Schlagwort-Archive: Toleranz

Weihnachten überstehen

Bald ist es wieder soweit. Dann treffen am Fest der Liebe Menschen aufeinander, die genau einmal im Jahr in einer solchen Konstellation zusammentreffen und sich so gar nicht verstehen. Das war schon immer so. Und doch haben die potenziellen Themen des Missverstehens in den letzten Jahren so zugenommen wie die Jahresendmägen der Diskutanden. Zum einen gab es früher keine Coronamaßnahmen, Waffenlieferungen an Europas Grenzgebiete, Solidaritätsfrieren oder Straßenblockaden der selbsternannten “Letzten Generation”. Auch Themen wie Veganismus oder Flugreisen wurden weniger heiß diskutiert. Zum anderen scheinen Diskussionen allgemein jakobinischer geworden zu sein.

Grund genug, sich anzusehen, welche Möglichkeiten es gibt, das Weihnachtsfest auch bei weit auseinander liegenden Meinungen heil zu überstehen.

Zwischen Befürchtungen und Bedürfnissen

Bevor wir dazu kommen, ist es hilfreich zu überlegen, aus welchen Gründen jemand seine Meinung vehement verteidigt. Ein Grund, der häufig genannt wird ist die allgemeine Meinungsfreiheit. Dahinter scheint es eine Angst zu geben, in dunkle Zeiten zurückzufallen, in denen nicht mehr alles gesagt werden durfte. Schnell ist dann der Begriff einer “Cancel Culture” zur Hand, in der eine Meinung zwar gesagt werden darf, aber drastische Konsequenzen nach sich zieht. Wenn beispielsweise eine Professorin an einer Universität eine Statistik zitiert, bei der es um biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau geht, die von manchen gesellschaftlichen Gruppierungen geleugnet werden. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine ganz banale Diskussion handelt, die durchaus auch heiß werden kann, oder ob das Zitat der Professorin tatsächlich zu einer Entlassung oder einer Ausladung von Konferenzen führt. Im ersten Fall, der nach meiner Beobachtung weit häufiger passiert, allerdings im Vergleich zu früher nun vor aller Augen im Internet vollzogen wird, handelt es sich sicherlich nicht um einen Fall von Cancel Culture. Im zweiten Fall wohl schon. Leben wir also in einer Gesellschaft, in der einzelne Meinungen gecancelt werden? Ja und Nein.

Was passiert jedoch an Weihnachten? Muss ich befürchten, dass ich kein leckeres Stück von der Weihnachtsgans (bereits hier kann der Streit schon anfangen) aufgrund meiner Äußerungen bekomme? Oder dass ich mit bösen Blicken überzogen werde? Zwei Tage später ist der Liebes-Spuck wieder vorbei und ich kann in mein altes Leben und in meine ganz persönliche Filterblase zurückkehren. Die Konsequenzen sind also überschaubar.

In öffentlichen Diskussionen greift zudem die Angst um sich, dass ich meine Meinung gegen andere “falsche” Meinungen verteidigen muss, damit mein Gegenüber seinen Einfluss auf potentielle Anhänger*innen nicht ausbaut. Auch dieses Argument fällt in Familien weg.

Neben diesen Befürchtungen bleiben ureigene Bedürfnisse übrig, mit denen sich wesentlich besser erklären lässt, woher die Vehemenz in Diskussionen kommt. Menschen suchen nach Anerkennung. Und sie wollen vor allem gesehen werden. Zumindest diese Minimalvoraussetzung sollte gegeben sein: Ich muss die Meinungen anderer nicht gut finden, aber ich kann sie mir zumindest anhören und mein Gegenüber damit wahrnehmen.

Verstehen bezieht sich nicht auf Meinungen

Zwar kommt vorschnell der Satz “Das musst du doch verstehen!”. Ein Verstehen ist jedoch niemals in Gänze möglich und auch nicht wünschenswert, weil jeder Mensch mit anderen Erfahrungen und anderen Fähigkeiten auf die Welt blickt. Was den einen ängstigt, ist für den anderen normal. Zudem ist es keineswegs wünschenswert, einen anderen Menschen komplett zu verstehen. Was das Zusammenleben von Menschen spannend und interessant macht, ist gerade das Gegensätzliche. Was wäre denn, würde ich meine Frau oder meine Kinder komplett verstehen? Wir müssten uns nicht mehr unterhalten. Sie würde einen Satz beginnen … und ich würde sofort sagen: “Weiß ich. Kenne ich. Geht mir genauso”. Ist es da nicht viel spannender, sich ein Leben lang vom Gegenüber, selbst nach vielen Jahren, immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen?

