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Brauchen wir Religion, um moralisch gut zu sein?

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Ein Team um den kanadischen Psychologen Ara Norenzayan testete anhand von Priming-Experimenten die unbewusste Wirkung religiöser Begriffe auf die Entscheidungen einer Gruppe von Menschen, von denen lediglich 50% behaupteten, religiös zu sein (nachzulesen in Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die 10 Gebote, Klett-Cotta, 2015, S. 294ff).

Während der eine Teil der Versuchspersonen einen Text bearbeitete, in dem Wörter wie „Gott“, „göttlich“ oder „Prophet “ vorkamen, fehlten solche Begriffe bei der Kontrollgruppe (das klassische Priming-Setting). Anschließend wurden 10 Ein-Dollar-Münzen auf den Tisch gelegt, von denen die Proband*innen für sich nehmen konnten wieviel sie wollten. Was sie jedoch nicht nahmen, bekam ihr/e Nachfolger/in.

Das Ergebnis war beeindruckend: Während in der Gottes-Gruppe im Durchschnitt 4,22 $ zurückblieben, waren es in der nichtgebahnten Gruppe lediglich 1,84 $.

Vermutlich dachte die Gottes-Gruppe an einen unsichtbaren Gott, der über ihre Taten richtet, was sie zu altruistischeren Handlungen verleitete. Eine solche Sichtweise deckt sich mit der geschichtlichen Entstehung von Religionen zu einem Zeitpunkt, an dem Gemeinschaften so groß wurden, dass direkte Verbindungen nicht mehr so einfach möglich waren. Da Herrscher nicht jede Fehltat kontrollieren lassen konnten, brauchte es eine unsichtbare Kraft, um Recht, Ordnung und Moral auch ohne staatliche Sanktionen aufrecht zu erhalten.

In einer weiteren Studie tauschten sie die Gottes-Begriffe gegen Begriffe wie „gutbürgerlich“, „Staatsbürger“, „Geschworene“ und „Gericht“ aus. Der Effekt war derselbe wie bei den Gottes-Begriffen.

Das simple Fazit daraus lautet: Religionen erfüllen durchaus ihren Sinn in einer Gesellschaft, weil sie uns dabei helfen, uns moralisch gut zu verhalten. Sollten Religionen jedoch in mehr und mehr sakularisierten Gesellschaften abgeschafft werden, braucht es die gesellschaftliche Akzeptanz anderer Instanzen, um das Bewusstsein für eine ordnende Kraft zu fördern, damit wir nicht allzu egoistisch verhalten und gut miteinander umgehen.

Die bewusste und die unbewusste Moral

Oder: Der Mensch als empathisches Wesen

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Woher kommt unsere Moral? Durch äußere Regeln, die wir gelernt haben, um uns daran zu halten? Oder aufgrund innerer, emotionaler Impulse?

Große Aufklärer wie Immanuel Kant gingen paradoxerweise ähnlich wie Religionen, von denen sie sich abgrenzen wollten, von einer äußeren Macht aus: Der Mensch ist im Grunde schlecht und braucht einen moralischen Codex der Gesellschaft, um seine Triebe zu beherrschen.

Biologen wie Frans de Waal gehen von einem inneren Impuls aus, der uns als Menschen empathisch macht. Diese Empathie hat freilich auch ein Ziel: Wer sich allzu oft daneben benimmt, bekommt keine/n Partner/i und kann sich nicht fortpflanzen oder überlebt nicht ohne Kolleg*innen unter schwierigen Bedingungen. Wir leben zwar trotz Krieg in der Nachbarschaft verglichen mit der Vergangenheit in der sichersten aller Zeiten. Dennoch stecken in unserem genetischen Erbe die Grundlagen eines biologischen, unbewussten Moralverhaltens, das noch aus unsicheren Zeiten stammt.

