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Gruppenbildungsprozesse in Zeiten hoher Fluktuation

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Das Problem: Eine hohe Fluktuation verhindert die Teamentwicklung

Traditionelle Teambildungsprozesse gehen davon aus, dass Teams nacheinander bestimmte Phasen ablaufen. Das passt jedoch nicht mehr zu den aktuellen Herausforderungen, die eine hohe Fluktuation mit sich bringt.

Klassische Phasenkonzepte

Klassische Teambildungsprozesse gehen meist von einem Phasenplan aus, der mehr oder weniger stringent ablaufen sollte. Das gängigste Modell stammt von Bruce Tuckman mit den Phasen:

  1. Forming: Die Gruppe kommt zusammen.
  2. Storming: Einzelne in der Gruppe streiten sich um die Vormachtstellung.
  3. Norming: Regeln dämmen die größten Kämpfe ein.
  4. Performing: Die Gruppe ist arbeitsfähig.
  5. Re-Forming: Die Gruppe löst sich auf bzw. wird neu formiert.

Das Problem am Phasenmodell von Tuckman ist jedoch nicht nur der stringente Ansatz, sondern die Maxime, dass Gruppen erst dann arbeitsfähig sind, wenn sie die Stormingphase hinter sich gebracht haben. Ich hatte in meiner Mediations- und Teamentwicklungspraxis tatsächlich Teams, die sich auf einer oberflächlichen Ebene einig waren, jedoch kaum einen Sturm überstanden hätten. Doch solange alles in geregelten Bahnen ablief, waren sie durchaus arbeitsfähig. Damit verändern sich jedoch die Phasen in der Praxis:

  1. Forming: Die Gruppe kommt zusammen.
  2. Norming: Regeln dämmen die größten Kämpfe ein, bspw. mit Hilfe meines 4R-Konzepts, siehe unten.
  3. Performing: Die Gruppe ist arbeitsfähig.
  4. Storming: In Krisenzeiten kann es sinnvoll sein, die Stormingphase nachzuholen.
  5. Re-Forming: Es kann aber auch sein, dass die Gruppe sich zuvor bereits auflöste. Derzeit besteht insbesondere bei jüngeren Menschen ohnehin die Tendenz, sich bei aufkommenden Problemen umzuorientieren, v.a. weil der Markt aufgrund des Personalmangels einen Wechsel erleichtert.

Das weniger bekannte Konzept von Helga Belz kommt dem entgegen und präsentiert entsprechend einen individuelleren Ansatz:

  1. Orientierungsphase: Die Gruppe lernt sich kennen: Wer sind die anderen?
  2. Motivationsphase: Der persönliche Bezug jedes einzelnen Mitglieds wird hergestellt: Warum bin ich hier?
  3. Initiativphase: Das persönliche Engagement steht im Vordergrund: Was will ich hier erreichen?
  4. Konfrontationsphase: Die Gruppe wird mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Anliegen und Zielen konfrontiert: Widersprechen sich die jeweiligen Anliegen?
  5. Kooperationsphase: Die Gruppe realisiert, dass sie nur gemeinsam weiterkommt: Was müssen wir tun, damit wir gemeinsam arbeitsfähig sind?

Auch wenn hier die Kooperation ähnlich wie bei Tucker nach der Konfrontation stattfindet, wird zumindest das Individuum stärker betont.

Die Lösung: Team versus Arbeitsgruppe

Die Lösung des Problems der Teambildung besteht in einer klaren Abgrenzung zwischen Team und Arbeitsgruppe. Ein Team, bspw. ein Projektteam, ist abhängiger voneinander als eine Arbeitsgruppe. Ein Team arbeitet nicht nur fachlich zusammen, sondern braucht für gemeinsame kreative Prozesse das gegenseitige Vertrauen, offen und ehrlich mit Feedback umzugehen. Hier ist es unerlässlich, die Storming- oder Konfrontationsphase durchzumachen.

