[metaslider id=390]

Warum digitale Konflikte entstehen und wie eine Deeskalation im Netz funktioniert

Bild von pch.vector auf Freepik

2017 veröffentlichte der Soziologe Andreas Reckwitz sein Buch „Gesellschaft der Singularitäten“. Während der Begriff der Singularität u.a. auch im Transhumanismus zur Verbindung zwischen Mensch und Maschine genutzt wird, meint Reckwitz damit die Maxime des Besonderen in unserer Gesellschaft: In der Spätmoderne geht es nicht mehr darum, Sneakers zu besitzen, die meine Schulkameraden auch haben, sondern Sneakers zu tragen, die niemand anders besitzt. Es geht also weniger darum, nicht aufzufallen, sondern im Gegenteil darum sich aus der Masse emporzuheben.

Reckwitz ist Soziologe und geht daher lediglich am Rande auf mögliche Konflikte ein. Klar ist jedoch, dass die Betonung spezieller Merkmale und Vorlieben von Menschen, insbesondere im Internet, eher zu Abstoßungen als zu Annäherungen führt.

Wenn wir nun digitale Netzwerke als Treiber dieser Entwicklung hinzunehmen, ergeben sich 7 Schritte auf dem Weg zu immer extremeren Gruppierungen.

Ich spreche dabei ausdrücklich (noch) nicht von einer Extremisierung der Gesellschaft, da die Gesellschaft wesentlich differenzierter ist als ihr Abbild im Internet. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass digitale Konflikte auch ihren Weg auf die Straße finden, erscheint mir die Entwicklung dennoch noch besorgniserregender, als Reckwitz es 2017 bereits darstellte.

7 Schritte zu einer Extremisierung im Netz

  1. Die Spätmoderne als Zeitalter der Besonderheit: Während Technik früher das Leben standardisierte und der Mensch etwas haben wollte, was andere auch hatten, um dazuzugehören, nutzt der Mensch in der Spätmoderne Technik, Kleidung, etc., um sich von anderen abzugrenzen und etwas Besonderes darzustellen. Routinen und Rituale gelten als spießig. Das Einzigartige ist wichtiger als Standards. Bereits diese Dynamik führt zu einer Spirale auf der Suche nach dem Extremen, bspw. was eine besondere Optik oder hohe Preise angeht. Gerade Sneakers sind hierfür ein gutes Beispiel.
  2. Der Mensch als Produzent: Da jeder Mensch im Internet potenziell gleichzeitig als Konsument und Produzent auftreten kann, kann auch jeder seine eigene Besonderheit zur Schau stellen oder auch – als Produzent – die Besonderheit anderer mit Likes unterstützen bzw. ungeliebte Besonderheiten digital verteufeln. Damit einher geht ein früher ungekanntes Machtgefühl.
  3. Algorithmen als Treiber: Gleichzeitig kann jeder im Internet nach Seinesgleichen suchen bzw. wird durch algorithmisierte Angebote zusätzlich singularisiert. Er kann sich damit bestätigt fühlen, wodurch seine Besonderheit weiter extremisiert wird.
  4. Die Entstehung von Neogemeinschaften: In digitalen Netzwerken gründen sich Neogemeinschaften, deren Verbindung lediglich auf Besonderheiten beruht, beispielsweise Fremdenhass, Veganismus, etc. Dass jeder Mensch sich nicht nur durch Besonderheiten auszeichnet, sondern auch eine Familie, Hobbys, eine Arbeit, etc. hat, wird dabei ausgeblendet.
  5. Kampf der Filterblasen: Stoßen zwei konträre Neogemeinschaften in digitalen Netzwerken aufeinander, führt dies lediglich dazu, dass sie sich in ihrer Besonderheit bestätigt fühlen. Im Falle eines digitalen Angriffs kommt es zu Solidarität für die vermeintlich schützenswerte Besonderheit der betroffenen Person bzw. der gesamten Neogemeinschaft. Eskalierend wirkt zudem, dass in digitalen Netzwerken niemals unter vier Augen diskutiert wird, sondern potentiell die gesamte Welt mitliest. Gleichzeitig ist ein Austausch über nuancierte Abweichungen weniger möglich ist als in analogen Diskussionen. Aus diesen Gründen kommt es zu keinem echten Austausch oder gar einer Annäherung und damit zu einer Relativierung der eigenen Besonderheit.
  6. Affekte statt Versachlichung: Die Logik des Allgemeinen funktioniert über Versachlichung. Die Logik des Besonderen funktioniert über Übertreibungen, Empörung und Glorifizierung, um sich darzustellen und von anderen abzugrenzen. Solche Affekte wiederum fördern Gegenaffekte wie Wut oder Hass und führen zu noch mehr Abgrenzung bzw. einer weiteren Überhöhung der eigenen Position.
  7. Metaverse: In maßgeschneiderten Umwelten können diese Neogemeinschaften noch extremer werden. Nun wird niemand mehr mit anders Gesinnten konfrontiert. Man nistet sich ein und bleibt unter sich. Digitale Konflikte nehmen damit zwar (vermutlich) ab, sollten verschiedene Neogemeinschaften jedoch an anderer Stelle wieder aufeinander treffen, branden die Konflikte umso stärker wieder auf.

