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Gruppenbildungsprozesse in Zeiten hoher Fluktuation

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Das Problem: Eine hohe Fluktuation verhindert die Teamentwicklung

Traditionelle Teambildungsprozesse gehen davon aus, dass Teams nacheinander bestimmte Phasen ablaufen. Das passt jedoch nicht mehr zu den aktuellen Herausforderungen, die eine hohe Fluktuation mit sich bringt.

Klassische Phasenkonzepte

Klassische Teambildungsprozesse gehen meist von einem Phasenplan aus, der mehr oder weniger stringent ablaufen sollte. Das gängigste Modell stammt von Bruce Tuckman mit den Phasen:

  1. Forming: Die Gruppe kommt zusammen.
  2. Storming: Einzelne in der Gruppe streiten sich um die Vormachtstellung.
  3. Norming: Regeln dämmen die größten Kämpfe ein.
  4. Performing: Die Gruppe ist arbeitsfähig.
  5. Re-Forming: Die Gruppe löst sich auf bzw. wird neu formiert.

Das Problem am Phasenmodell von Tuckman ist jedoch nicht nur der stringente Ansatz, sondern die Maxime, dass Gruppen erst dann arbeitsfähig sind, wenn sie die Stormingphase hinter sich gebracht haben. Ich hatte in meiner Mediations- und Teamentwicklungspraxis tatsächlich Teams, die sich auf einer oberflächlichen Ebene einig waren, jedoch kaum einen Sturm überstanden hätten. Doch solange alles in geregelten Bahnen ablief, waren sie durchaus arbeitsfähig. Damit verändern sich jedoch die Phasen in der Praxis:

  1. Forming: Die Gruppe kommt zusammen.
  2. Norming: Regeln dämmen die größten Kämpfe ein, bspw. mit Hilfe meines 4R-Konzepts, siehe unten.
  3. Performing: Die Gruppe ist arbeitsfähig.
  4. Storming: In Krisenzeiten kann es sinnvoll sein, die Stormingphase nachzuholen.
  5. Re-Forming: Es kann aber auch sein, dass die Gruppe sich zuvor bereits auflöste. Derzeit besteht insbesondere bei jüngeren Menschen ohnehin die Tendenz, sich bei aufkommenden Problemen umzuorientieren, v.a. weil der Markt aufgrund des Personalmangels einen Wechsel erleichtert.

Das weniger bekannte Konzept von Helga Belz kommt dem entgegen und präsentiert entsprechend einen individuelleren Ansatz:

  1. Orientierungsphase: Die Gruppe lernt sich kennen: Wer sind die anderen?
  2. Motivationsphase: Der persönliche Bezug jedes einzelnen Mitglieds wird hergestellt: Warum bin ich hier?
  3. Initiativphase: Das persönliche Engagement steht im Vordergrund: Was will ich hier erreichen?
  4. Konfrontationsphase: Die Gruppe wird mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Anliegen und Zielen konfrontiert: Widersprechen sich die jeweiligen Anliegen?
  5. Kooperationsphase: Die Gruppe realisiert, dass sie nur gemeinsam weiterkommt: Was müssen wir tun, damit wir gemeinsam arbeitsfähig sind?

Auch wenn hier die Kooperation ähnlich wie bei Tucker nach der Konfrontation stattfindet, wird zumindest das Individuum stärker betont.

Die Lösung: Team versus Arbeitsgruppe

Die Lösung des Problems der Teambildung besteht in einer klaren Abgrenzung zwischen Team und Arbeitsgruppe. Ein Team, bspw. ein Projektteam, ist abhängiger voneinander als eine Arbeitsgruppe. Ein Team arbeitet nicht nur fachlich zusammen, sondern braucht für gemeinsame kreative Prozesse das gegenseitige Vertrauen, offen und ehrlich mit Feedback umzugehen. Hier ist es unerlässlich, die Storming- oder Konfrontationsphase durchzumachen.

Für reine Arbeitsgruppen jedoch reichen drei Phasen der Zusammenarbeit aus:

  1. Motivationsphase: Was trägst du persönlich zum Unternehmenserfolg bei? Welche fachlichen Kompetenzen bringst du dafür mit? Welche Weiterbildungen strebst du an?
  2. Austauschphase: Was fehlt dir an Kompetenzen? Was erwartest du von anderen, um deine Fähigkeiten zu ergänzen?
  3. Kooperationsphase: Welche Richtlinien, Regeln, Rituale und Rollen (4R) helfen uns, um reibungsfrei zusammen zu arbeiten?

