(Der folgende Text findet sich ausführlicher in meinem eBook „Du bist nicht schuld“ als Kindle-Version auf Amazon, wurde jedoch an manchen Stellen aktualisiert.)
Warum kochen bei vielen Menschen die Emotionen bei Themen wie Corona, Atomkraft, Krieg, Gendern, usw. so hoch wie vermutlich noch nie in unserer Geschichte? Dies mag zum einen an der Digitalisierung liegen. Im Internet treffen Filterblasen aufeinander, die ansonsten nichts miteinander zu tun hätten. Zudem sind Diskussionen in digitalen Medien nicht gerade produktiv, sondern eskalationsfördernd. Untersuchen wir jedoch den Ursprung solcher Eskalationen, stoßen wir schnell auf das Phänomen der Kränkung, einen Begriff, mit dem sich auch die Autoren Oliver Nachtwey und Carolin Amringer bei ihrer Untersuchung des Querdenken-Milieus beschäftigen.
Die großen Kränkungen der Menschheit
Kränkungen gibt es nicht erst seit kurzem. Auf der einen Seite gibt es die alltäglichen Kränkungen beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz oder die Nichtbeachtung im Falle einer Beförderung. Daneben gibt es jedoch auch die mit großen Umbrüchen und Veränderungen verbundenen Kränkungen der Menschheit oder zumindest großer Teile von Bevölkerungsschichten. Nachdem Sigmund Freud auf drei große, globale Kränkungen hinwies, kommen im Zuge der Digitalisierung und insbesondere dem Einsatz einer KI wie ChatGPT weitere Kränkungen hinzu:1
- Die erste Kränkung bestand nach Freud darin, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist.
- Die zweite Kränkung bestand in der Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und damit nicht die Krone der Schöpfung Gottes ist.
- Die dritte Kränkung bestand darin, dass es ein Unterbewusstsein gibt und der Mensch weniger Kontrolle über sein Leben hat, als er bislang dachte.
- Die vierte Kränkung begann in den 50er Jahren mit der Automatisierung der Arbeitswelt. Zwar helfen Maschinen dem Menschen, schwere oder stupide Arbeiten zu erledigen. Dennoch droht damit immer auch die Ersetzbarkeit des Menschen. Und je schneller und genauer unsere Computer werden, desto größer ist die Kränkung.
- Die fünfte Kränkung schließlich sieht intelligente Computer als dem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen an. Mit Big Data lassen sich in wenigen Sekunden Zukunftsmodelle errechnen, für die der Mensch Jahre bräuchte.2 Und mit ChatGPT könnte es sogar kreativen Berufszweigen an den Kragen gehen.
Emotionen können Algorithmen noch nicht empfinden. Sollte jedoch eines Tages ein Computer dazu fähig sein, genauso spontan und emotional zu reagieren wie ein Mensch, wäre dies die sechste Kränkung. Filmische Visionen davon gibt es bereits. In Alien 4 beispielsweise spielt Winona Ryder eine Androidin, die menschlicher ist als die Menschen um sie herum. Wir sollten uns also darüber freuen, dass ChatGPT aktuell noch eher langweilige, weil rezitierende Ergebnisse liefert.
Natürlich war auch die Pandemie eine einzige große Kränkung. Wer glaubte, das Leben würde immer so weitergehen und wir müssten vor Epidemien wie der Pest keine Angst mehr haben, musste sich eines besseren belehren lassen. Auch der drohende Umweltkollaps, die Energiekrise oder ein Krieg direkt von der eigenen europäischen Haustür lassen sich als Kränkungen bezeichnen. Mutter Erde hat lange gebraucht, um nach jahrhundertelanger Ausbeutung “zurückzuschlagen”. Jetzt ist es wohl soweit. Und nachdem wir jahrzehntelang gut von billigem russischem Gas lebten, hat auch das ein Ende.
