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Du bist nicht schuld!

Jeder Mensch besitzt unterschiedliche Krisenerfahrungen. Was für die einen ein Sturmwind ist, ist für andere ein laues Lüftchen. Das hat oftmals weniger mit den persönlichen Kompetenzen zu tun, sondern vielmehr mit unterschiedlichen Erfahrungen, aus denen sich die erwähnten Kompetenzen entwickelten.

Das bedeutet nun nicht, jegliche Verantwortung für den Umgang mit Belastungen von sich zu weisen. Auch von solchen Menschen gibt es mehr als genug in Unternehmen, wenn es wieder mal heisst: „Die da oben sind schuld an allem. Ich werde schließlich nicht gefragt.“

Wir können uns stattdessen engagieren, etwas investieren, andere unterstützen oder uns weiterbilden, um unsere Resilienz und Krisenstabilität zu erhöhen.

Ich glaube jedoch daran, dass wir erst wirklich offen miteinander umgehen, aus Fehlern lernen, neue kreative Ideen zum Umgang mit Belastungen haben und Verantwortung für uns Tun übernehmen werden, wenn wir Abstand nehmen vom Gefühl der eigenen Schuldhaftigkeit.

Schuldgefühle machen depressiv, aber sicherlich nicht kreativ im Umgang mit Belastungen. Und Schuldgefühle verhindern einen offenen Austausch mit anderen, weil jeder Mensch denkt, er wäre selbst verantwortlich für seine Misere, weil er nichts unternommen hat oder zu spät handelte. Aufgrund der Unklarheiten zum Werdegang einer Krise kann aus einem Schuldgefühl sogar Scham werden. Dann heisst es nicht: Ich habe zu wenig getan, sondern: Ich bin nicht gut genug. Ich bin unfähig, mit Krisen und Belastungen umzugehen. All dies sind jedoch keine guten Voraussetzungen, sich darüber auszutauschen wie am besten gemeinsam mit Krisen und Belastungen umgegangen werden sollte.

Mein Ebook mit dem Titel „Du bist nicht schuld“ soll daher kein einfacher Mutmacher sein. Es gibt durchaus einiges zu tun, um die 50 Tipps zum Umgang mit Krisen und Dauerbelastungen umzusetzen. Dann jedoch halten Sie ein reichhaltiges Instrumentarium in der Hand, um auch den nächsten Sturm mit einem Lächeln auf den Lippen souverän gemeinsam zu meistern.

Im Kern geht es darum, Stressmanagement systemischer zu betrachten, da vieles in diesem Bereich egozentriert ist. Achtsamkeitsübungen mache ich alleine. Für ein gutes Zeitmanagement sorge ich ebenfalls alleine. Und wenn ich zu gut bin, schneide ich mir damit am Ende ins eigene Fleisch, weil es es dann heisst: „Was? Du bist schon fertig? Kannst du dann vielleicht …?“ Und meine Work-Life-Balance muss ich auch selbst verteidigen.

Wie wir jedoch gemeinsam in Teams besser mit Dauerbelastungen umgehen können, zeigt Ihnen mein siebenstufiges systemisches Stressmanagement-Modell.

Über den Zusammenhang zwischen Krisen, Kränkungen und Belastungen

Wer sich als Führungskraft ab und an die Frage stellt, warum manche Mitarbeiter*innen so demotiviert sind oder nur noch Dienst nach Vorschrift leisten, sollte sich mit dem Thema der Kränkung beschäftigen. Kränkungen sind allgegenwertig. Es soll hier auch nicht darum gehen, seine Mitarbeiter*innnen in Watte zu packen. Ein wenig Hintergrundwissen zum Thema bietet jedoch gute Erklärungen für die Demotivation der eigenen Belegschaft und damit die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wo evtl. eine Veränderung des eigenen Führungsstils in Richtung Achtsamkeit sinnvoll wäre. Gleichzeitig wird deutlich, dass gerade in der aktuellen Zeit globale Krisen zu Kränkungen führen, ohne dass Sie als Führungskraft daran schuld wären. Und dennoch ist es hilfreich, auch diese Zusammenhänge zu kennen, um wertschätzend miteinander umzugehen.

Wie entstehen Kränkungen?