Für reine Arbeitsgruppen jedoch reichen drei Phasen der Zusammenarbeit aus:

  1. Motivationsphase: Was trägst du persönlich zum Unternehmenserfolg bei? Welche fachlichen Kompetenzen bringst du dafür mit? Welche Weiterbildungen strebst du an?
  2. Austauschphase: Was fehlt dir an Kompetenzen? Was erwartest du von anderen, um deine Fähigkeiten zu ergänzen?
  3. Kooperationsphase: Welche Richtlinien, Regeln, Rituale und Rollen (4R) helfen uns, um reibungsfrei zusammen zu arbeiten?

Das 4R-System: Richtlinien, Regeln, Rituale und Rollen

Gerade in einer hybriden Zusammenarbeit braucht die Zusammenarbeit eine klare Struktur. Mögliche Rollen in Meetings können sein:

Hilfreiche Richtlinien in der digitalen Welt:

  • Ergebnisse sind wichtiger als Wege.
  • Chatten zur Bindung ist erwünscht.
  • Rückrufe sollten innerhalb … stattfinden.
  • Onlinemeetings sollten max … Minuten dauern.
  • Sachliche Themen lassen sich effizient in Onlinemeetings besprechen. Für emotionale Themen braucht es Präsenzbesprechungen.
  • Die Einarbeitungszeit findet weitgehend in Präsenz statt.
  • Die Kamera sind in Onlinemeetings an. Ausnahme: Datenschutz

Hilfreiche Regeln in der digitalen Welt:

  • Vor jeder Entscheidung stelle ich mir die Frage, wer davon betroffen ist.
  • Unsere verbindliche Kernzeiten & Erreichbarkeiten lauten: …
  • Ich schalte das Telefon um, wenn ich im Homeoffice bin.
  • Missverständnisse werden frühzeitig in Präsenz oder per Telefon geklärt.
  • Wer krank ist, arbeitet auch nicht im Homeoffice.
  • Aufgabenbewältigung geht vor Homeoffice.
  • Nach 20 Uhr werden keine eMails mehr verschickt bzw. bearbeitet.
  • Wochenende ist Wochenende.

Hilfreiche Rituale in der digitalen Welt:

  • Regelmäßige Feedbackgespräche (Debriefings) zwischen Teamleitung und Mitarbeiter*innen zur Kontaktpflege
  • Monatliche verpflichtende Aktionstage
  • Regelmäßige (freiwillige) Teamevents
  • Regelmäßige Präsenzbesprechungen

Das Fazit

Viele Trainer- und Teamentwickler*innen hängen aus meiner Sicht noch der „reinen Lehre“ der Phasenmodelle an. Die aktuelle Entwicklung einer hohen Fluktuation macht solche Phasen jedoch beinahe unmöglich. Hinzu kommt die Zusammenarbeit in einer hybriden Welt. Deshalb braucht es heutzutage andere Konzepte und die Akzeptanz, dass viele vermeintliche Teams nicht unbedingt eine Stormingphase brauchen, um gut zusammenzuarbeiten.

Unabdingbar sind jedoch:

1. Motivation: Das persönliche Bekenntnis, Engagement zu zeigen und seine Ziele transparent zu machen bzw. sich offen zu den Unternehmens- bzw. Gruppenzielen zu bekennen, bereitet den späteren Austausch vor.

2. Austausch: Ein sachlicher und fachlicher Austausch über die eigenen Ziele und Kompetenzen schafft Vertrauen. Der Austausch darüber, welche Kompetenzen andere Kolleg*innen mitbringen und inwiefern dies die Zusammenarbeitenden insgesamt ergänzt, um gemeinsame Ziele zu erreichen, zeigt den Respekt voreinander und erhöht zusätzlich das Vertrauen zueinander. Die Maxime lautet: Ein modernes Wissensmanagement orientiert sich an fachlichen Kompetenzen und ist unabhängig von Sympathie.