Dieses Moralverhalten lässt sich anhand unserer Emotionen verdeutlichen:

  • Ekel und Verachtung: Ekel und Verachtung fallen uns vermutlich als erstes ein, wenn wir an moralische Emotionen denken. Der Ekel bezieht sich mehr auf die Handlungen und das Verhalten anderer, bspw. bezogen auf Sauberkeit und Hygiene. Verachtung geht tiefer und bezieht sich mehr auf das Wesen meines Gegenübers: „Warum macht der nicht mehr aus sich? Warum lässt die sich so gehen?“ Während ein ekelerregendes Verhalten lediglich mein Auge beleidigt, kann ein verachtenswertes Wesen die Gemeinschaft schädigen, indem es sich auf Kosten anderer egoistisch bereichert.
  • Angst: Wer einen Fehler macht, kann Angst vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft haben, von der er langfristig abhängig ist.
  • Wut: Der Ärger hat entweder den Sinn, die eigene Angst und Trauer zu verdecken, weil diese schmerzhafter sind als Wut. Oder die Wut richtet sich gegen Abweichler*innen einer sozialen Norm.
  • Trauer, Enttäuschung, Scham und Schuld: Wenn wir etwas falsch gemacht haben, werden manche von uns rot im Gesicht. Der Mensch ist das einzige Wesen mit dieser Eigenschaft. Die Röte lässt sich als offenes Schuldeingeständnis deuten, um die Situation wieder zu bereinigen. Oder wird machen uns klein und verbergen unser Gesicht hinter unseren Händen. Diese emotionalen Haltungen und Gesten lassen sich körpersprachlich unter das Gefühl der Trauer und Enttäuschung subsumieren. Wer gegen einen moralischen Codex verstieß, ist traurig darüber, dass andere wegen ihm leiden mussten und oft auch enttäuscht von sich selbst.
  • Positive Emotionen: Emotionen rund um den Komplex der Freude (Begeisterung, Erleichterung, Euphorie, usw.) kommen entweder auf, wenn ein gemeinsames Ziel erreicht wurde oder eine schwierige Situation – ein Problem oder ein Konflikt – gelöst wurden.

Warum brauchen wir dennoch eine äußere Moral durch Gesetze, Verbote oder religiöse Gebote, wenn doch unser biologisches Gerüst dies im Grunde unnötig macht?

Wer in einer kleinen Gruppe lebt, weiß intuitiv, was er sich erlauben kann und was nicht. Die Abhängigkeiten von Nahrung und sozialer Unterstützung sind klar. Je größer Gruppen jedoch werden, desto unpersönlicher werden die Beziehungen. Die Unabhängigkeiten nehmen zu. Man könnte sich ja potentiell im Internet neue Freunde suchen. Die Reproduktion wird im Zuge der Überbevölkerung ohnehin von einigen Menschen in Frage gestellt. Und von einer bestimmten Nahrungskette sind wir schon lange nicht mehr abhängig. Ein „künstlicher“ Moral-Codex, der in einer kleinen Gemeinschaft meist nur bedingt notwendig ist, ist daher in einer großen Gesellschaft unumgänglich.

Und dennoch macht es einen Unterschied, ob wir davon ausgehen, dass der Mensch im Kern schlecht ist und daher moralisch erzogen werden muss – paradoxerweise von Eltern und Politiker*innen, die im Grunde auch schlecht sind. Wo soll das nur enden?

Oder ob wir davon ausgehen, dass der Mensch einen guten, emotional-empathischen Kern hat, der nach Kooperationen strebt, um diesem zusätzlich eine moralische Stütze von außen mitzugeben.

Sich selbst zuhören

Was macht einen mündigen Menschen aus?

Der Philosoph und Manager Michael Andrick (sein Buch heisst “Erfolgsleere”) schreibt, ein wirklich moralischer Mensch steht beständig in einem Monolog mit sich selbst. Er hält den Konformitätsdruck des Zeitgeistes aus, weil er vor einem Dialog mit der Welt erst einen Monolog mit sich selbst hält. Er gleicht seine Wahrnehmung mit seinen Erfahrungen und Wertevorstellungen ab, anstatt als Konformist mit der Meinung der Masse mitzugehen. Nur dieses regelmäßige Nachdenken über die eigenen Werte und das eigene Verhalten ermöglicht später eine echte Begegnung zwischen Menschen. Andernfalls würden sich Funktionäre miteinander unterhalten, was zu beobachten ist, wenn sich nach Beendigung der Funktion, bspw. nach Dienstschluss, keine spannenden Gespräche mehr ergeben. Die Unterhaltungen drehen sich dann um günstige Stromanbieter oder das allgemeine Schimpfen auf die Unpünktlichkeit von Handwerkern und das Finanzamt oder ein Rezitieren von Floskeln des allgemeinen Zeitgeistes – oder auch des Gegenzeitgeistes. Der (moralische) Mensch dahinter ist jedoch nicht zu entdecken.