Eine Kränkung verletzt einen Menschen in seiner Ehre, Würde, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Sie erschüttert die eigenen Werte sowie den Selbstwert und den Gerechtigkeitssinn. Kränkungen können nur stattfinden, wenn zuvor etwas anderes erwartet wurde. Sie haben immer mit einer Enttäuschung oder sogar einem Schock zu tun.

Typische Kränkungen stehen in Verbindung mit …

  • Beleidigungen, Beschämungen, Bloßstellungen, Demütigungen, Herabwürdigungen und Erniedrigungen,
  • Zurückweisungen,
  • Nichtbeachtungen, Ignoranz oder Übergangen werden.1

Je öffentlicher und absichtlicher die Kränkungen stattfinden, desto schlimmer. Oftmals hängen Kränkungen auch mit einem Vertrauensbruch oder empfundenen Ungerechtigkeiten zusammen.

Was haben Kränkungen mit Krisen zu tun?

Auf der einen Seite gibt es die alltäglichen Kränkungen beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz oder die Nichtbeachtung im Falle einer Beförderung. Daneben gibt es jedoch auch die mit Krisen verbundenen großen Kränkungen der Menschheit. Nachdem Sigmund Freud auf drei große Kränkungen der Menschheit hinwies, kommen durch die Digitalisierung weitere Kränkungen hinzu:2

  • Die erste Kränkung bestand nach Freud darin, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist.
  • Die zweite Kränkung bestand in der Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und damit nicht die Krone der Schöpfung Gottes ist.
  • Die dritte Kränkung bestand darin, dass es ein Unterbewusstsein gibt und der Mensch weniger Kontrolle über sein Leben hat als er bislang dachte.
  • Die vierte Kränkung begann in den 50er Jahren mit der Automatisierung der Arbeitswelt. Zwar helfen Maschinen dem Menschen, schwere oder stupide Arbeiten zu tätigen. Dennoch droht damit immer auch die Ersetzbarkeit des Menschen. Und je schneller und genauer unsere Computer werden, desto größer ist die Kränkung.
  • Die fünfte Kränkung schließlich sieht intelligente Computer als dem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen an. Mit Big Data lassen sich in wenigen Sekunden Zukunftsmodelle errechnen, für die der Mensch Jahre bräuchte.3

Emotionen können Algorithmen noch nicht empfinden. Sollte jedoch eines Tages ein Computer dazu fähig sein, genauso spontan und emotional zu reagieren wie ein Mensch, wäre dies die sechste Kränkung. Filmische Visionen davon gibt es bereits. In Alien 4 beispielsweise spielt Winona Ryder eine Androidin, die menschlicher ist als die Menschen um sie herum.

Dabei zeigt sich bei all diesen großen Menschheitskränkungen, dass nie alle Menschen gleich betroffen sind. Kopernikus war sicherlich nicht gekränkt, sondern die Kirche. Auch Darwin wurde sicherlich nicht durch seine eigenen Studien gekränkt. Das gleiche gilt für Freud selbst. Und wer von Automatisierungen, der Digitalisierung, dem Internet und smarten Algorithmen profitiert, wird sich kaum von der Geschichte übergangen fühlen, sondern diese gesellschaftlichen Veränderungen als Chance betrachten. Wer jedoch bislang sein Geld mit Handarbeit verdiente und nun sieht, dass alleine der Verkauf von Whats App an Facebook 2014 22 Milliarden Dollar wert war, fragt sich, ob die Welt, in der er sich befindet noch die seine ist. Krisen wirken also nie auf alle gleich. Genauso wie es in der Gesellschaft Krisengewinner und -verlierer gibt, gibt es auch in Unternehmen Profiteure und Abgehängte.