Das 4R-System: Richtlinien, Regeln, Rituale und Rollen

Gerade in einer hybriden Zusammenarbeit braucht die Zusammenarbeit eine klare Struktur. Mögliche Rollen in Meetings können sein:

Hilfreiche Richtlinien in der digitalen Welt:

  • Ergebnisse sind wichtiger als Wege.
  • Chatten zur Bindung ist erwünscht.
  • Rückrufe sollten innerhalb … stattfinden.
  • Onlinemeetings sollten max … Minuten dauern.
  • Sachliche Themen lassen sich effizient in Onlinemeetings besprechen. Für emotionale Themen braucht es Präsenzbesprechungen.
  • Die Einarbeitungszeit findet weitgehend in Präsenz statt.
  • Die Kamera sind in Onlinemeetings an. Ausnahme: Datenschutz

Hilfreiche Regeln in der digitalen Welt:

  • Vor jeder Entscheidung stelle ich mir die Frage, wer davon betroffen ist.
  • Unsere verbindliche Kernzeiten & Erreichbarkeiten lauten: …
  • Ich schalte das Telefon um, wenn ich im Homeoffice bin.
  • Missverständnisse werden frühzeitig in Präsenz oder per Telefon geklärt.
  • Wer krank ist, arbeitet auch nicht im Homeoffice.
  • Aufgabenbewältigung geht vor Homeoffice.
  • Nach 20 Uhr werden keine eMails mehr verschickt bzw. bearbeitet.
  • Wochenende ist Wochenende.

Hilfreiche Rituale in der digitalen Welt:

  • Regelmäßige Feedbackgespräche (Debriefings) zwischen Teamleitung und Mitarbeiter*innen zur Kontaktpflege
  • Monatliche verpflichtende Aktionstage
  • Regelmäßige (freiwillige) Teamevents
  • Regelmäßige Präsenzbesprechungen

Das Fazit

Viele Trainer- und Teamentwickler*innen hängen aus meiner Sicht noch der „reinen Lehre“ der Phasenmodelle an. Die aktuelle Entwicklung einer hohen Fluktuation macht solche Phasen jedoch beinahe unmöglich. Hinzu kommt die Zusammenarbeit in einer hybriden Welt. Deshalb braucht es heutzutage andere Konzepte und die Akzeptanz, dass viele vermeintliche Teams nicht unbedingt eine Stormingphase brauchen, um gut zusammenzuarbeiten.

Unabdingbar sind jedoch:

1. Motivation: Das persönliche Bekenntnis, Engagement zu zeigen und seine Ziele transparent zu machen bzw. sich offen zu den Unternehmens- bzw. Gruppenzielen zu bekennen, bereitet den späteren Austausch vor.

2. Austausch: Ein sachlicher und fachlicher Austausch über die eigenen Ziele und Kompetenzen schafft Vertrauen. Der Austausch darüber, welche Kompetenzen andere Kolleg*innen mitbringen und inwiefern dies die Zusammenarbeitenden insgesamt ergänzt, um gemeinsame Ziele zu erreichen, zeigt den Respekt voreinander und erhöht zusätzlich das Vertrauen zueinander. Die Maxime lautet: Ein modernes Wissensmanagement orientiert sich an fachlichen Kompetenzen und ist unabhängig von Sympathie.

3. Struktur: In einer Welt, in der Bindung immer schwieriger herzustellen ist, braucht es klare Strukturen aus Richtlinien, Regeln, Ritualen und Rollen, auf die sich alle in der Gruppe einigen und verlassen können.

Anlage: Ein Gruppenbildungsprozess in Zeiten hoher Fluktuation mit detaillierten Fragen

Jetzt hör mir doch mal zu!

