Erschöpft vom Leben

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2022 befragte das Meinungsforschungsinstitut Civey 5000 Personen nach ihrem Grad der Belastung. Das Ergebnis: Etwa 50% der Befragten fühlten sich erschöpft. Von der Arbeit. Den täglichen Aufgaben, insbesondere bei Familien mit Kindern. Der Reizüberflutung in Großstädten. Den vielen Krisen um uns herum. Letztlich davon, das Leben gerade so zu meistern. Mehr aber auch nicht. Lebensfreude? Fehlanzeige. Als hätten sich viele von uns mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter Ziele gesetzt, denen sie nun zeitlebens hinterher hecheln: Haus abbezahlen, Karriere machen, Karriere der Kinder fördern, usw.

Paradoxerweise verschlimmern zwei vermeintliche Lösungsstrategien unseren Umgang mit Stress und Krisen nur noch mehr:

  1. Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, sich von den Belastungen des Alltags abzulenken. Doch das Überangebot an sehenswerten Serien, Filmen oder Dokus artet seinerseits in Stress aus.
  2. Noch nie kamen wir so leicht an Informationen über Krisen in der ganzen Welt. Wenn wir schon nicht imstande sind, die Welt zu retten, können wir uns zumindest über den Stand der Dinge informieren. Wissen ist Macht. Oder etwa nicht?

Hilfreich scheint das jedoch nicht zu sein. Denn wer einerseits wütend ist auf den Zustand der Welt oder auch nur auf die Politik der Ampelregierung, sich jedoch außer der Unterstützung einer Onlinepetition außerstande fühlt, etwas zu unternehmen, steht bereits mit einem Bein in der Depression. Denn: Zu wissen, was alles im Argen liegt und gleichzeitig handlungsunfähig zu sein, macht depressiv.

Digital Detox ist auch keine Lösung

Ein dauerhaftes „Digital Detox“ ist sicherlich keine Lösung. Je nach Lebenslage ist es durchaus wichtig beispielsweise die aktuelle Debatte um Gebäudesanierungen mitzubekommen, um vorbereitet zu sein. Auch das Wissen um Deep-Fakes oder die neuesten Trickbetrügermaschen ist hilfreich, um nicht halbblind durch die Welt zu segeln. Ohnehin stellt sich die Frage, wer es sich heute noch leisten kann, nicht digital unterwegs zu sein, und sei es nur zumindest eine Email-Adresse zu haben.

Die Adressatenfrage

Stattdessen sollten wir uns beim Konsum von Weltuntergangsnachrichten die Frage der persönlichen Relevanz stellen:

  • Betreffen mich Gebäudesanierungen, wenn ich selbst kein Haus besitze?
  • Betreffen mich Aufrufe zum „Kalt Duschen“, wenn meine Gasrechnung ohnehin eher bescheiden ausfällt?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Dass wir uns durch Nachrichten in die Probleme anderer Menschen hineinversetzen betrachte ich als eine der Hauptaufgaben von Medien. Medien sollten, wie der Name suggeriert, zwischen verschiedenen Personengruppen vermitteln. In diesem Sinne könnte ich eine Nachricht als Information betrachten: „Ah, das gibt es also auch.“ Mir scheint jedoch, dass sich in den letzten Jahren ein Reiz-Reaktions-Impuls oder besser Informations-Wut-Automatismus beim Medienkonsum etablierte, bei dem die Effekthascherei vieler Medien, insbesondere im digitalen Bereich, nicht ganz unschuldig ist. Die Welt geht sozusagen jeden Tag mindestens einmal unter. Und der große Bevölkerungsaufstand steht auch jederzeit im Raum. Ein Hoch auf das Prepper-Wesen! Ein Wunder, dass wir alle noch leben. Dennoch verlangt niemand von uns, auch nicht der Springer-Verlag, dass wir uns stetig direkt angesprochen fühlen, als müssten wir sofort handeln. Bei mir selbst rauschen viele Informationen einfach durch, weil ich mich ganz oft frage: Meinen die mich? Eher nicht.

Zur Verdeutlichung: Vor etwa 20 Jahren musste mein bescheidenes Pädagogengehalt für unsere kleine Familie ausreichen. Von einem Bekannten erfuhren wir von der Möglichkeit Wohngeld zu beantragen. Mein Verdienst lag knapp unter dem Regelsatz. Also nahmen wir die Armada an Unterlagen und Nachweisen in Angriff. Als wir alles beisammen hatten, um eine mögliche Förderung mit unserem Ansprechpartner auf dem Amt durchzusprechen, schaute uns dieser mit großen Augen an und meinte: „Da muss ein Fehler passiert sein. Niemand kann so wenig Gas und Strom verbrauchen.“ Aber die Belege stimmten natürlich. Dass wir sparsam sind, war uns bewusst. Dass wir so sparsam waren, war uns nicht klar. Und selbst in der aktuellen Energiekrise bekamen wir wieder einmal ein paar Euro von unserem Gasanbieter zurück, obwohl wir unser Verhalten nicht wirklich veränderten. Wenn ich heute ein Video von Winfried Kretschmann sehe, in dem er erklärt, wie man die Heizung über Nacht herunter dreht, entlockt mir das eher ein Schmunzeln als dass ich mich darüber ärgere. Es betrifft mich schlicht und einfach nicht.