Der Soziologe Andreas Reckwitz unterscheidet zur Verdeutlichung dieses Phänomens der Entwertung von Biographien eine alte von einer neuen Mittelschicht. Während in der Industriegesellschaft nach den Weltkriegen beinahe jeder Mensch mit einer Normalbiographie an einem gewissen Wohlstand teilhaben konnte, sind Ausbildungen und Abschlüsse heutzutage kein Garant mehr für ein ausreichendes Auskommen. Die Unterschicht nimmt zahlenmäßig zu und die nichtakademische alte Mittelschicht kann sich nicht mehr sicher sein, ob sie ihren Lebensstandard auf Dauer halten kann. Die weitgehend akademisch geprägte neue Mittelschicht wiederum ist häufig geprägt durch eine Vermischung mit kreativen Milieus, eng verbunden mit der Digitalisierung, dem Internet und Medien, und damit mehr oder weniger krisenfest. Die damit verbundenen Kränkungen der alten Mittelschicht beziehen sich auf drei Aspekte:4

  • Entwertung kultureller Werte: Alte Werte wie Fleiß und Beständigkeit führen nicht mehr automatisch zum Erfolg. Heutzutage hat Erfolg, wer zur richtigen Zeit am richtigen Platz und mutig genug ist, seine Chancen zu nutzen.
  • Finanzielle Unsicherheit: Damit einher geht auch eine finanzielle Unsicherheit. Hatte die alte Mittelschicht gestern noch ein gesichertes Einkommen, kann sie morgen schon – insbesondere in Krisenzeiten als Turbo – absteigen und zur Untterschicht gehören.
  • Verhältnismäßigkeit des sozialen und kulturellen Einflusses: Eine nicht unbedingt zahlenmäßig überlegene Gruppe von Menschen aus dem akademischen Milieu gibt durch die Verbindung zum kreativen Milieu und den digitalen Möglichkeiten an, welche Lebensstile wertvoll sind. Es geht in aktuellen Kränkungen also nicht nur um eine finanzielle Entwertung, sondern auch und vor allem um die Entwertung kultureller Aspekte wie beispielsweise der Sprache. Gerade deshalb wirkt das Gender-Sternchen wie ein rotes Tuch für manche Menschen. Es geht dabei weniger um das Sternchen, sondern die akademisch diktierte Vorgabe an die alte Mittelschicht, was richtig oder falsch ist.

Die Enttäuschung und damit Kränkung findet jedoch nur statt, wenn Menschen vor einer Krise oder großen gesellschaftlichen Veränderung einen höheren Status inne hatten oder es zumindest die Erwartung darauf gab. Die alte Mittelschicht erleidet diesen Verlust direkt. Und ein erfolgloser Akademiker hatte sich vermutlich mehr erhofft. Ein Hartz-4-Empfänger jedoch wird weniger oder gar nicht gekränkt sein, weil er ohnehin keine hohen Erwartungen an sein Leben hatte.

Solche Erwartungsenttäuschungen gibt es freilich auch in Unternehmen, wenn wir beispielsweise an eine ausgebliebene Beförderung denken. Damit lässt sich auch erklären, warum manche Mitarbeiter*innen trotz persönlichen oder globalen Krisen weitermachen, als wäre nichts geschehen, während andere eine Zurückweisung und Kränkung erleben.

Jeder Mensch hat unterschiedliche Triggerpunkte

Dabei zeigt sich, dass jeder Mensch unterschiedliche Kränkungspunkte hat:5

Welche emotionalen und gesundheitlichen Folgen haben Kränkungen?

In Krisen verlieren Menschen einen Teil der Kontrolle über ihr Leben. Bislang hatten sie eine Arbeit, verdienten für sich und andere ihren Lebensunterhalt und wirkten zudem als Vorbild für ihre Kinder. Nun scheint all das auf dem Prüfstand zu stehen. Die damit verbundene Bloßstellung, nicht krisensicher oder wie es in der Pandemie für manche Berufsgruppen hieß „nicht systemrelevant“ zu sein, kann beschämend sein. Plötzlich habe ich keinen Wert mehr für die Gesellschaft. Ich bin also nicht gut genug. Scham jedoch ist schmerzhaft, weshalb sie oftmals durch Wut überdeckt wird.6

Wut wiederum verengt unseren Blick. Wir sehen dann nur noch den Auslöser unserer Scham oder unseren Widersacher. Gibt es einen Widersacher, beispielsweise eine Führungskraft als Hiobsbotschaftenüberbringer, fokussiert sich unsere Wut auf diese Person. Gibt es kein direktes Subjekt, an dem wir unsere Wut auslassen können, verschiebt sich die Wut auf andere unklare Subjekte wie die Eliten oder Weltverschwörer*innen. Dass Krisen meist aus einem Zusammenspiel vieler kaum durchschaubarer und global vernetzter und voneinander abhängiger Faktoren entstehen, ist schwerer zu fassen.

