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Warum bei Stress Reden oft nicht weiterhilft

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Die drei Aktivierungsstufen von Stress

Das kennt vermutlich jede/r: Wir stehen unter Stress und bekommen gute Ratschläge von anderen, wie wir besser damit umgehen könnten. Da heißt es: „Geh’ doch mal eine Runde spazieren. Ein wenig in die Sonne und an die frische Luft.“ Oder: „Versuch’ doch mal die positiven Seiten an der Sache zu sehen.“

Was in normalen Stress-Situationen harmlos ist oder sogar wütend macht, kann in besonders schwierigen Situationen, beispielsweise depressiven Phasen, die Situation sogar verschlimmern. Denn wer nicht einmal in der Lage ist, solche einfachen Ratschläge zu befolgen, die wertungsfrei betrachtet durchaus hilfreich sind, ist offensichtlich verloren. Hier gilt wohl der Spruch „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.

Warum jedoch tun wir uns oft so schwer, gut gemeinte Ratschläge anzunehmen?

Neben der Tatsache, dass jeder Mensch anders ist und deshalb auch Tipps nur bedingt übertragbar sind, ist unsere psychische und körperliche Gesundheit ein hochkomplexes System. Vereinfacht formuliert reagieren wir unter Stress

  1. mit einer Aktivierung („Obacht, da muss ich aufpassen!“),
  2. mit Kampf („Jetzt gilt es!“) oder Flucht („Da nehme ich wohl besser die Beine in die Hand“) und
  3. bei längerer Belastung ohne Fluchtmöglichkeit mit kurzfristiger oder dauerhafter Erstarrung („Wenn ich schon nicht ständig blau machen oder meinem Chef Paroli bieten kann, mache ich mich wenigstens unsichtbar“).

Ein aufgebrachter Mensch könnte durchaus in der Lage sein, die positiven Seiten einer Krise zu sehen. Ein Mensch im Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus ist dies mit Sicherheit nicht. Solche Tipps passen daher häufig nicht zum aktuellen Zustand.

Das Zusammenspiel unserer Nerven

Zur Aktivierung und Beruhigung unter Stress spielt in unserem Körper neben dem Sympathikus und Parasympathikus als Teil unseres vegetativen Nervensystems der Vagus-Nerv eine wichtige Rolle. Der Vargus-Nerv wird auch als Hirnnerv bezeichnet, weil er direkt von unserem Gehirn bis in unseren Darm reicht. Als Hirnerv funktioniert der Vagus wesentlich komplexer als Sympathikus und Parasympathikus. Ein Teil des Vagus, der sogenannte Erstarrungs-Vagus ist dafür zuständig, uns in besonders stressigen Situationen möglichst klein zu machen. Ein anderer Teil des Vagus, der sozial-vegetative Vagus ist dafür zuständig, unsere Darmtätigkeiten unter Stress zu regulieren und soziale Beziehungen zu pflegen, indem er Einfluss auf unsere Emotionen und Mimik nimmt. Da unser Vagus-Nerv hochverzweigt durch unseren halben Körper verläuft, ist sein Einfluss hochkomplex.

Die verschiedenen Teile des Vagus-Nervs lassen sich unterschiedlich beruhigen oder aktivieren. Der Erstarrungs-Vagus wird bei kleinen Kindern durch Begrenzungen beim Wickeln trainiert. Wenn wir später Freunde umarmen oder uns in eine warme, dicke und schwere Decke hüllen, spüren wir diese Grenze ebenso. Der Trick dahinter ist die sanfte, freiwillige Gewöhnung. Wer auf diese Weise seinen Erstarrungs-Vagus trainiert, geht später unter Stress besser mit einer erzwungenen Erstarrung um.

Der sozial-vegetative Vagus wird durch eine gesunde Ernährung und stützende Beziehungen aktiviert, beispielsweise über verlässliche Freundschaften, gute Kolleg*innen, Spiritualität oder eine tragende und vertrauliche Coach-Klienten-Beziehung.

