehrlichkeit ihrer Mitarbeiter*innen abhängig sein wird.

Dies kann verschiedene Konsequenzen nach sich ziehen:

  • Führungskräfte sollte gerade auf Distanz Beziehungsarbeit betreiben, um möglichst viel von ihren Leuten mitzubekommen. Nur so wird es möglich sein, in einem ehrlichen Mitarbeitergespräch die Informationen zu bekommen, die sie für eine Beurteilung brauchen.
  • Schaffen sie das nicht, wird es in der Zukunft zu kategorischen Hop-oder-Top-Entscheidungen führen. Fehlen ihnen relevante Informationen für eine umfassende Beurteilung, wird sich diese nur noch auf die Leistung beziehen. Alles Soziale und Individuelle wird durch das Raster fliegen. Wer dann in der Zukunft Ergebnisse nicht liefert – aus welchen Gründen auch immer – wird entbehrlich sein (einen klassischen Arbeitsplatz hat er im Homeoffice ohnehin nicht mehr).
  • Dies führt allerdings auch zu der Erkenntnis, dass Mitarbeiter*innen gut daran tun, ihre Arbeit und Zusammenarbeit mit Kolleg*innen transparenter zu machen. Wer sich als Mitarbeiter*in zuhause einigelt und die Gesprächsangebote von Führungskräften ablehnt, schneidet sich letztlich ins eigene Fleisch.

Führung mit Neugier und Empathie

Damit dies gelingt, brauchen Führungskräfte der Zukunft eine fragende, neugierige Haltung mit viel Vorstellungsvermögen für das, was sie nicht direkt wahrnehmen. Um dies zu gewährleisten, können verschiedene Hilfsmittel sinnvoll sein:

  • Ein monatlicher Aktionstag hilft dabei, die Mitarbeiter*innen auch live und in Aktion miteinander zu sehen. Damit ist kein Ausflug o.ä. gemeint, sondern ein gemeinsamer Arbeitstag. Denn in der Arbeit zusammen lassen sich soziale Kriterien am besten beobachten.
  • Auf einer Kontaktliste wird verzeichnet, wen ich wann zum letzten mal gesehen oder gesprochen habe, um den Kontakt nicht zu lange abreißen zu lassen und zumindest einmal wieder zu telefonieren.
  • Kritische Punkte der Leistungsbeurteilung sollten nicht einmal im Jahr angesprochen werden. Dann ist es zu spät. Sondern regelmäßig abgefragt werden. In einer Führung auf Distanz wird zwar die Ergebnisorientierung als Nonplusultra propagiert. Für eine umfassende Leistungsbeurteilung reicht dies allerings nicht aus.

Letztlich kommen Führungskräfte nicht umhin, sich freundlich-neugierig, aber intensiver als bislang mit der Welt der Mitarbeiterinnen auseinander zu setzen. Sie müssen noch mehr als bislang einschätzen können, wer introvertiert oder extravertiert ist und welche Konsequenzen sich aus der privaten Situation ergeben (alleinerziehend, Baby, Schulkinder, kleine Wohnung). Diese Neugier sollte jedoch keine Kontrolle nach sich ziehen, sondern wohlwollend-erkundigend sein, da Führungskräfte ihre Mitarbeiterinnen auch in der Zukunft nicht nur einschätzen, sondern auch ihren Weiterbildungsbedarf erfassen können müssen (Beispiele: Selbst-, Konfliktmanagement oder Medienkompetenz). Zudem brauchen sie Informationen, um Entscheidungen bezüglich ihrer Mitarbeiter*innen gegenüber diesen, aber auch nach oben zu vertreten.

Eine Leistungsbeurteilung auf Distanz wird folglich komplizierter, verlangt einer Führungskraft einiges an Einfühlungsvermögen ab und erfordert von Mitarbeiter*innen mehr Offenheit. Sollten sich beide Parteien auf die neue Situation einlassen, ist es jedoch weniger dramatisch wie es im ersten Moment aussieht.