Während persönliche Kränkungen oft mit einem Ausschluss aus einer Gruppe zu tun haben, schweißen die Kränkungen ganzer Gruppen diese noch mehr zusammen: Bevor wir noch mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, schließen wir uns selbst aus und gehen aktiv gegen die Gesellschaft vor, wie es beispielsweise in Frankreich mit der Gelbwesten-Bewegung passiert. Für viele Mitglieder der Gelbwesten spielt(e) der Stolz, seinen Lebensunterhalt mit einfacher Arbeit zu verdienen vor den Reformen von Emanuel Macron eine wichtige Rolle. Dass dies aus eigener Kraft nicht mehr möglich ist, geht einher mit einer tiefen persönlichen Kränkung.

Ein gekränkter Mensch wiederum ist nicht mehr bereit, auf seine vermeintlichen Aggressoren zuzugehen oder auch nur die Erwartung zu haben, dass sich etwas zum Besseren wendet. Dadurch entsteht der Teufelskreis einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung. Die aktive Kränkungssituation ist zwar vorbei. Es werden jedoch stetig Zeichen gesucht und gefunden, um neue Kränkungen ausfindig zu machen.

Starke Kränkungen können bis zu einem dauerhaften Alarmmodus führen, um sich vor neuen Angriffen zu schützen. In diesem Fall spricht man von Verbitterungen. Der Körper befindet sich damit in einer auslaugenden Daueranspannung. Dauerhafte Kränkungen begünstigen unter anderem Angststörungen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen, Sucht oder Burnout.7

Wie gehen wir am besten mit Kränkungen in Krisen um?

1. Abstand hilft beinahe immer

Wie dargelegt setzt sich mit einer Kränkung eine negative Kettenreaktion in Gang, die schwer wieder aufzuhalten ist: Kränkungen führen zu Scham, diese zu Wut, diese zu einem Tunnelblick, der einen offenen Blick auf die Situation verhindert und damit auch eine kreative Auseinandersetzung mit der Krise. Um diese Kettenreaktion zu unterbrechen, hilft beinahe nur eins: Mit Abstand, Ruhe und Geduld einen sachlichen Blick auf die Situation zu werfen:

  • Was verändert sich wirklich?
  • Was bleibt gleich?
  • Welche Veränderung ist bedrohlich?
  • Welche werde ich leicht meistern können?
  • Und welche wird anstrengend, aber ich werde es dennoch schaffen?

2. Gruppen wirken stärkend und verstärkend

Da in Krisen ganze soziale Gruppen gekränkt werden, liegt es nahe, hier Zuflucht, Beistand und Unterstützung zu finden. Dies wirkt im ersten Moment stärkend, kann jedoch den wütenden Blick auf die Ursachen oder vermeintlichen Verursacher der Krise zusätzlich verengen. Dieses Phänomen der Gruppenbildung sehen wir aktuell an vielen Punkten, wenn es um Essenskonsum, Positionen im Ukrainekrieg beziehungsweise Unterstützung der Ukraine versus Friedensverhandlungen, Fahrverhalten oder Energiesparen geht. Schnell bilden sich zwei Gruppen, die sich gegenseitig in digitalen Netzwerken beleidigen, beschämen oder auch „nur“ humorvoll bloßstellen. Doch nur weil eine Gruppe adressiert wird, muss ich mich davon – auch wenn ich ein Teil dieser Gruppe bin – nicht angesprochen fühlen. Sinnvoller wäre es, aus diesem Solidarismus auszubrechen, sich seine eigene Meinung zu bilden und damit den gedanklichen Grundstein zu legen, um sich auf eine Neue Normalität einzulassen.8

Dasselbe Spiel findet logischerweise auch in Unternehmen statt. Auch hier gibt es Gruppenbildungen und Konfrontationen zwischen „denen da oben“, den „Mitläufern“, den „Blockierern“ und denen „Dazwischen“ (das sind meist die Führungskräfte selbst, außer sie zählen sich zu einer anderen Gruppe). Und auch hier ist es wichtig, sich seine eigene Meinung und damit gegebenenfalls neue Gruppen zu bilden. Vielleicht entstehen dann die „Vorsichtigen“, „Skeptischen“, „Optimistischen“, „Schnellen“ und „Vermittelnden“.