Ein 5-Punkte-Plan zur Deeskalation und gegenseitigen Annäherung

Um dieser Entwicklung entgegen zu treten, sind verschiedene Lösungsansätze denkbar:

  1. Das Gemeinsame betonen und wahrnehmen: Anstatt die eigene Besonderheit zu betonen und bei meinem Gegenüber wahrzunehmen, sollten wir wieder lernen, dass wir nicht nur ein Image haben, sondern hinter diesem Bild auch ein Mensch mit Familie, Hobbys, usw. steht.
  2. Bewusstheit der eigenen Macht: Wer als Produzent im Internet auftritt, hat auch Macht. Wie sagte Pipi Langstrumpf so schön: „Aus großer Macht erfolgt auch große Verantwortung.“ Und aus kleiner Macht erfolgt zumindest eine kleine Verantwortung.
  3. Nach gegenteiligen Meinungen suchen: Es ist zwar schön, sich bestätigt zu fühlen. Gegenteilige Ansichten können uns jedoch immer wieder „einnorden“. Ich persönlich lese bspw. parallel sowohl die konservative Zeitung „Die Welt“ als auch ein linkes Blatt wie den „Freitag“. Irgendwo dazwischen wird die Wahrheit schon liegen. Gleichzeitig sehe ich es kritisch, wenn Menschen in digitalen Netzwerken ungeliebte Personen blockieren oder löschen. Oder aber, man geht anstatt auf Algorithmen zu vertrauen, selbst aktiv auf Suche nach Personen in digitalen Netzwerken mit einer vermutlich ganz anderen Meinung.
  4. Diskussionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Wer wirklich Interesse an einem Austausch hat, sollte große Diskussionen vermeiden und vermehrt auf direkte Nachrichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit setzen.
  5. Affektreaktionen vermeiden durch mehr Empathie: Wir sollten uns bewusster als bisher machen, welche Wirkung die Übertreibung des Besonderen auf andere hat. Wer sich wie Franck Ribery beim Essen eines Blattgold-Steaks für 1200 € ablichten lässt, sollte wissen, welche Affekte er damit bei manchen Menschen auslöst.

Der gekränkte Mensch der Moderne: Pandemie, Umwelt, KI und die eigene Biographie

Bild von redgreystock auf Freepik

(Der folgende Text findet sich ausführlicher in meinem eBook „Du bist nicht schuld“ als Kindle-Version auf Amazon, wurde jedoch an manchen Stellen aktualisiert.)

Warum kochen bei vielen Menschen die Emotionen bei Themen wie Corona, Atomkraft, Krieg, Gendern, usw. so hoch wie vermutlich noch nie in unserer Geschichte? Dies mag zum einen an der Digitalisierung liegen. Im Internet treffen Filterblasen aufeinander, die ansonsten nichts miteinander zu tun hätten. Zudem sind Diskussionen in digitalen Medien nicht gerade produktiv, sondern eskalationsfördernd. Untersuchen wir jedoch den Ursprung solcher Eskalationen, stoßen wir schnell auf das Phänomen der Kränkung, einen Begriff, mit dem sich auch die Autoren Oliver Nachtwey und Carolin Amringer bei ihrer Untersuchung des Querdenken-Milieus beschäftigen.