3. Struktur: In einer Welt, in der Bindung immer schwieriger herzustellen ist, braucht es klare Strukturen aus Richtlinien, Regeln, Ritualen und Rollen, auf die sich alle in der Gruppe einigen und verlassen können.

Anlage: Ein Gruppenbildungsprozess in Zeiten hoher Fluktuation mit detaillierten Fragen

Jetzt kommt Struktur in die Moderation

Der etwas andere Moderationsworkshop

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In Zeiten stetiger Veränderungen und oft schwieriger Anpassungsprozesse – denken wir nur an den Umgang mit einer hohen Fluktuation, Unterbesetzung, Digitalisierung, usw. – stehen viele Organisationen und Teams vor der Herausforderung, eine Balance zu finden zwischen dem Druck, Ergebnisse zu liefern und Beteiligte ins Boot zu holen. Nimmt der Druck überhand, besteht die Gefahr, dass Einzelne in der Gruppe das Heft in die Hand nehmen, was oft manchen aus der restlichen Gruppe durchaus entgegen kommt. Gleichzeitig sind die Entscheidungen Einzelner logischerweise perspektivisch limitiert, wodurch sie zwar schnell, jedoch selten nachhaltig geraten. Zudem sinkt bei einer geringen Beteiligung die Verantwortungsübernahme der Unbeteiligten bei der Umsetzung des Beschlossenen. Gerade in Zeiten stetiger Veränderungen sollte es folglich kein Zugeständnis sein, alle Beteiligten mehr einzubeziehen, sondern ein Muss, um gemeinsam langfristig tragfähige Gruppenentscheidungen zu fällen. An dieser Stelle kommt die Moderation ins Spiel.

Eine gute Moderation setzt sich aus drei Bausteinen zusammen:

  1. Moderationshaltungen: Um Entscheidungen und Gruppenprozesse zu moderieren braucht es eine neugierige, ruhige und bisweilen auch beharrliche Haltung. Die Teilnehmer*innen sollten spüren, dass die Moderation jederzeit alles im Griff hat. Sie sollten das Vertrauen haben, alles äußern zu dürfen, auch wenn es zu Konflikten kommen könnte. Moderator*innen brauchen folglich eine Aura, dass sie nichts so leicht aus der Bahn werfen kann.
  2. Gesprächstechniken: Damit einher gehen geschickt eingesetzte Gesprächstechniken – insbesondere Fragen und rhetorische Mediationstechniken – sowie die Fähigkeit, gut zuzuhören aus.
  3. Moderationshandwerkszeug: Als Handwerkszeug betrachte ich alle Strukturen, Methoden oder Moderationstechniken, die Moderator*innen ein ideales Gerüst bieten, um auch bei schwierigen Themen klar und strukturiert vorwärts zu kommen. Dabei kann es sich um Ablaufpläne oder auch „nur“ um verschiedene Kategorien handeln, über die diskutiert wird. Die einfachste Struktur als Beispiel liefert uns die klassische Brainstorming-Regel: 1. Ideen sammeln und 2. Ideen bewerten.

Seminarinhalte des Moderationstrainings

Sich die eigenen Aufgaben und Rollen als Moderation bewusst machen

  • Wie sehen meine Aufgaben und Rollen als Moderator*in aus?
  • Wie schaffe ich den Spagat zwischen Ergebnisoffenheit der Moderation und organisatorischen Zwängen, bspw. aufgrund meiner Rolle als Führungskraft oder selbst Betroffene*r?
  • Wie strahle ich Souveränität und Sicherheit als Moderator*in aus, um die Akzeptanz und das Vertrauen der Teilnehmer*innen zu bekommen?
  • Wie schaffe ich es, möglichst alle Teilnehmer*innen mitzunehmen?
  • Wie gehe ich souverän mit Widerstand und schwierigen Teilnehmer*innen um?