Gleichzeitig kann ich nur durch einen eigenen neutralen Blick auf die Kränkungen durch die Krise auch anderen krisengebeutelten Menschen in meiner ursprünglichen Gruppe langfristig und konstruktiv bei der Bewältigung der Krisefolgen helfen.

1Vgl. www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/praevention/kraenkungen-folgen.html

2Vgl. https://digital-magazin.de/kraenkungen-des-menschen-digitalisierung

3Vgl. Michael Hübler: New Work. Menschlich. Demokratisch. Agil

4Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten

5Vgl. Die personale Ebene im ATCC-Ansatz: https://soundcloud.com/user-534548529/personale-ebene_atcc

6Vgl. www.deutschlandfunkkultur.de/psychologie-das-gekraenkte-ich-100.html

7Vgl. www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/praevention/kraenkungen-folgen.html

8Vgl. Michael Hübler: Wir sollten reden! Respekt und Koonfliktfähigkeit in gereizten Zeiten

Das Leben in verwirbelten Zeiten

Vor etwa 25 Jahren begeisterten mich die Sandman-Comics von Neil Gaiman zum ersten mal. Aktuell stieß ich durch die gleichnamige Netflix-Serie wieder auf den Sandman-Kosmos. Dort gibt es eine Figur namens Rose Walker. Einen sogenannten Wirbel, der es schafft, in fremden Träumen aufzutauchen. Diesen Gedanken finde ich faszinierend. Normalerweise bauen wir unsere Träume um uns herum auf. Und wenn wir jemanden in sie einladen, geschieht das aufgrund unseres Willens. Ein Wirbel mischt sich eigenständig ein, was natürlich verwirrend ist.

Das Gleiche lässt sich auf unser Wachsein übertragen. Noch vor kurzem konnten die meisten von uns relativ unbehelligt ihr Leben leben. Natürlich gab es Ausnahmen: Marginalisierte Gruppen, Arbeitslose, Benachteiligte, usw. hatten es immer schon schwer. Doch für den Rest galt mehr oder weniger das Motto „Leben und leben lassen“. Dies hat sich seit Corona massiv verändert. Sowohl der Staat als auch andere Menschen mischen sich mehr denn je in unser Leben ein.

Wir können also analog zum Sandman’schen Wirbel behaupten in verwirbelten Zeiten zu leben: Lass dich impfen! Nein, bloß nicht! Bist du pro oder contra Ukraine, Gendern, usw.?

Wo ist der Halt?

In solchen Krisenzeiten sucht die Menschheit nach einem Halt inmitten des gesellschaftspolitischen Sturms. Dieser Halt kann unterschiedlich aussehen:

  • Der Glaube des Wissenschaftlers an die Objektivität des Forschens.
  • Die Flucht vor der Absurdität des Lebens in Religion und Esoterik.
  • Die Orientierung an Traditionen (beispielsweise Dorffeste), eine politische Partei als Vertreter der eigenen „richtigen“ Werte oder an einer vermeintlich objektiven Weltanschauung bzw. Prinzipien der Aufklärung, Vernunft und Rationalität.

Wie also finden wir Halt? Die Sache mit den Werten ist kompliziert, wie ich finde. Wer lange genug wartet, erkennt, dass was gestern noch falsch war heute richtig ist und umgekehrt. Die Atomkraft ist aktuell das beste Beispiel dafür. Sinnhaftigkeit kann also nur im (zeitlichen) Kontext stattfinden. Gleichzeitig kann einen der Blick in die Zukunft (in spätestens einem Jahr werden wir wieder neu über Atomkraft diskutieren) verrückt machen. Schließlich müssen wir heute Entscheidungen treffen und nicht in einem Jahr. Und ob diese richtig sein werden, können wir nur erahnen. Zumindest könnte ein schwarmintelligenter Ansatz dabei helfen, gute Kompromisse zu finden, die auch in der Zukunft tragfähig sind.