Dabei ist Konformität eine äußerst anstrengende Angelegenheit, da ein konformer Mensch beständig die Erwartungen anderer antizipieren muss.

Es geht jedoch nicht um ein Rebellieren um jeden Preis, sondern um ein stetiges Hinterfragen der eigenen Umstände, um sich klar zu positionieren, wo ich mitgehen kann und will und wo ich es anders sehe als der Mainstream. Erst dieses Anders-Denken schafft Räume für Innovationen. Wer schweigt oder lediglich mitmacht, unterstützt das Vorhandene. Wer aneckt, schafft sich vermeintliche Feinde und wird bisweilen als Nestbeschmutzer verurteilt, indem er kritische Fragen stellt, sorgt jedoch auch für Bewegung hin zu einem besseren Leben oder in beruflicher Hinsicht zu einer besseren Zusammenarbeit.

Der Kern dieses besseren Lebens oder der besseren Zusammenarbeit sollte jedoch – wie erwähnt – nicht Kritik um der Kritik Willen sein, sondern um ein kritisches Hinterfragen von Umständen, die sich verbessern lassen. Natürlich sollte dazu geklärt werden, was besser bedeutet: Zufriedener? Respektvoller? Auf Augenhöhe? Mit weniger Stress und Konflikten? Fehlerfreier? Kreativer? Oder vorausschauender?

Die Grundlage eines solchen Dialogs sollte ein innerer Monolog sein. Es reicht also nicht, sich anstatt am aktuellen Zeitgeist an einem wohlfeilen Gegenzeitgeist zu orientieren. Auch dieser sollte kritisch hinterfragt werden. Ein echter Monolog ist – insbesondere im Gegensatz zu Diskussionen in digitalen Medien – immer komplex und niemals schwarz-weiß. Es gibt daher zu jedem Verhalten und jeder Meinung mindestens ein Argument dafür und eines dagegen. Der Weg aus diesem Dilemma, um dennoch handlungsfähig zu bleiben, ist der tiefere Bezug zu den eigenen Werten.

Die 7 Todsünden

Verkürzt ließe sich sagen: Mache ich etwas aus Liebe oder aus einer oder mehreren der sieben Todsünden (siehe auch https://www.m-huebler.de/die-sieben-todsuenden-im-bueroalltag):

  • Mache ich etwas, weil es meinem Ego schmeichelt und ich damit Karriere machen kann?
  • Mache ich es, um mich zu bereichern?
  • Will ich lediglich ein geruhsames, genussvolles Leben führen und “stressfrei durchkommen”?
  • Handle ich aus Wut und will es anderen (endlich) heimzahlen?
  • Habe ich jedes Maß verloren und will mehr und mehr, ohne zu wissen, wofür?
  • Bin ich eifersüchtig und neidisch auf andere und missgönne jemandem sein Leben?
  • Oder bin ich zu träge und ängstlich, um mit mir in einen inneren Monolog zu treten und dort evtl. persönliche Wahrheiten zu erkennen, die mein Leben unbequemer machen könnten?

Einer meiner Standardsprüche in meinen Achtsamkeitstrainings lautet:

Vorsicht! Achtsamkeit ist gefährlich! Wer in sich hinein horcht und dort etwas entdeckt, das mit dem aktuellen, eigenen Leben nicht deckungsgleich ist, könnte Schwierigkeiten dabei haben, so weiterzumachen wie bisher.