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Die meisten von uns werden vermutlich von sich behaupten, dass Sie gut zuhören können. Dabei ist richtig gutes Zuhören auch für mich als professionell geschulter Coach nicht immer einfach. Ich ertappe mich selbst regelmäßig dabei, dass ich zu schnell denke und antworte und dabei ein echtes, empathisches Zuhören bisweilen auf der Strecke bleibt. In diesen Momenten bekommt offensichtlich der Trainer in mir Oberhand, während der Coach ein Mittagsschläfchen hält. Zudem gibt es ja auch so viele Gründe gegen ein offenes und geduldiges Zuhören:

  • Unser Gegenüber ist stur, dominant und egoistisch, will sich ohnehin nichts sagen lassen und sucht auch nicht nach Lösungen, sondern will nur seinen Frust loswerden.
  • Unser Gegenüber hört selbst nicht zu oder hat mal wieder vergessen, was wir vereinbart haben.
  • Unser Gegenüber ist überempfindlich. Das nervt.
  • Unser Gegenüber ist naiv und uninformiert. Wir leben anscheinend auf verschiedenen Planeten.
  • Unser Gegenüber kommt immer wieder mit den gleichen Themen und entwickelt sich keinen Schritt weiter.
  • Und schließlich haben wir oft auch keine Zeit bzw. sind uns andere Dinge wichtiger.
  • Bitte hier gedanklich eigenes Lieblingszuhörhindernis einfügen.

Das mag alles richtig sein. Dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen ein gutes Zuhören zu einer Deeskalation führt und oft auch zu Lösungen. Und vielleicht ist Ihr Gegenüber so stur und egoistisch, weil ihm oder ihr noch nie jemand richtig zuhörte. Dies gilt insbesondere für schwierige Mitarbeiter*innen, die ich geerbte Fälle nenne.

Ein Zuhör-Test

Ob Sie wirklich gut zuhören können, lässt sich leicht testen: Können Sie gut zuhören?

5 Möglichkeiten zu reagieren

Letztlich gibt es in Gesprächen fünf typische Reaktionen (es gibt natürlich mehr, bspw. das Ironisieren, aber diese 5 sind am häufigsten vertreten):

  1. Ein Ratschlag: Probier doch mal …
  2. Kritik: Das musste ja passieren, weil …
  3. Ein Vergleich: Das ist mir neulich auch passiert.
  4. Empathie: Das ist schlimm. Ich verstehe, dass …
  5. Interesse: Wie geht es dir damit?

Sie können sich folglich in der nächsten Zuhör-Situation selbstkritisch die Frage stellen: Höre ich wirklich zu? Habe ich wirklich verstanden, um was es meinem Gegenüber geht? Zeige ich ein echtes Interesse an meinem Gegenüber? Oder gebe ich vorschnell Ratschläge, lenke ab oder bewerte mein Gegenüber?

Ein Phasenmodell der Themenzentrierten Interaktion

Die TZI ist vermutlich das bekannteste und beste Modell zur Analyse von Gruppendynamiken. Wenn ich das 4-Faktorenmodell in meinen Seminaren erläutere, ist es idR. sofort einsichtig:

  • Das Es: Es gibt ein Thema, an dem wir alle zusammen arbeiten und Ziele, die wir verfolgen.
  • Die Ichs: Es gibt Einzelinteressen und -bedürfnisse der Teilnehmer*innen, was auch Teamleitungen mit einschließt.
  • Das Wir: Das Teamgefüge lässt sich über verschiedene Merkmale beschreiben, insbesondere Dauer, Intensität, Homogenität und gemeinsame Erfahrungen.
  • Der Globe: Jedes Team wird durch vielfältige äußere Faktoren beeinflusst, die sich eher nicht im eigenen Einflussbereich befinden. IdR. sprechen wir hier von der Kultur eines Unternehmens, aber auch von gesellschaftspolitischen Trends.

Dass sich insbesondere die ersten drei Faktoren in einer Balance befinden sollten, leuchtet ebenso schnell ein. Und dass dieses Gefüge immer wieder durcheinander gerät, hat schon jede*r am eigenen Leib erfahren. Soweit, so hilfreich. Doch wie lässt sich damit arbeiten, wenn es tatsächlich zu einer Dysbalance kommt?

In diesem Fall ist es hilfreich, sich ein 3-Phasenmodell der TZI vorzustellen. Die TZI als Vorbereitungs-, Analyse- und Interventions-Tool:

1. Die TZI als Vorbereitungs-Tool

Das Modell der TZI ist enorm hilfreich, um sich als Führungskraft oder Teamleitung klar zu machen, was mich im Rahmen eines Teamtreffens erwartet:

Das ICH der Gruppenleitung

  • Wie geht es mir, wenn ich an die Gruppe denke? Worauf freue ich mich? Was macht mir Sorgen?
  • Worin besteht meine Rolle / Aufgabe?
  • Wie wirkte ich bislang / will ich wirken?