Dabei zeigt sich bei großen Menschheitskränkungen, dass nie alle Menschen gleich betroffen sind. Kopernikus war sicherlich nicht gekränkt, sondern die Kirche. Auch Darwin wurde vermutlich nicht durch seine eigenen Studien gekränkt. Wer während Corona ohnehin schon im Homeoffice war, musste sich kaum umstellen. Wer im Norden und nicht gerade am Wasser lebt, könnte den Klimawandel begrüßen. Und wer von Automatisierungen, der Digitalisierung, dem Internet und smarten Algorithmen profitiert, wird sich kaum von der Geschichte übergangen fühlen, sondern diese gesellschaftlichen Veränderungen als Chance betrachten. Wer jedoch bislang sein Geld mit Handarbeit verdiente und nun sieht, dass 2014 alleine der Verkauf von Whats App an Facebook 22 Milliarden Dollar wert war, fragt sich, ob die Welt, in der er sich befindet, noch die seine ist.
Die eigene Biographie als Kränkung
Eine Kränkung verletzt einen Menschen in seiner Ehre, Würde, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Sie erschüttert die eigenen Werte, den Selbstwert und Gerechtigkeitssinn. Kränkungen können nur stattfinden, wenn zuvor etwas anderes erwartet wurde. Sie haben immer mit einer Enttäuschung oder sogar einem Schock zu tun.3 Oftmals hängen Kränkungen auch mit einem Vertrauensbruch oder empfundenen Ungerechtigkeiten zusammen.
Wenn wir uns Personen ansehen, die häufig im Kreuzfeuer stehen, lassen sich klare Muster erkennen. Ein Dieter Nuhr war früher bei den Grünen und beobachtet nun, dass sich die einstige Friedenspartei doch ein wenig gewandelt hat. Auch ein Jan Fleischhauer betont, dass er früher politisch Links stand. Dass sich Menschen wandeln, wenn sie älter werden, ist logischerweise normal. Dennoch ist eine subliminale Kränkung nicht auszuschließen. Das gleiche Phänomen beobachte ich selbst auch in meinem Freundeskreis: „In den 80er-Jahren war die Rede vom sauren Regen, der unsere Wälder zerstört. Und jetzt hat sich der Bayerische Wald wieder erholt.“ Zumindest oberflächlich – den unsichtbaren Wassermangel ausgeklammert – scheint es so zu sein, als wäre es nicht so schlimm gekommen wie propagiert.
Anderes Beispiel: „Als Kind habe ich in den 80ern angefangen Müll zu trennen, nur um jetzt – über 30 Jahre später – in der Doku „Die Recyclinglüge“ auf ARD zu sehen, was wirklich mit dem Inhalt des Gelben Sacks passiert. Da fühlt man sich doch ein wenig vera…“.
Um bei diesem einen, drastischen Beispiel zu bleiben: Das jahrelange Recyceln scheint in diesem Fall wenig gebracht zu haben. Damit wird ein Teil der eigenen Überzeugungen entwertet. Gleichzeitig scheint in den letzten Jahrzehnten auf der großen politischen und industriellen Ebene wenig vorangekommen zu sein. Sprich: Wir haben unseren Müll getrennt, aber ansonsten ging es weiter wie gehabt.
Und die aktuelle Kriegsdiskussion folgt einem ähnlichen Schema: Während früher Friedensdemos in einer bestimmten Szene angesehen waren, gelten sie nun als unsolidarisch.
Kein Wunder, dass manche Menschen hier nicht mehr mitkommen und entweder auf die Barrikaden gehen oder sich zynisch von der Politik abwenden.
Vom Umgang mit Kränkungen
Wenn Kränkungen v.a. diejenigen betreffen, die sich etwas anderes erwarteten, ist auch denkbar, dass diejenigen Menschen, die sich in den letzten Jahrzehnten am meisten engagiert haben auch diejenigen sind, die am meisten gekränkt sind.
Bereits diese Erkenntnis könnte uns milder stimmen im Umgang miteinander, insbesondere wenn es um Generationenkonflikte geht. Denn jüngere Generationen konnten logischerweise noch nicht so stark enttäuscht werden wie engagierte, ältere Generationen.
1 Vgl. https://digital-magazin.de/kraenkungen-des-menschen-digitalisierung
2 Vgl. Michael Hübler: New Work (2018), S. 35ff
3 Vgl. www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/praevention/kraenkungen-folgen.html