Zudem ließe sich der Drang eines allumfassenden Verstehens eines anderen Menschen durchaus als privaten Kolonialismus deuten: “Ich ordne dich komplett in mein Verstehens-Schema, um dich zu begreifen”. Wie schnell wird dann aus einem “Begreifen” ein “Ergreifen” oder “Im Griff haben”?

Vielleicht kennen Sie das Phänomen, wenn andere Menschen vorschnell zu Ihnen sagen: “Das verstehe ich”, obwohl Sie noch nicht am Ende Ihrer Erzählung angekommen sind. In einem solchen Fall fühlen Sie sich in der Regel alles andere als verstanden. Sie wurden eingeordnet und möchten laut ausrufen: “Stopp! Ich will gar nicht, dass Du mich verstehst! Du kannst das vermutlich auch gar nicht verstehen! Wirklich verstehen kann nur ich, was ich erlebt habe. Denn Du warst nicht dabei”.

Dass es dennoch eine Sehnsucht gibt, verstanden zu werden, ist unbenommen. Diese Sehnsucht lässt sich vermutlich tatsächlich nur von Erlebens- und Leidensgenossen oder Menschen, denen wir sehr nahe stehen, stillen. Kein Wunder, dass es seit einiger Zeit eine starke Tendenz in unserer Gesellschaft gibt, sich in solchen Erlebensgruppen gegenseitig auszutauschen und zu solidarisieren. Sozusagen eine organische und stützende Solidarität unter Gleichen zu pflegen, während nach dem Soziologen Emile Durkheim in modernen Gesellschaften ebenfalls eine funktioniale und ergänzende Solidarität unter Ungleichen besteht. Bei gleichzeitiger Auflösung von Verbindungen – nachdem Gewerkschaften und Kirche bereits seit langer Zeit im Rückgang sind, lösen sich aktuell auch berufsbezogene Verbindungen durch die Arbeit im Homeoffice auf – ist die Suche nach neuen stützenden Verbindungen evident. Das Tummeln in Filterblasen lässt sich also auch aus einem Bedürfnis nach Verständnis deuten.

5 Tipps für bessere Gespräche an Weihnachten (und überhaupt)

Wenn also ein Verständnis unter Ungleichen schwer möglich und vielleicht sogar nicht einmal sinnvoll ist, was wäre dann zu tun, um sich an Weihnachten nicht gegenseitig den Appetit zu verderben?

Tipp 1: Wohlwollen als Grundbedingung

Vorneweg ist eine Grundbedingung wichtig, um sich zumindest nicht destruktiv zu begegnen: Das Wohlwollen, dass mein Gegenüber mich nicht anlügt, sondern aus seiner Sicht einen Teil der Wahheit über die Welt in der Hand hält, auch wenn das für mich übertrieben oder sogar vollkommen hahnebüchen erscheint. Wir sollten uns allerdings immer vor Augen halten: Unser Gegenüber denkt genauso.

Tipp 2: An der eigenen Toleranz arbeiten

Bereits hier scheint ein Scheitern vorprogrammiert. Denn es gehört (aus unserer eigenen Sicht) eine Menge Ambiguitätstoleranz und Geduld dazu, unser Gegenüber mit seinen seltsamen Meinungen auszuhalten. Dabei ist es genau diese Toleranz, die ein Miteinander unter Ungleichen seit jeher ausmachte. Wir glauben vielleicht, wir sollten gleich sein, weil wir doch aus einer Familie kommen. Doch wir sind in der Regel verschiedener als im Austausch mit Freunden.