Die Ichs in der Gruppe

  • Aus welchen Situationen (privat, beruflich) kommen die Teilnehmer*innen?
  • Welche Erwartungen haben die TN an mich / das Thema / die Gruppe?

Das WIR – die Gruppe

  • Kennen sich die Teilnehmer*innen oder treffen sie sich zum ersten mal? Gibt es Untergruppen, die evtl. nicht miteinander können?
  • Besteht evtl. schon eine Ordnung / Hierarchie? Gibt es verschiedene Hierarchie- / Führungsebenen?
  • Welche Sprache / Kommunikation (Umgangssprache, direkt, humorvoll, diplomatisch, wissenschaftlich, Du / Sie) sind die Teilnehmer*innen gewohnt?
  • Inwiefern kann ich mich auf die Sprache / Kommunikation der Gruppe einlassen?
  • Wie steht die Gruppe zu den anzugehenden Themen?
  • Sind Widerstände oder Konflikte zu erwarten?
  • Welche Ideen habe ich, die Gruppe zu einem produktiven Team zu bewegen?
  • Treffen sich die richtigen Personen zum passenden Thema?
  • Passen die geplanten Methoden zur Gruppe?

Das ES – Themen und Ziele

  • Welche Themen sollen besprochen werden?
  • Welche Ziele gibt es? Gibt es unterschiedliche Ziele (Ichs, Wir, Globe)?
  • Wie dringend brauchen wir Ergebnisse?
  • Welches Interesse habe ich selbst als Leitung an den Themen?
  • Bleibt während des Treffens Arbeit liegen?
  • Welche Wertigkeit hat das Treffen i.Vgl. zur sonstigen Arbeit?
  • Passen die geplanten Methoden zum Thema?

Die Rahmenbedingungen (GLOBE)

  • Ist das Thema aufoktroiert oder frei gewählt?
  • Ist die Gruppenzugehörigkeit freiwillig?
  • Ist die zeitliche Struktur passend für die Themen?
  • Ist der örtliche Rahmen passend (öffentlich, ungestört, Nebenräume, Sitzordnung)?
  • Welche medialen Ressourcen (Flipchart, Beamer, Pinwand, Moderationstools) sind vorhanden?
  • Welche Erwartungen gibt es von der Organisation?
  • Gibt es ein aktuelles gesellschaftliches Geschehen (Nachrichten, Wetter, Verkehrslage, Bahnstreik) mit Auswirkungen auf die Gruppe oder einzelne Teilnehmer*innen?
  • Ist die Gruppe entscheidungsfähig oder werden im Anschluss die Beschlüsse der Gruppe von einem höheren Gremium bewertet?
  • Gibt es Widerstände oder Unterstützer von außen?

2. Die TZI als Analyse-Tool

Als zweites empfehle ich die TZI als Analyse-Tool, um direkt in einem Gruppentreffen Dysbalancen wahrzunehmen:

Das Ich der Gruppenleitung

  • Ich stelle mich selbst nicht in den Dienst der Sache, sondern präsentiere mich gerne als Leitung.
  • Ich fühle mich der Gruppe nicht gewachsen und habe Angst davor, die Gruppe nicht gut leiten zu können.
  • Mir fehlen evtl. Erfahrungen oder Kompetenzen zur Leitung der Gruppe.
  • Mir fehlt der Stallgeruch.
  • Meine Rolle und Aufgabe ist unklar. Der Auftrag wurde unsauber geklärt.
  • Es gibt widersprüchliche Aufträge (Geschäftsleitung, Personalentwicklung, Gruppe).
  • Ich habe Vorurteile gegenüber der Gruppe / Branche / …

Die ICHs in der Gruppe

  • Einzelne oder alle Teilnehmer*innen haben im Grunde keine Lust auf das Treffen.
  • Einzelne Teilnehmer*innen sind aus irgendeinem Grund etwas Besonderes (neu, anderer Fachbereich, Geschlecht, …).