Gesprächstechniken üben und anwenden

  • Mit welchen Fragetechniken lassen sich Teilnehmer*innen einbinden, Lösungen voranbringen und kreative Ideen herauskitzeln?
  • Mit welchen rhetorischen Gesprächstechniken lassen sich schwierige Situationen wertschätzend und souverän meistern?

Moderationshandwerkszeug gezielt einsetzen

  • Welche Strukturen und Methoden sind geeignet, um anstehende Aufgaben zielorientiert anzugehen, kreative Ideen zu generieren und Lösungen voranzubringen?
  • Mit welchen Strukturen und Methoden lassen sich Teambildungsprozesse voranbringen und Konflikte verhindern oder lösen?

Eingesetzte Methoden

Im Training wird das vorgestellte Handwerkszeug, soweit passend zu den Themen der Teilnehmer*innen, direkt angewandt. Es kommen – neben klassischen Kartenabfragen – insbesondere zum Einsatz: Dynamic Facilitation, Reflexions-Stern, Systemisches Konsensieren, Fischgrätendiagramm, Szenario-Technik, PMI (Plus-Minus-Interessant), 5-Finger-Feedback, U-Prozess, Kraftfeldanalyse, 4R-Methode, Systemische Fragetechniken, Themenzentrierte Interaktion (TZI)

Ihr Nutzen

In klassischen Moderationstrainings wird viel mit Kartenabfragen, Clustern und Punkten gearbeitet. Dabei stehen Moderationen oft unter dem (Zeit-)Druck, nachträglich Struktur in eine offene Kartenabfrage zu bringen, was kompliziert und langwierig sein kann. In diesem Training lernen Sie, wie Sie von Anfang an Struktur und Schnelligkeit in die Diskussion bringen, was allen Beteiligten zugute kommt, ob es sich um die Aufarbeitung von Fehlern, Entscheidungsprozesse, Veränderungsworkshops, Teambildungsprozesse, kreative Ideenfindungen oder Konflikte in kleinen oder großen Gruppen handelt.

Zielgruppe

Führungskräfte, Seminarleitungen, Projektleitungen oder Veränderungsbegleitungen

Dauer

Ein Inhouse-Training dauert 2-4 Tage bei einer Gruppengröße von maximal 12.

Wie sollte eine Dienstvereinbarung zum Thema Homeoffice aussehen?

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Die Zeit des Ausprobierens von Homeoffice ist in vielen Unternehmen und öffentlichen Institutionen, für die ich tätig bin, vorbei. Nun gilt es, die Erfahrungen der letzten Jahre in Dienstvereinbarungen festzuschreiben. Dies schafft einen sicheren Rahmen v.a. für Führungskräfte, die sich im Versuch-und-Irrtum-Verfahren eigene Regeln erarbeitet haben und sich ab und an die Frage stellen, ob sie richtig liegen und welche Argumente sie in der Hand haben, Mitarbeiter*innen kein Homeoffice zu erlauben bzw. den Homeoffice-Status wieder zu entziehen.

Ziele der Dienstvereinbarung

Als erstes ist es sinnvoll, sich der Ziele von Homeoffice bzw. einer Dienstvereinbarung dazu bewusst zu werden:

  • Geht es darum, die Attraktivität des Arbeitsplatzes gegenüber der Konkurrenz zu erhöhen, individuelle Wünsche der Arbeitnehmer*innen zu erfüllen und eine gelingende Work Life Balance zu ermöglichen?
  • Auf der anderen Seite sollte es auch darum gehen, den Dienstbetrieb und die Qualität der Arbeitsleistung aufrecht zu erhalten.
  • Und schließlich ist darauf zu achten, dass der analoge Austausch untereinander wesentlich zu einem positiven Arbeitsklima, zur Motivation der Mitarbeiter*innen, zur Bindung an das Unternehmen und zur Vermeidung bzw. Klärung von Konflikten beiträgt.