Tipp 3: Fokus auf Sachen

Stellen Sie sich vor, Sie wären in der Arbeit und müssen mit Menschen auskommen, die Sie kaum kennen. Was tun Sie? Sie konzentrieren sich auf die Sache. Sie müssen niemanden von Ihrer Meinung überzeugen. Es reicht, wenn “der Laden läuft”. So ein Fokus auf die Sache kann sehr entspannend sein. Vielleicht gehen deshalb manche Menschen so gerne in die Arbeit. Weil es nicht so menschelt.

Übertragen auf Weihnachten bedeutet das: Fokussieren Sie sich auf gemeinsame Tätigkeiten. Kochen Sie zusammen, decken den Tisch, schmücken den Baum, packen Geschenke aus oder spielen ein Spiel. Und sorgen Sie dafür, dass die Welt der vielen Meinungen da draußen zumindest für ein paar Tage schweigen darf.

Tipp 4: Seien Sie neugierig

Gibt es in Ihrem eigenen Umfeld kaum eine solche Exotin wie Ihre Schwester? Freuen Sie sich, sich Sichtweisen und Meinungen erläutern zu lassen, die komplett anders sind als das, was Sie gewohnt sind. Manche Menschen scheinen beinahe Angst zu haben, durch abweichende Meinungen beschmutzt zu werden. Aber warum? Sind Sie so leicht zu verunsichern, dass Sie am Ende noch umgestimmt werden könnten? Was soll schon passieren? Sie hören sich das “Exotische” aus einem höflichen, aber neugierigen Wissensdrang heraus an und können auch Ihrerseits darum bitten, angehört zu werden.

Tipp 5: Experimentieren Sie

Haben Sie jemals versucht, andere Menschen, die komplett anderer Meinung sind als Sie, von Ihrer Meinung zu überzeugen? Und? Hat es funktioniert? Vermutlich nicht.

Wie wäre es, wenn Sie experimentieren und etwas anderes versuchen? Was wäre, wenn es nicht darum ginge, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, ein interessantes Gespräch zu führen? Sie könnten Ihre Sprechart verändern, beispielsweise langsamer, unheimlicher, akzentuierter oder ruhiger sprechen, Betonungen anders setzen, Metaphern nutzen, Humor einsetzen oder Ihre Aussagen in Fragen formulieren.

Bei Experimenten geht es nicht darum, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, es zu locken und neugierig zu machen auf das, was Sie zu sagen haben.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Inspiriert durch mehrere Artikel im aktuellen Philosophie-Magazin 01/2023

Siehe auch: https://www.metropolitan.de/buch/wir-sollten-reden

Das Leben in einer unperfekten Welt

Als ich noch jünger war, dachte ich Probleme waren dafür da, gelöst zu werden:

  • Du willst einen Job? Mach eine Ausbildung oder studiere.
  • Du kommst in deinem Beruf nicht klar? Mach eine Fortbildung oder bewirb dich woanders.
  • Die Wohnung wird für die 4-köpfige Familie zu klein? Sucht euch nach etwas Neuem um. Usw.

Doch dann, bei mir war das mit etwa 35, gab es eine Wende in meinem Leben. Nichts Dramatisches. Stattdessen viele kleine Anzeichen, dass dieses Problemlöse-Mindset nicht mehr funktioniert:

  • Die Zerrung vom Sport spürte ich noch Monate später.
  • Der erste verlorene Zahn wollte einfach nicht mehr nachwachsen.
  • Die Kinder taten sich nicht so leicht in der Schule, wie man sich das als Vater wünscht.

Bei anderen Menschen könnten weitere Punkte hinzu kommen:

  • Die Partnerschaft geht in die Brüche, aber wegen der Kinder muss ich mich irgendwie mit meinem Partner arrangieren.
  • Der Job passt doch nicht so perfekt zu mir, wie ich mir das gedacht hatte. Eine Kündigung ist dennoch nicht so einfach, weil das Haus noch abbezahlt werden muss.

Probleme aushalten als Lebenskompetenz gegen den Zeitgeist

Sich klar zu machen, dass das Leben nicht nur aus dem Lösen von Problemen besteht, wie uns das die Welt, insbesondere das Marketing, vormachen will, sondern auch auf dem Aushalten von Problemen basiert, war zumindest bei mir ein Prozess. Es fiel mir schwer, den eigenen schrittweisen, wenn auch langsamen Zerfall anzunehmen. Es fiel mir schwer, zu akzeptieren, dass ich Jahre brauchte mit meiner Selbständigkeit durchzustarten. Dass meine Kinder nicht so perfekt in der Schule waren (und teilweise noch sind), fiel mir nicht schwer. Ich war selber damals nicht der Beste.