Die 6 Räume des Selbstzuhörens

Vor kurzem beschrieb ich mit den 5 Räumen des Zuhörens (https://www.m-huebler.de/die-5-raeume-des-zuhoerens) eine bildhafte Anleitung für tiefer gehende und damit wirklich unterstützende Gespräche und Begegnungen:

  1. Einordnung (Haustür): Um was geht es, damit ich es einordnen kann? Kenn’ ich. Erinnert mich an …
  2. Faktisches Zuhören (Arbeitszimmer): Was genau hast du gemacht? Was hat funktioniert? Was nicht? Auf der Basis welchen Wissens?
  3. Empathisches Zuhören (Wohnzimmer): Wie ging es dir damit? Was an der Situation ist für dich besonders … (anstrengend, belastend, herausfordernd, spannend, unverständlich, …)?
  4. Zukunftsorientiertes Zuhören (Balkon mit Fernblick): Was sollte passieren? Wann würde es dir besser gehen? Wann wärst du zufrieden / stolz / erleichtert? Wann hättest du das Gefühl, das die Situation gelöst wäre?
  5. Verbindendes Zuhören (Küche): Was würde dir helfen? Was erwartest du von mir? Wie kann ich dich unterstützen?

Ich gestehe, dass auch mir als vermeintlichem Kommunikationsprofi die 5 Räume selbst helfen, wenn ich in einem Gespräch bin. Ich stelle mir dann oft die Frage, ob es in diesem Fall ausreicht, mit meinem Gegenüber lediglich ins Arbeitszimmer zu gehen oder ob ich ihn oder sie nicht doch ins Wohnzimmer bitten soll. Manchmal, wenn die Beziehung bereits sehr tragend ist und ich mein Gegenüber gut kenne, überspringe ich das Wohnzimmer und gehe gleich auf den Balkon.

Diese 5 Räume lassen sich auch – entsprechend dem Einstieg mit Michael Andrick – monologisch einsetzen, wobei ich einen weiteren Raum hinzufüge:

  1. Einordnung der Situation (Haustür): Um was geht es hier? Erinnert mich das an etwas, das ich kenne?
  2. Faktisches Selbstzuhören (Arbeitszimmer): Was habe ich bereits unternommen, um ein Problem zu lösen? Was hat funktioniert? Was nicht? Auf der Basis welchen Wissens und welcher Erfahrungen und Erkenntnisse?
  3. Empathisches Selbstzuhören (Wohnzimmer): Wie ging es mir damit? Was an der Situation ist für mich besonders … (anstrengend, belastend, herausfordernd, spannend, unverständlich, …)?
  4. Moralisches Selbstzuhören (Dachboden, Garten oder Spaziergang): Was ist mir wichtig im Leben (und in der Arbeit)? Wann kann ich mir selbst mit Achtung im Spiegel begegnen? Wann gehe ich mit dem Zeitgeist mit, weil ich Angst vor Stress und Konflikten habe? Wann gehe ich mit dem Zeitgeist mit, weil ich es als sinnvoll erachte?
  5. Zukunftsorientiertes Selbstzuhören (Balkon mit Fernblick): Was sollte passieren für ein besseres Leben, eine bessere Zusammenarbeit, eine Lösung des Problems, …? Was sollte ich tun, damit ich mit mir selbst im Reinen bin? Wann wäre ich zufrieden / stolz / erleichtert? Wann hätte ich das Gefühl, dass die Situation gelöst wäre?
  6. Verbindendes Selbstzuhören (Küche): Was erwarte ich von anderen? Wer könnte mich auf welche Weise unterstützen? Wie könnte ich um eine Unterstützung werben? Was würde ich gerne mit anderen unternehmen?

Und nun wünsche ich Ihnen gute Erkennnisse bei Ihren künftigen inneren Monologen.

Moralische Dimensionen in Konflikten

Der Moralpsychologe Jonathan Haidt schreibt auf seiner Webseite: „Wir sind nicht gut darin, offen über moralische Fragen nachzudenken, so dass rationalistische Modelle letztlich schlechte Beschreibungen der tatsächlichen moralischen Psychologie sind.”