Die negative Alternative, wenn uns der Halt verloren geht, hat meist mit Drogen oder Suizid zu tun. Der Konsum von Tabak ist während Corona um 30% gestiegen. Der Alkoholkonsum (externer Link) hat durch die Lockdowns und Kontaktbeschränkungen ebenfalls zugenommen. Offensichtlich fällt es dem Menschen schwer, auf sich alleine gestellt, den Sinn seines Daseins zu ergründen, weshalb er häufiger zu Fluchtmitteln greift.

Brauchen wir also klare Werte (beispielsweise die Solidarität mit der Ukraine im Team Nato), für die wir stehen, wohl wissend, dass sich diese evtl. in einigen Monaten verändert haben werden? In Krisenzeiten scheint es ein Bedürfnis nach Hop- oder Top-Positionen zu geben. Gibt uns das zumindest einen temporären Halt in verwirbelten Zeiten? Gleichzeitig sind es genau diese Werte der Menschen, die zu neuen Konfliktlinien führen.

Oder gibt es andere Möglichkeiten zur Stabilisierung?

  • Tägliche Rituale (wie der Tatortreiniger sagt: Einfach weitermachen)? Wenigstens ist am Wochenende Fußball, das Oktoberfest steht vor der Tür und am Dienstag-Abend ist Stammtisch.
  • Eine Aufgabe im Leben finden, die die Welt nicht verändert, aber der eigenen kleinen Welt einen Sinn verleiht?
  • Sich um das eigene Umfeld kümmern (ohne über die Weltpolitik zu sprechen)?
  • Sich selbst Prinzipien eines guten Menschseins auferlegen? Ja, was macht eigentlich einen guten Menschen aus und wie oft orientieren wir uns an solchen Prinzipien im Alltag?
  • Und nicht wenige in meinem Umfeld „flüchten“ (ohne Wertung, ich reise selber sehr gerne, um abzuschalten) sich in Reisen, Religion oder Spiritualität.

Wie also findet der Mensch Halt und Orientierung in Krisenzeiten? Durch meditative Abgrenzung am besten verbunden mit Selbstreflexion, soziales Engagement, Spiritualität, Rationalismus, eigene Prinzipien, Rituale, Lebensaufgaben oder etwas ganz anderes?

Mit Selbstfürsorge den eigenen Blick erweitern

Wie Du in die Welt hineinschaust, schaut sie heraus

Dass wir anders auf Situationen schauen, wenn es uns selbst gut oder schlecht geht, ist bekannt. Unsere Wahrnehmung wiederum prägt unsere Handlungen, und diese den weiteren Verlauf einer Situation.

Ein einfaches Beispiel: Mitarbeiterin A kommt gestresst in die Arbeit und reagiert deshalb unwirsch auf einen Kundenwunsch, der in einem neutralen Licht besehen einer ganz normalen Anfrage gleicht. Wäre sie weniger gestresst, hätte sie sachlich nachhaken, was der Kunde sich konkret vorstellt und anschließend in aller Ruhe entscheiden können, wie sie mit der Anfrage verfahren will.

Unterschiedliche Sicht, unterschiedliche Bewertungen

Kurzum: Unter Stress betrachten wir vermeintlich harmlose Anfragen als Angriff. In Entspannung, d.h. wenn es uns gut geht, haben wir viele Möglichkeiten der Bewertung der Situation:

  • Es könnte ein Angriff sein.
  • Es könnte aber auch eine normale Anfrage sein.
  • Der Kunde könnte unverschämt sein.
  • Er könnte aber auch einfach neugierig sein.
  • Er könnte sogar unsicher sein, weil er ein Detail des Vertrags noch nicht verstanden hat und lediglich nach Klarheit sucht.

All das kann, muss jedoch nicht sein. Wir finden es jedoch erst heraus, wenn wir nicht unter Stress stehen und unseren Blick für diese Möglichkeiten öffnen.

Wie jedoch ist das möglich? Mitarbeiterin A hat in unserem Beispiel nun einmal Stress. Das Kind wollte nicht in die Kita. Der Wagen muss in die Reparatur. Der Reisepass für den kommenden Urlaub ist immer noch nicht da. Der Mann liegt zuhause mit einer Sommergrippe darnieder. Und Bibi und Tina sind lediglich Filmfiguren und ein HexHex funktioniert in der realen Welt leider nicht. Was also tun?