Grundsätzliche Rahmenbedingungen zur Bewilligung von Homeoffice

Auf der Grundlage der Ziele sollten Rahmenbedingungen klar abgesteckt werden: Wie viel Zeit darf maximal im Homeoffice verbracht werden, um die oben genannten Ziele zu erfüllen bzw. nicht zu verhindern? Meist handelt es sich um eine prozentuale Orientierung, wenn Mitarbeiter*innen bspw. maximal 70% im Homeoffice verbringen können, sofern nichts dagegen spricht, und minimal einen Tag pro Woche in Präsenz sein sollen. Hier sind zwar dann Führungskräfte in der Begründungspflicht. Die Dienstvereinbarung hilft jedoch dabei, wenn es um folgende Faktoren geht, die gegen Homeoffice sprechen:

  • Aufgabe: Lässt sich die Aufgabe von zuhause aus genauso erledigen wie vor Ort? Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Ich gebe u.a. Seminare für das Bayerische Landeskriminalamt. Aber auch in anderen Institutionen und Unternehmen wird mit besonders heiklen Daten operiert, die eine sorglose Arbeit im Homeoffice erschweren.
  • Gruppendynamik: Erfordert eine qualitativ hochwertige Leistung kreative Austauschprozesse im Team, die nicht ohne weiteres auf Distanz genauso gut funktionieren wie in vor Ort inklusive der Dynamik körpersprachlicher und sprachlicher Feedbackprozesse? Manche Teamarbeiten erfordern zusätzlich eine hohe Agilität und Spontaneität. Was passiert bspw., wenn ein Kunde eine schnelle Anpassung eines Produkts erwartet und die Führungskraft dazu erst einmal die Teammitglieder aus dem Homeoffice zusammen trommeln muss? Eine unklare „rechtliche“ Situation in punkto Homeoffice könnte Führungskräfte hier schnell zu Bittsteller*innen machen.
  • Persönliche Kompetenzen: Sind die Mitarbeiter*innen loyal, gebunden und gut genug strukturiert, um sie mit gutem Gewissen ins Homeoffice zu entlassen?
  • Arbeitsplatzsituation zuhause: Ist der Arbeitsplatz zuhause homeofficetauglich? Wie sieht es mit der familiären Situation aus (Stichwort: Kleine Kinder)? Wie sieht es mit arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen aus? Soll der Arbeitsplatz kontrolliert werden oder gibt es eine Selbstauskunft? Passt die Bandbreite des Internets zuhause? Wird die Technik gestellt oder greifen Mitarbeiter*innen auf eigene Technik zurück? Wie ist die Haftung bei Schäden geregelt? In vielen Unternehmen ist es u.a. aus Datenschutzgründen nicht erlaubt, private Geräte zu nutzen.

Grundsätzliche Regelungen versus Flexitag

Grundsätzliche Regelungen betreffen regelmäßige Vereinbarungen zwischen Führungskräften und Mitarbeiter*innen. Flexitage können spontan vereinbart werden, bspw. wenn an einem bestimmten Tag ein Handwerker kommt. Meist besteht ein bestimmtes Kontingent an Flexitagen pro Jahr.

Geregelt werden muss ebenso, wie und wann ein Flexitag beantragt werden muss. Dies schließt idR. Situationen aus, in denen Mitarbeiter*innen früh morgens anrufen, weil sie verschlafen haben oder krank sind, aber dennoch im Homeoffice arbeiten wollen.

Auch Fragen der Zeiterfassung müssen geklärt werden: Loggen sich Mitarbeiter*innen zuhause ein und aus oder gelten Prinzipien der Vertrauensarbeitszeit und Ergebnisorientierung?