Haidt nutzt die Metapher des Elefantenreiters, um zu erklären, warum es so schwer ist, über Moral zu diskutieren. Die Metapher beschreibt, wie unser Unbewusstes unser bewusstes Denken lenkt. Unser Geist ist in Teile untergliedert, die manchmal in Konflikt geraten. Der Reiter auf dem Rücken eines Elefanten hat als bewusster Teil nur eine begrenzte Kontrolle darüber, was sein Elefant tut. In vielen Fällen ist der Reiter seinem Elefanten geradezu ausgeliefert, bietet jedoch im Nachhinein Post-hoc-Erklärungen für das, was der Elefant getan hat, sucht nach Gründen, um diese zu rechtfertigen und agiert damit wie ein Anwalt oder Pressesprecher.1

Zumindest für unser Denken gilt also der Spruch von Pipi Langstrumpf: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.

Der Elefant erinnert an Platons Wagenlenker oder Sigmund Freuds Über-Ich. Auch dieses wurde uns im Laufe unserer Sozialisation vermittelt und wanderte schließlich in unser Unbewusstes. In früheren Zeiten galt das Unbewusste jedoch eher als etwas Böses, dass entweder unterdrückt oder aufgearbeitet werden sollte. Durch die Erkenntnisse aus der Gehirnforschung wissen wir jedoch, wie klug unser Unbewusstes uns durch das Leben leitet. Während man sich als Führungstrainer vor 15 Jahren noch den Mund auswaschen musste, wenn man das Wort Intuition in den Mund nahm, gilt es mittlerweile als Führungskunst, auf sein Bauchgefühl zu hören.

Haidt erklärt mit Hilfe der Moralpsychologie, wie politische Spaltungen zwischen Demokraten und Republikanern in den USA funktionieren. Jede dieser Welten bietet eine vollständige und emotional überzeugende Weltanschauung, die durch beobachtbare Beweise gerechtfertigt und nahezu uneinnehmbar ist, um durch Argumente von Außenstehenden angegriffen zu werden. Haidt sagt dazu: Moral sorgt einerseits dafür, dass wir uns einer Gemeinschaft verbunden fühlen. Gleichzeitig macht sie uns blind. Haidt nutzt dazu eine weitere Metapher. Er meint, wie wären zu 90 Prozent Schimpansen und zu 10 Prozent Bienen: Wir sind von Natur aus egoistisch, besitzen jedoch die Fähigkeit, unsere eigenen Interessen im Wettbewerb mit anderen zu fördern oder mittels Kooperationen mehr zu erreichen als alleine.2

Moralisches Urteilen ist also kein rein logischer Prozess, in dem wir Bedenken hinsichtlich möglichen Schäden, Rechten oder Gerechtigkeit abwägen, sondern ein schneller, automatischer Prozess, der eher den Urteilen ähnelt, die Tiere treffen, wenn sie sich wendig durch die Natur bewegen. Das moralische Urteil ist die Domäne des Elefanten. Wenn Sie versuchen, jemandes Meinung zu ändern, sollten Sie mit dem Elefanten sprechen und nicht mit dem Reiter.3

Seine Überlegungen gelten zwar zuerst einmal für die Politik, insbesondere die Dualität in den USA. Sie lassen sich jedoch wunderbar auf andere duale Konflikte wie beispielsweise in der Corona-Krise übertragen. Haidt beschreibt diese Weltanschauungen als moralische Matrizen, die uns helfen, zu verstehen, warum manche Menschen alles aggressiv abwehren, was ihr Weltbild infrage stellt.

Er geht von sechs universellen moralischen Modulen aus, die in unterschiedlichem Maße über Kultur und Zeit hinweg aufgebaut werden:4