Das WIR – die Gruppe

  • Die Stimmung weist eine hohe Harmonie / Ungeduld / Unruhe / Gereiztheit / Unsicherheit / … auf.
  • Einzelne Untergruppen wollen am liebsten unter sich bleiben.
  • Manche in der Gruppe sprechen viel, andere gar nicht.
  • Manchen in der Gruppe wird andächtig zugehört, anderen nicht.
  • Es besteht eine heimliche Meinungsführerschaft.
  • Die Gruppe ist in ihrer Kommunikation inhomogen (Du / Sie, direkt / vorsichtig, umgangssprachlich / wissenschaftlich).
  • Es gibt Reizthemen in der Gruppe.
  • Es fehlen für das bearbeitende Thema essentielle Teilnehmer*innen.
  • Die Gruppe fremdelt mit den eingesetzten Moderationsmethoden oder der Gesprächsführung.

Das ES – Themen und Ziele

  • Verschiedene Untergruppen oder Teilnehmer*innen verfolgen unterschiedliche Ziele.
  • Der Zeitdruck erlaubt keine Kreativität oder Teamentwicklung.
  • Die Teilnehmer*innen sind parallel mit anderen Themen (Handy, Laptop) beschäftigt.

Die Rahmenbedingungen (GLOBE)

  • Das Thema wurde den Teilnehmer*innen aufgedrückt.
  • Das Thema ist ein Prestigeobjekt.
  • Die Zeit reicht für den Umfang der Aufgaben nicht aus.
  • Die Räumlichkeiten passen nicht.
  • Die Gruppe ist in wichtigen Belangen nicht entscheidungsfähig.

3. Die TZI als Interventions-Tool

Als drittes gilt es, die Balance zwischen den vier Polen wieder herzustellen. Dazu einige Erfahrungen aus meiner Praxis als Seminarleiter:

Die ICHs in der Gruppe

  • Einzelne oder alle Teilnehmer*innen haben im Grunde keine Lust auf das Treffen.

Praxisbeispiel: Ich bekam vor einigen Jahren den Auftrag für alle Führungskräfte einer Stadtverwaltung ein Pflichtzeitmanagementseminar abzuhalten. Dass die Führungskräfte nicht begeistert sein werden, erfuhr ich bereits durch die Personalentwicklung. Die Stimmung war entsprechend. Eine teilweise Lösung ergab sich durch eine neue Auftragsklärung im Seminar und damit eine positive Erwartungsenttäuschung der Teilnehmer*innen: „Nein, ich mache hier keine Mitarbeiter-Optimierung, sondern arbeite bedürfnisorientiert.“

  • Einzelne Teilnehmer*innen sind aus irgendeinem Grund etwas Besonderes (neu, anderer Fachbereich, Geschlecht, …).

Praxisbeispiel: In einem Seminar neulich setzte sich eine Person weit weg von allen anderen. Dadurch ergab sich eine spürbare Dysbalance zwischen dieser Person und der restlichen Gruppe, die sich schnell auflösen ließ: Auf Nachfrage wurde klar, dass die Person krank war und die anderen im Raum nicht anstecken wollte. Manchmal ist es sehr einfach, die Balance wieder herzustellen.

Das WIR – die Gruppe

  • Die Stimmung weist eine hohe Unruhe auf.

Praxisbeispiel: Vor ein paar Jahren leitete ich ein Führungsseminar für ein Gruppe von Vertriebler*innen. Am zweiten Tag des Seminars kam auf einmal eine große Unruhe auf und beinahe alle begannen heimlich auf ihre Laptops zu schauen und zu tuscheln. Schnell wurde klar, dass am Morgen die aktuellen Quartalszahlen veröffentlicht wurden. Ich machte daraufhin eine halbe Stunde Pause, damit die Gruppe sich über die Zahlen austauschen konnte. Anschließend konnten wir konzentriert weiter arbeiten.

  • Einzelne Untergruppen wollen am liebsten unter sich bleiben.

Praxisbeispiel: Hier braucht es heterogene Kleingruppenreflexionen, d.h. Gruppenarbeiten mit Personen, die sich noch nicht kennen.

  • Manche in der Gruppe sprechen viel, andere gar nicht.

Praxisbeispiel: Hier helfen strukturierte Moderationsmethoden, bspw. 1-2-4-All: Zu einem Thema macht sich zuerst eine Person eine Minute lang Gedanken, dann folgt zwei Minuten lang ein Austausch zu zweit, dann zu viert und schließlich im Plenum.