Und schließlich sollte geklärt werden, wer über die Bewilligung eines grundsätzlichen Homeofficeplatzes entscheidet. Meist ist es hilfreich, wenn dies nicht nur Führungskräfte entscheiden müssen, sondern zusätzlich Datenschutzbeauftragte, Betriebsrat und die Personalabteilung mit im Boot sind, insbesondere wenn es um kritische Entscheidungen geht.

Möglich und hilfreich kann auch eine Probephase sein bzw. sich als Arbeitgeber eine Hintertür offen zu halten, falls sich die Rahmenbedingungen ändern und Mitarbeiter*innen aus dem Homeoffice zurück geholt werden sollten.

Besondere Gründe im Zweifelsfall

Bestehen besondere soziale oder individuelle Gründe, auch wenn es (vereinzelt) Gründe gegen Homeoffice gibt bzw. mehr Mitarbeiter*innen in Homeoffice wollen als es für die Teamdynamik gut ist? Dies gilt insbesondere für:

  • Schwerbehinderung
  • Betreuung kleiner Kinder
  • Betreuung von pflegebedürftigen Familienangehörigen

Einarbeitungsphase

Für Einarbeitungsphasen sollte es extra Regelungen geben, am besten in Form eines Phasenplans. Diesen komplett für alle Bereiche, Abteilungen und Aufgaben vorzugeben ist nicht sinnvoll, da jeder Aufgabenbereich anders ist. Wichtig in der Einarbeitung sollten drei Aspekte sein:

  1. Sich mit den Aufgaben vertraut machen.
  2. Die Kolleg*innen kennenlernen und sich ein erstes Netzwerk aufbauen.
  3. Die Werte des Unternehmens kennen lernen.

Punkt 1 lässt sich häufig auch im Homeoffice erledigen – sofern es sich nicht um Teamarbeit handeln. Punkt 2 und 3 sind wesentlich schwerer vom Homeoffice aus bzw. bei Punkt 3 beinahe unmöglich. Deshalb kann folgende Orientierung sinnvoll sein:

  • In den ersten drei Monaten sollten Mitarbeiter*innen in Präsenz sein.
  • Danach können sie drei Monate lang einen Tag im Homeoffice verbringen.
  • Anschließend wird gemeinsam reflektiert, was für alle Seiten passt.

Newtro Work

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Das Kunstwort Newtro ist zusammengesetzt aus new und retro, sprich neu und alt gleichzeitig. Aktuell sind beispielsweise Falthandys wieder im Kommen. Das Falten verdeutlicht das bewusste Abschalten des Handys, während die Technik freilich hochmodern ist.

Vielleicht sind solche Mischwörter ja ein Zeichen der Zeit – denken wir an die „Neue Normalität“ – und symbolisieren unser Bedürfnis nach ein wenig Stabilität in einer hektischen Welt ständiger Veränderungen.

„Newtro Work“ brauchen Sie nicht in eine Suchmaschine einzutippen. Diese Zusammensetzung habe ich gerade erst erfunden und darf gerne Karriere machen.

Als ich den Begriff Newtro las, kamen mir jedoch sofort die Diskussionen aus meinen Führungstrainings in den Sinn. Das zentrale Hauptthema lautet derzeit „Wie halten wir die Bindung und den Austausch untereinander in Zeiten einer hybriden Zusammenarbeit und hohen Fluktuation aufrecht?“

Die Brainstormings dazu in meinen Seminaren ergeben folgende Ideenliste:

  • Regelmäßige Face-to-Face-Treffen
  • Den Stammtisch reaktivieren
  • Die Fußballmann(und frau)-schafft reaktivieren
  • Mal wieder Bowlen gehen
  • Gemeinsames Mittagessen
  • Regelmäßige Aktionstage in Präsenz
  • Regelmäßige kurze Feedbackgespräche zwischen Chef*in und Mitarbeiter*in
  • Gezielt manche Besprechungen in Präsenz abhalten
  • Gemeinsame virtuelle Mittagspausen
  • Geburtstagsfeiern in Präsenz
  • Fehlerbesprechungsrunden in lockerer Atmosphäre mit Kaffee und Kuchen
  • Mehr Struktur in Online-Meetings
  • Klare Ziele, klare Planungen, sauberes Delegieren
  • Regelmäßige Teambildungs-Events

Mehr retro geht kaum.