Mehr Führung wagen

Wir leben in einer Zeit, in der Selbstständigkeit und Beteiligung als hohe Werte gelten. Sowohl in der Arbeit als auch privat. Wir erledigen unsere Bankgeschäfte selbst, sollen uns eine fundierte Meinung bilden (am besten zu allem) und uns in Diskussionen einbringen, im Homeoffice eigene Entscheidungen treffen und uns in Teamprozesse partizipativ einbringen.

Soweit so gut. New Work ist eine feine Sache. Es macht ja die Menschen durchaus glücklich und zufrieden, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden, selbst- und mitbestimmen dürfen. Vermutlich will kaum jemand von uns zu einer Führung nach Gutherren-Manier zurück.

Kann es jedoch sein, dass die ständige Selbst- und Mitbestimmung viele Menschen nach einer anfänglichen Euphorie überfordert?

Kann es sein, dass die Überindividualisierung unserer westlichen Welt im Homeoffice viele Mitarbeiter*innen zunehmend vereinzelt und sie sich sehnlichst ein soziales Auffangbecken wünschen, in dem sie für kritische Entscheidungen nicht selbst verantwortlich sind?

Kann es sein, dass sich im Zuge krisenhafter Bedingungen (hohe Fluktuation, Krankheitswellen, strukturelle Dauerunterbesetzung, private soziale Belastungen, etc.) viele Mitarbeiter*innen weitaus weniger Partizipation und Selbstbestimmung wünschen, sondern stattdessen wieder mehr Regeln, vorgegebene Dienstpläne und klare Verhaltensanweisungen?

Brauchen wir folglich gerade in Krisenzeiten wieder eine deutlichere Führung, die ihren Mitarbeiter*innen einen Krisenplan vorgibt, in dem beschrieben wird, dass es in Notfällen nur noch um ein Überleben im weitesten Sinn geht, indem weniger dringende Projekte verschoben werden, eine 80%-Leistung nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist, Meetingzeiten reduziert werden, usw.?

Aus meiner Erfahrung ist es genau das, was sich überforderte Mitarbeiter*innen in Krisenzeiten wünschen und erhoffen, sich jedoch selten auszusprechen trauen, weil es nicht dem Zeitgeist entspricht.