Dennoch: Das Aushalten von Problemen in einer unperfekten Welt widerspricht dem, was uns allerorten beigebracht wird: “Mach was aus deinem Leben! Probleme sind dafür da, gelöst zu werden!” Dabei wird unterschlagen, dass sich manche Probleme nicht ohne Weiteres lösen lassen:

  • Ich kann mir ein Implantat machen lassen. Aber der Zahn kommt nicht zurück. Ich werde also mit einer zweitbesten Lösung leben müssen.
  • Es gibt Kinder, die einen Text einmal lesen und sofort verstehen. Und es gibt Kinder, die den Text dreimal lesen und immer noch nicht verstanden haben. Manchmal hilft da auch keine viertes oder fünftes mal lesen. Manchmal hilft nur, die 4 im Zeugnis auszuhalten und nach anderen Begabungen zu suchen.
  • Und an einen Jobwechsel kann ich erst in ein paar Jahren denken, wenn das Haus abbezahlt ist. Bis dahin gilt es, das Beste daraus zu machen, durchzuhalten und sich ein paar ausgleichende Hobbys zu suchen.

Beruflich ergibt sich ein ähnliches Bild. Chefs, Kolleg:innen oder Kund:innen müssen manchmal einfach ausgehalten werden. Und die großen und kleinen Probleme in der Welt können wir auch nicht so einfach lösen. Dabei ergibt sich häufig ein Paradoxon: Je komplexer Probleme werden, desto eher müssen wir auf Algorithmen zurückgreifen, die wir nicht mehr verstehen und damit indirekt einen Kontrollverlust erleiden. Wir kommen dann zu Lösungen, die wir zwar nicht verstehen, aber bspw. Kund:innen erklären müssen. Auch daher kommt ein Teil des aktuellen Stresses und der Gereiztheit. Außer wir vertrauen blind auf Algorithmen. Dafür jedoch bräuchte es eine intensive Beschäftigung mit Algorithmen-Ethik. Hier soll es jedoch erst einmal und das Zwischenmenschliche gehen.

Vom Aushalten von Problemen zur Toleranz in Gesprächen

Manche Probleme müssen oder können nicht sofort gelöst werden, sondern brauchen Zeit. Haben wir es verlernt, Probleme auszuhalten? Wurden wir zu ungeduldig?

Und wie sieht es mit unserer Toleranz gegenüber anderen aus, also dem Aushalten anderer Meinungen? Probleme lösen zu wollen, bei denen andere Menschen beteiligt sind, führt logischerweise zu Kontrollversuchen.

Dabei ist das Aushalten anderer Meinungen eine Grundbedingung für eine echte Resonanz mit meinem Gegenüber. Für eine Resonanz in einer Situation muss mich die Situation laut dem Soziologen Hartmut Rosa berühren, positiv oder negativ. Ich muss das Gefühl haben, einen Einfluss auf den Verlauf der Situation nehmen zu können. Die Situation sollte mich verändern können. Und sie sollte teilverfügbar sein. D.h. ich kann einen Einfluss nehmen, ich kann sie jedoch nicht kontrollieren. Ohne diese Rest-Unverfügbarkeit würde kein echter Kontakt zu meinem Gegenüber entstehen.

Deshalb ist es sinnvoll, zu den vier Aspekten von Rosa noch den Aspekt des Aushaltens hinzuzufügen, um gute Gespräche zu führen und sich persönlich weiter zu entwickeln:

  1. Von einer Situation betroffen sein.
  2. Ein Problem oder einen Konflikt aushalten können.
  3. Einen Einfluss auf den Verlauf des Gesprächs nehmen können.
  4. Die Möglichkeit sehen, durch das Gespräch transformiert zu werden.
  5. Das Problem und den Konflikt nur teilweise kontrollieren können. Andernfalls wäre eine Transformation nicht möglich.