  • Die Gruppe fremdelt mit den eingesetzten Moderationsmethoden oder der Gesprächsführung.

Praxisbeispiel: Neulich war ich einer Gruppe zu wissenschaftlich. Ich reagierte mit Humor und begann immer dann, wenn mir auffiel, zu abgehoben zu wirken, meinen eigenen Vortrag zu dolmetschen.

Das ES – Themen und Ziele

  • Verschiedene Teilnehmer*innen verfolgen unterschiedliche Ziele.

Praxisbeispiel: Streng genommen ist das der Normalfall, der sich nur durch eine sehr individuelle Agenda lösen lässt, die am besten in regelmäßigen Untergruppen umgesetzt wird. Dabei sollten freilich die gemeinsamen Ziele (im Plenum) nicht aus dem Auge verloren werden. Eine Methode, um Einzelinteressen gerecht zu werden ist der Marktplatz der Kompetenzen: Jede*r Teilnehmer*in schreibt auf grünen Karten seine Kompetenzen auf bzw. das, was er der Gruppe bieten kann und auf rote Karten das, was er noch von der Gruppe braucht bzw. was er weniger gut kann und was folglich seine Ziele sind. Anschließend sucht sich jede*r Teilnehmer*in mind. eine andere Person aus, von der er oder sie glaubt, dass diese Person ihm oder ihr weiterhelfen kann.

Die Rahmenbedingungen (GLOBE)

  • Die Gruppe ist nicht entscheidungsfähig.

Praxisbeispiel: Ein Thema, das in Seminaren andauernd passiert: Die Teilnehmer*innen ärgern sich über Dinge, die sie nicht oder nur bedingt ändern können, bspw. den aktuellen Personalmangel. Die Lösung: Eine klare Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was die Gruppe betrifft und dem, worauf sie selbst einen Einfluss hat. Am einfachsten ist beim Thema Personalmangel der Zusatz: „Umgang mit …“: Den Personalmangel können wir nicht beeinflussen. Den Umgang damit jedoch schon.

Wofür wir lernen sollten, wieder demütiger zu sein

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Passt das? Demut zu haben im Beruf? Und passt Demut überhaupt noch in unsere schnelllebige Zeit?

Auf den ersten Blick erscheint der Begriff der Demut aus der Zeit gefallen. Demut klingt nach Selbsterniedrigung und schmerzenden Knien in der Kirchenbank. Und das in einem Land mit stetig rückläufigen Zahlen bei den klassischen Kirchen.

Zusätzlich nutzen wir den Begriff so gut wie nie. Aus gutem Grund. Wer von sich behauptet, er wäre demütig, präsentiert dies bereits als Eigenschaft in einem leicht stolzen Unterton. Demut lässt sich daher eher zeigen – dazu später mehr. Darüber sprechen ist schwer. Auch wer zu viel Gottesfürchtigkeit zeigt, könnte in die Demutsfalle tappen. Schließlich ist es nicht gerade ein Zeichen großer Demut, dass wir als Mensch davon ausgehen als Abbild Gottes geschaffen worden zu sein.

Der Dämon des Stolzes

Stattdessen scheinen viele von uns von der Todsünde des Stolzes befallen zu sein. Wir präsentieren uns in diesem neoliberalen und neokapitalistischen System stets von unserer besten Seite – insbesondere in den digitalen Medien – und machen sogar Schwächen zu Stärken:

  • „Was können Sie nicht so gut?“
  • „Wenn ich mich in was fest gebissen hab, muss ich mich manchmal ganz schön zügeln mit meinem Arbeitseifer. Manchen meiner Kolleg*innen im letzten Job ging das ein wenig zu weit. Ich wäre übereifrig, hieß es dann.“

Subtext: „Und darauf bin ich insgeheim ziemlich stolz. Weil das, wir wir beide wissen, in Wirklichkeit eine Stärke ist.“

Doch nicht nur in der Arbeit, auch gesellschaftlich sind wohl viele von uns ein wenig zu stolz geworden. Was waren wir nicht schon alles in den letzten Jahren: Virolog*innen, Kriesexpert*innen, Bundestrainer*innen, usw.