Auch wenn junge Bewerber*innen häufig am liebsten sofort ins Homeoffice möchten, sind die Zahlen einiger meiner Auftraggeber, was das Homeoffice angeht eher wieder rückläufig. Die Kolleg*innen vermissen sich. Nach der Extremversion zu Corona-Zeiten pendelt sich offensichtlich eine neue Neue Normalität ein. Ob es dazu noch einen weiteren Begriff braucht? Keine Ahnung. Spannend ist es in jedem Fall, darüber nachzudenken, wie viel Altes das Neue braucht, damit Mitarbeiter*innen in Veränderungen mitziehen. Und manchmal ist das Alte eine feine Sache. Ist Fußball spielen mit den Kolleg*innen nicht so cool wie Funkmusik aus den Siebzigern? Retro eben.

Nachhaltige Veränderungen brauchen Struktur und Haltung

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Was Agilität und Homeoffice mit Materialismus und Idealismus zu tun haben

Materialismus versus Idealismus

Wenn es um große Veränderungen in der Gesellschaft geht, gibt es zwei Strömungen. Die eine steht in der Tradition des marxistischen Materialismus und geht davon aus, dass Strukturen verändert werden müssen. Die andere beruft sich auf den Hegelschen Idealismus und geht davon aus, dass sich v.a. das Bewusstsein verändern sollte.

Wer materialistisch denkt ist beispielsweise für eine Frauenquote in Unternehmen. Wer hegelianisch denkt, versucht, Vorurteile gegenüber Frauen aufzudecken. Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile: Wer lediglich eine Frauenquote für Führungspositionen einführt, sorgt zwar dafür, dass mehr Frauen in der Führung präsent sind. Bleibt die Veränderung jedoch auf der Strukturebene stehen, kann es sein, dass Frauen ihre Karriere geneidet wird und diese sich mehr anstrengen (müssen) als Männer, um gegen bewusste oder unbewusste Vorurteile anzukämpfen.

Die Wirkmächtigkeit solcher Vorurteile untersuchte insbesondere der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Für nachhaltige Veränderungen reicht es also nicht aus, lediglich Strukturen zu verändern, wie im Falle der Frauenquote eine Regel einzuführen Als Ergänzung braucht es die Beschäftigung mit Bewertungen, Neigungen und typischen Verhaltensweisen, als Bündel bei Bourdieu Habitus genannt:

  • Was verbindest du eher mit Leistung und Zuverlässigkeit: Männer oder Frauen?
  • Was verbindest du eher mit Emotionalität: Männer oder Frauen?
  • Wer ist eher für eine Führungsposition geeignet: Männer oder Frauen?
  • Wen würdest du eher als Kolleg*in wählen: Einen Mann oder eine Frau? Usw.

Die Fragen erscheinen plump, insbesondere wenn wir der Meinung sind, gesellschaftlich weiter zu sein, was Egalität angeht. Zudem lassen sich sicherlich elegantere Fragen stellen. Doch auch wenn sich Strukturen in der Praxis bereits verändert haben, hängt unsere Geisteshaltung oft viele Jahre hinterher. Es kann also nicht schaden, zumindest darauf aufmerksam zu machen, dass wir häufig noch nicht so weit sind, wie wir uns das eigentlich wünschen oder es gesellschaftspolitisch erwartet wird.