Dabei zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Sozialen und unserer Verdauung. Gute Bindungen fördern die Ausschüttung des Bindungshormons Ozytocin, das wiederum unseren Darm verlangsamt, damit er auch mit schwerdaulichen Speisen fertig wird. Dass Liebe durch den Magen geht oder uns ein Konflikt schwer im Magen liegt, ist daher weniger blumig formuliert als auf körperliche Tatsachen zurückzuführen.

Erst der Körper, dann das Reden

Nun haben Stress, insbesondere Dauerstress oder traumatische Erfahrungen die Eigenart, dass sich schwer darüber sprechen lässt. Es kann sogar sein, dass ein Darüber Sprechen sogar zu Retraumatisierungen führt. Aus diesem Grund ist es oft hilfreich, zuerst auf einer körperlichen Ebene anzusetzen:

  1. Den Erstarrungs-Vagus mit Bewegung beruhigen: Bei Menschen, die aufgrund dauerhaften Stresserlebens erstarrt sind, kann es hilfreich sein, den Körper durch Atemübungen, Sport, Spaziergänge oder Tanzen zuerst wieder in Bewegung zu bringen. Der Tipp mit der Bewegung an der frischen Luft ist intuitiv also durchaus passend. Er sollte jedoch mit einem tiefen Verständnis dafür gepaart sein, dass bereits das für manche Menschen nicht einfach ist. Vielleicht ist in so einem Fall ein medizinisches Trampolin eine gute Alternative.
  2. Den Sympathikus entspannen: Nimmt die Erstarrung ab, gerät der Mensch entweder in einen Kampf- oder Fluchtmodus. An einem Beispiel: Wer realisiert, dass er sich vor seinem übergriffigen Chef nicht mehr klein machen sollte, steht nun vor der Wahl, sich entweder zu verteidigen oder – wenn ihm dafür noch die Kompetenzen fehlen – aus kritischen Situationen beispielsweise durch Krankheit oder humorvolle Ablenkungen zu flüchten. Die Auflösung der Erstarrung bringt folglich neue Herausforderungen mit sich. An dieser Stelle eines Coachings oder einer Therapie gilt es daher die Handlungskompetenz durch Resilienz-, Achtsamkeitstrainings, Entspannungsübungen, entspannende Musik oder auch Körpertrainings wie Yoga oder Thai Chi so vorzubereiten, dass eine stressige Situation ausgehalten wird, ohne zuzuschlagen oder wegzurennen. Auch hier wirken Bindungen Wunder, beispielsweise durch das geduldige Vertrauen eines Coaches in seine Klienten.
  3. Den sozial-vegetativen Vagus fördern: Auf der dritten Stufe schließlich kann nun endlich – dank der Vorbereitung – das eigentliche Coaching sozialer Kompetenzen trainiert werden.

Anhand dieser physiologischen Zusammenhänge lässt sich nicht nur erklären, wie in unserem Körper insbesondere aufgrund des Vagus-Nervs Denken, Fühlen, Verdauung, Auftreten, Sprechen, Mimik, Atmung, usw. miteinander verbunden sind, sondern auch, warum manche Trainings- oder Coaching-Maßnahmen scheitern, wenn sie zu schnell auf die Kompetenzen-Schiene abzielen.

Als Coach hatte ich es bislang selten mit Coachees in Erstarrung zu tun. Erstarrung findet eher in therapeutischen Settings aufgrund starker Traumata statt. Den zweiten Schritt vor dem dritten zu machen, d.h. zuerst den Sympathikus zu beruhigen und sich dann – in Ruhe – der Entwicklung von Kompetenzen zu widmen, ist jedoch enorm hilfreich.

Diese Vorgehensweise findet sich u.a. im Focusing, einer Weiterentwicklung der Gesprächstherapie. Hier wird zuerst der sogenannte Freiraum des Klienten gefördert: „Sitzen Sie gut? Brauchen Sie etwas zu trinken? Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt, um erst einmal hier anzukommen“. Erst dann wird über mögliche Veränderungen gesprochen.

Literatur:

Gregor Hasler – Die Darm-Hirn-Connection

Dr. Hildegard Nibel und Kathrin Fischer – Neurogenes Zittern

Eugene T. Gendlin – Focusing