  1. Fürsorge vs. Schaden: Diese moralische Basisgrundlage hängen mit unserer langen Entwicklung als Säugetiere mit Bindungssystemen und der Fähigkeit zu Empathie zusammen. Zugrunde liegende Tugenden lauten Güte, Geduld, Sanftmut und Fürsorge.
  2. Fairness vs. Betrug: Diese moralische Weltsicht bezieht sich auf den Evolutionsprozess des wechselseitigen Altruismus. Zugrunde liegende Tugenden lauten Gleichheit, Gerechtigkeit und die autonome Gestaltung eines guten Lebens.
  3. Loyalität vs. Verrat: Diese Grundlage hängt mit unserer Ur-Geschichte als Stammeswesen zusammen, die in der Lage sind, wechselnde Koalitionen zu bilden. Zugrunde liegende Tugenden lauten Patriotismus und einseitiger Altruismus. Wer sich in diesem System befindet geht nach dem Musketierslogan aus: Einer für alle und alle für einen!
  4. Autorität vs. Subversion: Diese moralische Grundlage wurde durch unsere lange Primatengeschichte hierarchischer sozialer Interaktionen geprägt. Die zugrunde liegenden Tugenden lauten Führung und Gefolgschaft, Respekt gegenüber Autoritäten, Orientierung an Experten und Traditionen.
  5. Heiligkeit vs. Erniedrigung: Diese Grundlage wurde von der Psychologie der Entwicklung von Ekels und der „Sauber-Werdung“ geprägt. Wichtig sind dabei die kulturellen und religiösen Ideen einer erhöhten, weniger fleischlichen, zivilisierten Art zu leben. Der Mensch sollte sich nicht von seinen Instinkten leiten lassen. Der Körper ist ein Tempel, der nicht durch unmoralische Gedanken und Aktivitäten entweiht werden sollte. Die zugrunde liegenden Tugenden sind ein guter Zugang zum eigenen Körper, der Gesundheit und den eigenen Bedürfnissen bzw. den Bedürfnissen anderer Menschen.
  6. Freiheit vs. Unterdrückung: In dieser moralischen Basisdimension geht es um die Gefühle der Reaktanz gegenüber der Beschränkung persönlicher Freiheitsrechte. Der Impuls zur Gegenwehr kann darauf fußen, sich selbst zu verteidigen oder andere in Schutz zu nehmen, die gemobbt werden bzw. sich gegen Unterdrücker zu widersetzen. Zugrunde liegende Tugenden sind ein gutes Gespür für Unterdrückung und die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, wenn es schwierig wird.

Ordnen wir die sechs moralischen Dimensionen in eine politische Links-Rechts-Matrix ein, ergeben vier große Gruppen:

Kollektiv LinksKollektiv Rechts
Fürsorge: Den Schwachen muss geholfen werden. Schädigung: Wer Hilfsbedürftige durch sein Verhalten bedroht, muss bestraft werden. Fairness: Alle sollten das gleiche Recht auf gesellschaftliche Anteilnahme und Ressourcen haben. Betrug: Trittbrettfahrer müssen bestraft werden.Loyalität: Verhalte dich loyal zu jemandem, der dich schützt. Bilde Koalitionen, damit die Ordnung gewahrt bleibt. Verrat: Wir gegen die anderen. Autorität: Vertraue Experten und Autoritäten. Subversion / Umsturz: Mächtige sollten in Koalitionen eingebunden werden, um deren Macht zu bändigen.
Individuell LinksIndividuell Rechts
Freiheit / Unabhängigkeit: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Niemand wird zu seinem Glück gezwungen. Unterdrückung: Angst vor einem Kontrollstaat oder der Entmündigung des eigenen Lebens mittels Algorithmen.Heiligkeit: Ich kümmere mich um meinen Körper und meine Gesundheit selbst. Entweihung: Ich habe ein Recht auf die Unverletzlichkeit meines Körpers, meiner Wohnung oder meiner Religion.

Auch wenn niemand in einem der vier Kästen dauerhaft zu verorten ist und es stetige situative Wechsel gibt, lassen sich damit die Grundlagen von Konflikten gut erklären, insbesondere wenn besonders aggressiv gekämpft wird.

Haidt vergleicht die sechs moralischen Dimensionen mit einer Küche. Die Gewürze und Zutaten müssen vorhanden sein. Gleichzeitig bringt jede Küche genauso wie jeder Koch eine Geschichte mit. Welche Erfahrungen sind bereits vorhanden? Ist die Küche eingefahren Deutsch? Oder wird stetig etwas Neues ausprobiert? Die Küche bringt genau wie ein Land, eine Partei, ein Unternehmen, ein Team, eine Familie oder ein Paar bereits eine Kultur mit. Doch auch, wenn alle Rezepte, Gewürze und Zutaten der Welt vorhanden sind, müssen diese auch genutzt werden.5

Es geht also darum, sich sowohl den eigenen Elefanten als auch in Konflikten das Verhältnis zwischen Schimpanse und Biene bewusst zu machen und stetig auf der Suche nach den 10% Verbindungen zu sein, die mir wiederum helfen, mein 90% Schimpansen-Leben zu ermöglichen.