Persönliches Intermezzo

Mein eigener kleiner Stolz-Dämon flüstert mir regelmäßig ein, dass ich mich im Notfall nur auf mich selbst verlassen kann. Als Freiberufler ist das eine große Stärke. Ich habe zwar auch ein großes Netzwerk mit wunderbaren Kolleg*innen, die mir den Rücken für meine Trainings freihalten, indem sie mit Kund*innen Verträge schließen, Termine vereinbaren, Hotels buchen, Skripte verschicken und mir Rückmeldungen nach Seminaren geben, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Aber vor Ort in meinen Trainings gibt es niemanden, den ich fragen könnte, wenn es Probleme gibt. Hier bin ich komplett auf mich gestellt.

Es ist allerdings schwierig, dieses Muster auf andere Situationen und Lebensbereiche zu übertragen. Gratis-Tipp: Nicht machen! Bereits in Seminaren gibt es immer Menschen, die zu einem bestimmten Wissensgebiet mehr wissen als ich. Und im privaten Bereich kenne ich mich nicht wirklich mit Krankheiten und Genesung aus. OK. Ein wenig schon. Aber für Spezialgebiete wie Magen-Darm-Geschichten gibt es Expert*innen. Hier ist also Demut angesagt.

O-Ton meiner Frau, wenn ich in Diskussionen zu wissend daher rede: „Du bist zuhause und nicht mehr im Trainer-Modus“.

Demut als Mut nach innen

Vermutlich sind Sie ebenso wie ich schon über diese seltsame Konstruktion von De und Mut gestolpert. Was hat Demut bitteschön mit Mut zu tun?

Bei mutigen Menschen denken wir wohl eher an Mel Gibson in Braveheart oder eine namenlose Retterin, die ein kleines Mädchen von den Bahngleisen einer U-Bahn rettete. Wir denken an Zivilcourage oder an ein freches Mundwerk, was negative Konsequenzen nach sich ziehen kann. Ich selbst denke daran, dass ich die Abschlussrede unseres Uni-Semesters hielt, vermutlich weil ich es nicht aushielt, dass sich niemand dafür meldete. Ich denke an das Wagnis meiner Selbständigkeit vor 18 Jahren. Und ich denke über mein erstes großes Buchprojekt für Metropolitan nach – passenderweise ein Buch mit dem Titel „Provokantes Führen“.

Demut hingegen ist Mut nach innen. Ich erkenne, dass ich unvollständig bin und jemanden brauche, der mich und mein Wissen oder Können ergänzt. Das Prinzip der Dualität: Mann – Frau, Führung – Angestellte, gesetzt – ungestüm, erfahren – neugierig, usw.

Demut ist daher nicht nur mit der Selbsterkenntnis verbunden, alleine in vielen Situationen nicht gut genug zu sein. Sondern logischerweise auch mit den damit verbundenen Kränkungen.

Unser Ego gaukelt uns selbst und der Welt vor, wie toll wir sind. Doch eigentlich brauchen wir andere Menschen, um noch toller zu sein.

Wofür wir Demut brauchen

Eines klang schon an. Demut macht uns umgänglicher. Wir erhöhen damit nicht uns selbst, sondern unser Gegenüber. Daher ist Demut eng verbunden mit einem echten Interesse an anderen Menschen.

Zudem kann nur ein demütiger Mensch Feedback annehmen, eigene Fehler erkennen und daraus lernen. In Folge dessen kann nur ein demütiger Mensch ehrlich Danke sagen für ernst gemeinte Rückmeldungen.

Und: Demut hilft uns dabei, zu erkennen, dass wir Hilfe brauchen und diese auch annehmen können. Insofern besteht der ganze Mensch nicht nur aus sich selbst, sondern entsteht im Zusammenspiel mit anderen Menschen.

Literatur:

André Comte-Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben: Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte

Lebendige Achtsamkeit

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie achtsam Gerichtsmediziner*innen mit Toten umgehen? Achtsamer als wir Lebenden untereinander. Überhaupt pflegen wir ein ganz eigenes Verhältnis zu Toten. Über Tote soll man nicht schlecht reden, heisst es.

Daran, dass sich Tote verletzt fühlen könnten, kann es wohl kaum liegen. Es muss also damit zusammen hängen, dass Tote sich nicht mehr wehren können. Die Lebenden jedoch können sich noch wehren. Es wäre also grundverkehrt, die Achtsamkeit gegenüber Lebenden zu übertreiben. Wir brauchen daher im Umgang miteinander eine lebendige Achtsamkeit.