Ich trenne seit 35 Jahren meinen Müll. Ich saß in meinem ganzen Leben vier mal in einem Flugzeug und fahre eher mit der Bahn als mit dem Auto. Kurzum: Das Thema Umwelt rauscht bei mir durch. Selbst die Klimakleber betreffen mich nicht, weil ich noch nie einem begegnet bin. Warum sollte ich mich also über etwas aufregen, dass mich nicht betrifft. Stattdessen betrachte ich Nachrichten darüber als das, was sie sind: Informationen ohne Wertung. Sie informieren mich, damit ich Bescheid weiß, was in der Welt passiert. Nicht mehr und nicht weniger.

Konzentration auf das, was uns wirklich betrifft

Gleichzeitig gibt es natürlich Themen, die mich direkt betreffen. Wenn 50% der Menschen tatsächlich wie in der eingangs beschriebenen Umfrage erschöpft sind, betrifft mich das als Coach und Seminarleiter. Auch ich bin schließlich mit Themen wie Stress und Resilienz unterwegs. Und insbesondere bei diesen Themen frage ich mich: Was können wir selber tun und wo sind wir schlichtweg nicht schuld, wie der Titel meines Ebooks (Externer Link: Du bist nicht schuld) zum Umgang mit Dauerbelastungen verdeutlicht. In diesem Spektrum haben viele Nachrichten für mich einen hohen Informationswert:

  • Lockdowns haben die psychische Gesundheit von Jugendlichen langfristig gefährdet.
  • Krankenhauspersonal soll mittels Resilienzseminaren fit gemacht werden, anstatt für mehr Personal zu sorgen.
  • Die Streiks in diesem Land nehmen ungewöhnlich zu. Ist die Zeit Belastungen auszuhalten für viele Personengruppen vorbei?

Zu solchen Nachrichten habe ich einen direkten Bezug. Auch das sind keine schönen Nachrichten. Aber sie affizieren mich. Die Informationen verärgern mich auch manchmal. Aber sie ermüden mich nicht, weil die Informationen als Hintergrund für meine Seminare dienen und mich zum Weiterdenken anregen, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann.

Die beiden Filterfragen

Letztlich geht es also umso zwei Fragen beim Konsum von Medien, um von der Fülle der Informationen nicht erschöpft zu werden: Was betrifft mich? Und was betrifft mich nicht?

Diese beiden simplen Fragen lassen sich sogar auf Bereiche übertragen, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind: Filme und Serien. Vor ein paar Jahren entdeckte ich für mich, dass mich ein Tatort aufgrund der Beschäftigung mit typisch deutschen Themen mehr affiziert als us-amerikanische Serien. Eine amerikanische Serie mag spannender und besser produziert sein, in dem Moment, wo ein Prototyp von US-Soldat sagt: „Ich würde für dieses Land sterben“, ist bei mir der Ofen aus. Dann doch lieber einen Einblick in die schrullige Seelenwelt von Niederkaltenkirchen bekommen.

Das gleiche Prinzip gilt freilich nicht nur für Nachrichten oder Filme, sondern im gesamten Leben. Auch unsere Arbeit wird häufig von einer Informationsüberflutung bestimmt, bei der wir uns fragen sollten: Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Sprich:

  • Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Wenn ja, muss ich mich wohl darum kümmern. Wenn nein, ist es vielleicht gar nicht so wichtig.
  • Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Wenn ja, ist es offensichtlich auch dringend. Wenn nein, sollte ich mich zuerst am Wichtigeres und Dringenderes kümmern.
  • Ist das jetzt wirklich für mich bestimmt? Wenn ja, muss tatsächlich ich mich darum kümmern. Wenn nein, sollte sich wohl jemand anders darum kümmern.

Auch der Lärm in der Großstadt ist nicht wirklich an uns adressiert oder das Schreien der eigenen Kinder. Sobald wir erkennen, was uns wirklich betrifft und was mehr oder weniger zufällig passiert, fühlen wir uns auch weniger angegriffen und zum Handeln verpflichtet. Und damit wird letztlich auch unsere Erschöpfung abnehmen.