Der Selbstfürsorge-Boxenstopp

Neben Achtsamkeitsübungen bietet sich hier die Beschäftigung mit der eigenen Selbstfürsorge an:

  • Wie gut oder schlecht sorge ich für mich?
  • Was bedeutet für mich Selbstfürsorge? Mich besser zu ernähren? Mir Regenerationspausen zu gönnen? Mich zu besinnen? Mich selbst wohlwollend zu betrachten? Mich mit mir zu beraten? …
  • Was könnte sich verändern, wenn ich mich besser um mich kümmern würde?
  • Woran erkenne ich, dass ich gut für mich sorge?
  • Inwiefern könnte eine positive Selbstfürsorge dazu führen, dass ich meine Ziele im Leben besser erreiche, meine Werte lebe oder Ansprüche und Ideale im Alltag besser umsetze?
  • Was würde passieren, wenn ich mit einer guten Selbstfürsorge auf anstrengende Situationen blicke? Was könnte sich dadurch verändern?
  • Inwiefern könnte sich mein Kommunikations- und Konfliktverhalten verändern?

Nach einer ersten grundlegenden Beschäftigung mit dem Thema Selbstfürsorge sollte es leicht fallen, einen täglichen Boxenstopp mit der Frage „Habe ich mich heute schon gut um mich gekümmert? Wenn nein: Was kann ich mit genau jetzt Gutes tun?“ einzuführen.

Dabei soll es nicht darum gehen, Stress oder Probleme wegzuretuschieren und zu individualisieren. Dennoch macht es einen Unterschied, ob ich mich selbst mit oder ohne Regenschirm einem Platzregen aussetze.

(Die Übung wurde inspiriert von Thomas Stölzl: Fragen, Lösungen, Fragen; ein Buch, das ich aufgrund seiner Vielzahl an philosophischen Übungen nur wärmstens empfehlen kann)

Nach der Distanz kommt die Neue Stabilität, oder: Worum sollte es in aktuellen Teamentwicklungs-maßnahmen gehen?

Warum es einen echten Neustart braucht

Über 2 Jahre gab es kaum Teambildungsmaßnahmen. Nun, da die Distanz sich weitgehend aufgelöst hat, sind Organisationen gezwungen, die neue Nähe der Kolleg*innen neu zu meistern. Ein einfaches „Weiter so“ kann es kaum geben. Ein „Auffrischen der vorpandemischen Zusammenarbeit“ wird auch nicht funktionieren. Stattdessen braucht es aus vier Gründen einen echten Neustart:

  1. Hybride Zeiten: Wir leben in hybriden Zeiten. Es gibt gute Gründe für Homeoffice und gute Gründe für einen Austausch in Präsenz. Die Zusammenarbeit auf Distanz war geprägt vom Verzicht. Es ging nunmal nicht anders, als auf Distanz zu bleiben. Nun geht es um ein genaues Austarieren, was in welcher Form sinnvoll ist. Das macht es nicht einfacher, am Ende jedoch (hoffentlich) produktiver und menschlicher.
  2. Irritationen und Konflikte: Durch die Distanz ergaben sich bestenfalls Missverständnisse und Irritationen, teils aus innerbetrieblichen, teils auch außerbetrieblichen Gründen. Werden diese nicht ausgeräumt – wozu im Alltag selten Zeit ist – kann es langfristig zu Missstimmungen und Konflikten kommen.
  3. Persönliche Entwicklungen: Viele Menschen entwickelten sich auf Distanz weiter. Der auf sich zurückgeworfene Mensch dachte über sich und seine Arbeit nach. Manche freuten sich vielleicht, endlich wieder die Kolleg*innen in Präsenz zu sehen. Andere vermissen die Zeit im Homeoffice, die Ruhe, die zwischenzeitlich neue Ordnung des Lebens, eine bessere Work-Life-Balance oder stellen sich die Sinnfrage ihrer Arbeit (siehe auch mein Artikel zu Antiwork).
  4. Von der Krise zur Dauerkrise: Während in vorpandemischen Zeiten bereits starke Belastungen, Arbeitskräftemangel und eine hohe Bürokratisierung vorherrschte, besteht die neue Arbeitswelt aus Dauerüberlastungen und noch mehr Arbeitskräftemangel. Eine Beschäftigung mit der Qualität der Arbeit zeigt, dass es hier natürliche Grenzen gibt, wenn nicht genügend Kolleg*innen vorhanden sind:

Meist geht es dann entweder langsamer oder die Qualität leidet. Auch darauf sollte in einer Teamentwicklungs-maßnahme eingegangen werden, um den Druck auf die Mitarbeiter*innen zu verringern und die Erwartungen an sich selbst sowie untereinander zu klären.

Die Dauerkrisenstimmung zeigt allerdings auch, dass alte Gewissheiten, Orientierungen und Stabilitäten vermutlich dauerhaft verloren gingen.

Eine Anleitung von der Stange schließt sich in Teamentwicklungen logischerweise aus. In den Maßnahmen, die ich aktuell begleite geht es um:

  • Sinnvolle Strukturierungen, um besser mit Komplexität umzugehen,
  • die Vereinbarung neuer Zusammenarbeitsregeln im Umgang mit Dauerbelastungen,
  • den Austausch von gegenseitigen Erwartungen,
  • der Klärung, ab wann eine Arbeit gut erledigt wird,
  • bis hin zu grundsätzlichen Klärungen der Zusammenarbeit, von Missverständnissen und Konflikten.

Neuorientierung und Neuverwurzelung

Wenn wir uns die Welt von heute ansehen, sollte es bei Teamentwicklungen jedoch grundsätzlich darum gehen, als einzelner Mensch – nach der Phase der Distanzierung – wieder mehr Demut zu entwickeln, die Welt nicht alleine retten zu können. Die Wahrnehmung, lediglich ein Teil eines größeren Systems zu sein, stutzt nicht nur das eigene Ego zurück, sondern lässt sich in unserer modernen Arbeitswelt als unabdingbar betrachten.

Der moderne Mensch lässt sich als „Homo proicere“ schreiben. „Das Wort „Projekt“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „das vorwärts Geworfene oder Ausgestreckte“. „Homo proicere“ bedeutet damit der „vorwärts geworfene Mensch“ – der Mensch, der kaum noch im Jetzt lebt, sondern sich stattdessen von Projekt zu Projekt, von Job zu Job, von Aufgabe zu Aufgabe hangelt, ohne fortlaufende Kontinuität und erst recht ohne aufgearbeitete Fehler.“ (Michael Hübler – Die Bienenstrategie)

Wer bei einer solchen dauerhaften Hektik, inklusive Arbeitskräftemangel, fordernden Kund*innen und offenen Türen keine Stabilität findet, landet bald im Burn-out.

Früher fand der Mensch häufig Orientierung an materiellen Dingen, sowohl in der Arbeitswelt als auch privat. Wir erinnern uns an die uralte Werbung der Sparkasse: Mein Haus, mein Auto, mein Pferd, bzw. mein Schreibtisch, mein Computer, mein Sitzplatz. In einer hybriden Welt löst sich das auf. Was jedoch bleibt sind die Beziehungen. Und hier können wir von symbiotischen Pflanze-Tier-Beziehungen und Schwärmen aus der Tierwelt einiges lernen. Wer mehr darüber erfahren will: https://www.metropolitan.de/buch/die-bienen-strategie

Was also braucht der moderne Mensch als (neue) Orientierung:

  • Feste Rituale (spannend moderierte Meetings, Ausflüge, Begegnungen, Gespräche), um sich mit anderen auszutauschen.
  • Eine eigene Rolle, die mich als Mensch besonders macht, in der Regel verbunden mit einer bestimmten Leistung, die mich auch in der Digitalisierung unersetzlich macht.
  • Und klare Regeln und Richtlinien für einen guten Umgang miteinander und eine gute Zusammenarbeit.

Wenn die bisherigen Wurzeln nicht mehr vorhanden sind, braucht es neue Wurzeln. Wer oder was, wenn nicht die Beziehungen im Team könnte für diese Wurzeln stehen, um wieder Stabilität in die Arbeitswelt zu bringen?