Materialismus und Idealismus als Streitpunkt in Veränderungen

Die Unterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus erscheint simpel, bildet jedoch die Grundlage vieler heftig geführter Debatten. Während die eine Seite am liebsten alle Reiterstandbilder aus kolonialistischen Vorzeiten abreißen, jedes N-Wort aus Büchern und Lesungen verbannen und bei Personenbezeichnungen einen Genderstern dazu basteln will, behauptet die andere Seite, dass damit noch lange nichts erreicht ist. Denn nur weil wir Ungerechtigkeiten mit Strukturveränderungen bekämpfen, sind sie nicht aus der Welt geschafft.

Auf den ersten Blick erscheinen die oben genannten Beispiele wie eine Strukturveränderung. In Wirklichkeit folgen sie jedoch dem (jugendlichen) Idealismus, mit Worten die Welt zu verändern. Tatsächlich verändert Sprache unser Denken und unseren Blick auf die Welt (Ideal = lateinisch „dem Urbild entsprechend“) und schafft damit eine zukünftige, andere Wirklichkeit. Bis dahin bleiben jedoch die aktuellen Strukturen unangetastet, bspw. Hungerlöhne und Kinderarbeit in der 3. Welt, auch wenn es seit einigen Jahren offiziell „Eine Welt“ heißt. Der strukturelle Rassismus geht also weiter, egal ob wir das N-Wort benutzen oder nicht.

Und was hat das alles mit Agilität zu tun?

Machen wir zum Ende dieses Artikels noch einen kurzen Schwenk zurück in die Arbeitswelt. Was hat nun Agilität mit der ganzen Diskussion um Materialismus und Idealismus zu tun?

Agile Führung setzt an zwei Fronten an:

  • Zum einen sollte sich das Mindset von Führungskräften verändern. Sie sollten insbesondere mehr mit Vertrauen führen und Prozesse wie auch sich selbst transparenter machen, um das Vertrauen ihrer Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Dieser Ansatz ist zutiefst idealistisch. Oder wie En Vogue 1992 sangen „Free your mind and the rest will follow“. In der Ursprungsversion von Funkadelic 1970 hieß es übrigens noch „Free your mind and your ass will follow“. Auch schön.
  • Zum anderen gibt es mit Scrum, Objectives & Keyresults (OKR) oder Design Thinking Frameworks mit festen Strukturen aus Ritualen (Dailys, Weeklys, Reviews, Retrospektiven), Rollen (Scrum-Master, Product-Owner), Prinzipien und Regeln (Agiles Manifest, Design Thinking-Regeln). Dieser Ansatz ist zutiefst strukturell.

Dieses Zusammenspiel ist nicht nur in agilen Projekten und einer agilen Führung sinnvoll, sondern sollte in jeder Veränderung mitgedacht werden, um eine psychologisch-strukturelle Sicherheit zu bieten und Rückschläge zu vermeiden.

Mindset und Struktur im Homeoffice

Wer beispielsweise die Zusammenarbeit auf Distanz nachhaltig gestalten will, sollte neben dem Mindset des Vertrauens und der Transparenz folgende Strukturen klären bzw. vorgeben:

Richtlinien:

  • Chatten zur Bindung auf Distanz sollte erwünscht sein.
  • Erreichbarkeiten sollten transparent gemacht werden.
  • Bei den Einarbeitungszeiten muss geklärt werden, was im Homeoffice möglich ist und wofür es Präsenzzeiten braucht.

Regeln:

  • Verbindliche Kernzeiten und Erreichbarkeiten müssen klar sein.
  • Rückrufe sollten innerhalb … stattfinden.
  • Missverständnisse sollten frühzeitig und besser in Präsenz geklärt werden.
  • Wer krank ist, ist krank und arbeitet auch nicht im Homeoffice.
  • Nach … Uhr werden keine eMails mehr verschickt / beantwortet.

Rituale:

  • Regelmäßige Aktionstage dienen der Bindung im Team.
  • Fehler werden regelmäßig reflektiert und aufgearbeitet.

Literatur:

Jana Glaese – Was heißt hier Struktur? In: Philosophie Magazin 06/2023