1Vgl. https://fee.org/articles/escape-the-moral-matrix-with-the-red-pill-of-intellectual-diversity

2Vgl. https://blogs.scientificamerican.com/guest-blog/jonathan-haidt-the-moral-matrix-breaking-out-of-our-righteous-minds

3Vgl. https://fee.org/articles/escape-the-moral-matrix-with-the-red-pill-of-intellectual-diversity

4Vgl. https://moralfoundations.org

5Vgl. https://blogs.scientificamerican.com/guest-blog/jonathan-haidt-the-moral-matrix-breaking-out-of-our-righteous-minds

Die Wahren, Guten und Schönen Fakten

Auf Platon geht unser Wahres, Gutes und Schönes zurück. Das Wahre ist die Wissenschaft. Hier geht es um die Wahrheit, um objektiv überprüfbare Fakten. Das Schöne betrifft unser individuelles Empfinden insbesondere für Kunst und Kultur. Das Gute jedoch, für Platon das wichtigste Element unter den Dreien, betrifft die Idee eines identitätsstiftenden, einigenden Wir-Gefühls über Religion, Ethik, Moral und Wertvorstellungen.

Platons Ideenlehre geht davon aus, dass sich aus einer allumfassenden, göttlichen Idee, dem Guten, das mannigfaltig Erfahrbare entwickelt, die anfassbare Wissenschaft und bewundernswerte Kunst. Moralvorstellungen oder Gesetze sind in dem Sinne nicht erfahrbar und damit auch kaum bewertbar. Es bleiben Ideen, auf die wir uns gemeinsam einigen. Sie sind nicht schön oder wahr, sondern einfach gut. Was also ist das Gute im Menschen?

Zu Platons Zeiten gab es noch keine Gehirnforschung. Heute wissen wir (das Wahre), dass wir zum Helfen geboren sind. Es gibt genügend Studien von Neurowissenschaftlern wie Bauer, Tomasello, Hüther oder Singer, die belegen, dass wir uns in Krisenzeiten verteidigen, jedoch in normalen Zeiten unsere Gene auf Kooperation ausgerichtet sind. In unserer medialen Welt scheint es jedoch auszureichen, Krisen auf der populistischen Klaviatur herauf zu beschwören, die Katastrophen, die Flutwellen, das Chaos, ohne, dass es dieser Krisen in der wahren Welt bedürfe, die in diesem Moment alles andere als wahr ist.

Was passiert jedoch, wenn wir uns als Menschen immer mehr auf der empirischen Oberfläche des (scheinbar) Wahren und Schönen tummeln? Wir wischen, scrollen, zappen und shoppen uns durchs Leben. Wir konsumieren Kunst als wäre es Fast Food. Unbequem-politische Kabarettisten haben es schwer zwischen Jokes-per-Minute-Zählern und öffentlich-rechtlicher Zensur. Wo bleibt da noch Raum für die Idee des alle Menschen (was bei den Griechen zugegebenermaßen ein paar weniger waren) verbindenden Guten? Und was passiert, wenn immer weniger Menschen in die Kirche gehen, und weder Eltern noch Lehrer nur selten in die moralisch-wertige Erziehungsbresche springen?

Das Wahre zeigte uns, wie das Gute aussieht. Doch ohne die Idee des Guten bleibt es leider bei alternativen Fakten. Nur, weil ich die Wahrheit kenne, muss ich noch lange nicht danach handeln (das müsste jetzt ein Zitat sein, leider habe ich den Namen des zu Zitierenden gerade nicht parat). Das Problem der Fake News lässt sich – mit Platon gedacht – nicht über das Wahre lösen, sondern nur über das Gute, über Moral, Ethik und Werte.

Und die Rolle des Schönen? Gute(!) Kulturveranstaltungen – auch die ehrwürdige Betriebsfeier – zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht sektieren, sondern Menschen mit altem, jungem, männlichem, weiblichem, reichem, armem, größerem und kleinerem Bildungs-Hintergrund zusammenbringen. Das Schöne könnte Brücken bauen. Könnte.