Verstehen oder Verständnis – Zur Klärung eines Missverständnisses am Beispiel von Depressionen

Wenn wir zu jemandem sagen „Du musst mich doch verstehen“ ist oftmals unklar was damit gemeint ist:

  1. Meinen wir (oder unser Gegenüber): „Du weißt genau, warum ich so handle. Du kennst mich. Du kennst meine Beweggründe und meine Gefühle.“
  2. Oder meinen wir: „Du weißt genau, warum ich so handeln muss. Ich kann nicht anders. Du würdest doch an meiner Stelle genau so handeln.“

Worin liegt der Unterschied?

Im ersten Fall geht es um das Denken und die Gefühle. Im zweiten Fall geht es um die Konsequenzen. Kann ich verstehen, dass Person A auf Person B wütend ist und ihn am liebsten an die Wand klatschen würde? Vermutlich ja, weil wir wohl alle schon den ein oder anderen bösen Gedanken hatten, vorzugsweise hinter dem Steuer unseres Autos sitzend.

Kann ich verstehen, dass Person A tatsächlich zuschlug? Vermutlich nein. Wir selber würden wohl anders handeln. Wir würden vielleicht schreien oder Person B zumindest sehr deutlich unsere Meinung sagen. Vielleicht würden wir Person B auch meiden, aber vermutlich nicht zuschlagen. In diesem Fall sprechen wir davon, B zu verstehen, aber kein Verständnis für den aggressiven Akt aufzubringen.

Verständnis und Erfahrungen

Woher kommt nun diese Unterscheidung? Bis zu einem bestimmten Punkt können wir uns wohl in jeden anderen Menschen hineinversetzen, einfach weil wir Menschen sind und potenziell ähnliche Erfahrungen mitbringen. Doch irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem wir dies nicht mehr können.

Lassen sich Depressionen verstehen?

Am Beispiel von Depressionen: Neulich schaute ich das Interview von Kurt Krömer und Torsten Sträter bei „Chez Krömer“ an. An einer Stelle erzählt Krömer von einer Szene in einem Supermarkt. Er stand da und wusste nicht mehr wie man einkauft, weshalb er nach Hause gehen musste, ohne seinen Kindern etwas kochen zu können. Jetzt hatte ich selbst schon einmal in meinem Leben eine ein- bis zweimonatige depressive Phase. Ich war in meinem Job gleichzeitig über- und unterfordert. Ich hatte das Gefühl, das was ich gut kann, wird hier nicht gebraucht und das was gebraucht wird, kann ich nicht. Es verging kein Tag ohne einen Zusammenbruch. Allerdings brach ich erst zuhause zusammen. Ich konnte auch einkaufen oder kochen. Ich war lediglich in der Arbeit komplett überfordert. Mein Arbeitgeber versuchte, mich mit einem Coaching zu unterstützen, was jedoch wenig half. Erst als ich kündigte, ging es mir wieder besser. Ich hatte folglich eine exogene Depression.

Vertrauen statt Verständnis

Diese Episode meines Lebens hilft mir dabei, (endogene) depressive Menschen zumindest teilweise zu verstehen. Da ich es jedoch noch nie erlebt habe, nicht mehr einkaufsfähig zu sein, fällt es mir schwer, nachzuempfinden, wie das möglich ist. In meinem Inneren taucht dann meist ein Spruch auf in Richtung „Einfach mal machen. Das wird dann schon mit jedem mal leichter“, was wenig hilfreich ist.

An diesem Punkt braucht es etwas anderes als Verständnis. Hier braucht es Vertrauen. Wenn mir jemand erzählt, dass er nicht mehr aufstehen oder einkaufen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu glauben, dass er alles für ihn Mögliche tut, diesen Zustand zu verändern und es dennoch nicht schafft. Wenn ich das verstanden habe, behalte ich meine „guten“ Ratschläge für mich, sondern höre „nur“ noch zu.