Ein New Work Manifest auf der Basis einer positiven Führung

  1. Konzentration auf das Wesentliche: Fallen Sie nicht auf Effekthascherei oder Kosmetik herein. Sie helfen Ihren Mitarbeiter:innen nicht, indem Sie alles bunt und neu gestalten, sondern eher damit, ihnen Bedürfnisse zu erfüllen, die ihnen wirklich wichtig sind. Dies kann mit der Lebensbalance der Mitarbeiter:innen zu tun haben oder in eine lebensphasenorientierte Personalpolitik (externer Link!) eingebettet sein.
  2. Prävention statt Reparatur: Setzen Sie die Präventionsbrille auf. Während sachliche Zwänge uns zwingen, in kurzfristigen Zusammenhängen zu denken, wirkt sich die Belastung der Mitarbeiter:innen und damit Ausfälle wegen psychischen oder physischen Krankheiten langfristig aus und gerät daher leicht aus dem Blick. Eine positive Atmosphäre im Unternehmen schafft hier Abhilfe.
  3. Emotionale Kompetenz: Eine positive Haltung einzunehmen bedeutet nicht, negative Gefühle zu unterdrücken. Auf der Basis einer positiven Stimmung lässt sich jedoch Kritik leichter äußern als auf der Grundlage einer dauerhaft angespannten Stimmung.
  4. Jeder Mensch ist einzigartig: Jeder Mensch besitzt einzigartige Talente, die es zu entdecken und einzusetzen gilt. Eine moderne Führungskraft darf sich gerne als Talentscout fühlen, um sich gemeinsam mit den Mitarbeiter:innen auf die Suche nach diesen schlummernden Talenten zu machen und alles dafür zu tun, um möglichst viele Potentiale freizusetzen. Dafür ist eine neugierige, fragende Führungshaltung hilfreich.
  5. Führung und Zusammenarbeit: Ob im Großraumbüro oder im Homeoffice: Während Führungskräfte ihre Rolle aufgrund der veränderten Bedingungen neu definieren müssen, sind auch Mitarbeiter:innen gezwungen, ihre Mitarbeit zu überdenken. Führung, beispielsweise in der Gesundheitsfürsorge, wird nach wie vor Bestand haben. Alte Hierarchien weichen jedoch einer neuen Zusammenarbeit. Um dahin zu kommen, ist es wichtig, das Selbstwertgefühl und den möglichen Einfluss der Mitarbeiter:innen zu klären.
  6. Prozesse steuern mittels Feedback: Die Führungskraft der Zukunft ist mehr Beobachter und spontaner Feedbackgeber als langfristiger Planer. Als Coach begleitet sie ihre Mitarbeiter:innen und gibt ihnen Impulse, um sich zu verbessern und weiterzuentwickeln.
  7. Das Beziehungskonto: Eine Beziehung lebt von gemeinsamen Erfahrungen. Sind diese weitgehend positiv und durch Wertschätzung, Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Respekt geprägt, entsteht eine tragfähige Bindung, auf deren Basis sich auch Kritik leichter äußern lässt als auf der Basis von Skepsis und Misstrauen.
  8. Der Entropie entgegen wirken: Beziehungen und Bindungen zerfallen von alleine. Vertrauen ist schneller verloren als es gewonnen wird. Dies gilt für Kund:innen ebenso wie für Kolleg:innen. Die Etablierung einer Vertrauens- und Wertschätzungskultur ist daher mit einem hohen Aufwand verbunden. Wir können dies als das Prinzip der Roten Königin aus Alice im Wunderland bezeichnen. Die Rote Königin muss sich bewegen, um wenigstens auf der Stelle zu stehen.
  9. Respektvolle Autonomie: Mitarbeiter:innen zu helfen ist unlauter, wenn sie dadurch abhängig werden. Das oberste Prinzip einer Führungskraft als Coach sollte immer „Hilfe zur Selbsthilfe“ lauten. Dabei bestimmen Mitarbeiter:innen selbst, wie viel Hilfe sie benötigen und bleiben damit trotz Unterstützung autonom.
  10. Fehler als zentraler Aspekt unserer Menschlichkeit: Ein Unternehmen, das sich New Work und eine positive Führung auf die Fahnen schreibt, kommt am eigenen Umgang mit Fehlern nicht vorbei. Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass das Grundprinzip des Menschen nicht Perfektionismus ist – dafür sind Algorithmen zuständig – sondern Fehlbarkeit. Dies fing bereits in der Bibel an, als Adam von der verbotenen Frucht naschte, erst am Apfelbaum und später an Eva. Diese (Fehl-) Entscheidung führte jedoch zum Ausgang des Menschen aus seiner ursprünglichen Mündigkeit. Auch heute noch mögen Algorithmen zwar perfekt funktionieren, der Mensch jedoch entdeckt mit Hilfe vermeintlicher Fehler neue Welten, von denen er nicht einmal wusste, dass es sie gibt.
  11. Die Dankbarkeitsbrille: Dankbarkeit ist eines der mächtigsten Instrumente der Führung und Zusammenarbeit. Gleichzeitig geht die Dankbarkeit in der Hektik des Arbeitsalltags oftmals unter. Es scheint manchen Führungskräften peinlich zu sein, ihre Dankbarkeit zu äußern und erinnert sie vielleicht auch an ihre eigene Fehlbarkeit. Dabei wirkt eine Dankbarkeitsbrille wie ein Optimismusfilter: Ich sehe die Dinge, die funktionieren und für die ich dankbar sein darf und nicht nur die, die mich ärgern. Für die Mitarbeiter:innen ist eine geäußerte Dankbarkeit meist ebenso ungewohnt und daher umso mächtiger als Bindungskitt.

Diese 11 Punkte eines Manifests für eine New Work Kultur auf der Basis einer positiven Führung finden Sie ausführlicher in meinem Buch (externer Link) „Mit einer positiven Führung die Mitarbeiterbindung fördern entnommen.