Die großen Kränkungen der Menschheit

Kränkungen gibt es nicht erst seit kurzem. Auf der einen Seite gibt es die alltäglichen Kränkungen beispielsweise durch Mobbing am Arbeitsplatz oder die Nichtbeachtung im Falle einer Beförderung. Daneben gibt es jedoch auch die mit großen Umbrüchen und Veränderungen verbundenen Kränkungen der Menschheit oder zumindest großer Teile von Bevölkerungsschichten. Nachdem Sigmund Freud auf drei große, globale Kränkungen hinwies, kommen im Zuge der Digitalisierung und insbesondere dem Einsatz einer KI wie ChatGPT weitere Kränkungen hinzu:1

  • Die erste Kränkung bestand nach Freud darin, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist.
  • Die zweite Kränkung bestand in der Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und damit nicht die Krone der Schöpfung Gottes ist.
  • Die dritte Kränkung bestand darin, dass es ein Unterbewusstsein gibt und der Mensch weniger Kontrolle über sein Leben hat, als er bislang dachte.
  • Die vierte Kränkung begann in den 50er Jahren mit der Automatisierung der Arbeitswelt. Zwar helfen Maschinen dem Menschen, schwere oder stupide Arbeiten zu erledigen. Dennoch droht damit immer auch die Ersetzbarkeit des Menschen. Und je schneller und genauer unsere Computer werden, desto größer ist die Kränkung.
  • Die fünfte Kränkung schließlich sieht intelligente Computer als dem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen an. Mit Big Data lassen sich in wenigen Sekunden Zukunftsmodelle errechnen, für die der Mensch Jahre bräuchte.2 Und mit ChatGPT könnte es sogar kreativen Berufszweigen an den Kragen gehen.

Emotionen können Algorithmen noch nicht empfinden. Sollte jedoch eines Tages ein Computer dazu fähig sein, genauso spontan und emotional zu reagieren wie ein Mensch, wäre dies die sechste Kränkung. Filmische Visionen davon gibt es bereits. In Alien 4 beispielsweise spielt Winona Ryder eine Androidin, die menschlicher ist als die Menschen um sie herum. Wir sollten uns also darüber freuen, dass ChatGPT aktuell noch eher langweilige, weil rezitierende Ergebnisse liefert.

Natürlich war auch die Pandemie eine einzige große Kränkung. Wer glaubte, das Leben würde immer so weitergehen und wir müssten vor Epidemien wie der Pest keine Angst mehr haben, musste sich eines besseren belehren lassen. Auch der drohende Umweltkollaps, die Energiekrise oder ein Krieg direkt von der eigenen europäischen Haustür lassen sich als Kränkungen bezeichnen. Mutter Erde hat lange gebraucht, um nach jahrhundertelanger Ausbeutung „zurückzuschlagen“. Jetzt ist es wohl soweit. Und nachdem wir jahrzehntelang gut von billigem russischem Gas lebten, hat auch das ein Ende.

Dabei zeigt sich bei großen Menschheitskränkungen, dass nie alle Menschen gleich betroffen sind. Kopernikus war sicherlich nicht gekränkt, sondern die Kirche. Auch Darwin wurde vermutlich nicht durch seine eigenen Studien gekränkt. Wer während Corona ohnehin schon im Homeoffice war, musste sich kaum umstellen. Wer im Norden und nicht gerade am Wasser lebt, könnte den Klimawandel begrüßen. Und wer von Automatisierungen, der Digitalisierung, dem Internet und smarten Algorithmen profitiert, wird sich kaum von der Geschichte übergangen fühlen, sondern diese gesellschaftlichen Veränderungen als Chance betrachten. Wer jedoch bislang sein Geld mit Handarbeit verdiente und nun sieht, dass 2014 alleine der Verkauf von Whats App an Facebook 22 Milliarden Dollar wert war, fragt sich, ob die Welt, in der er sich befindet, noch die seine ist.

Die eigene Biographie als Kränkung

Eine Kränkung verletzt einen Menschen in seiner Ehre, Würde, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Sie erschüttert die eigenen Werte, den Selbstwert und Gerechtigkeitssinn. Kränkungen können nur stattfinden, wenn zuvor etwas anderes erwartet wurde. Sie haben immer mit einer Enttäuschung oder sogar einem Schock zu tun.3 Oftmals hängen Kränkungen auch mit einem Vertrauensbruch oder empfundenen Ungerechtigkeiten zusammen.

Wenn wir uns Personen ansehen, die häufig im Kreuzfeuer stehen, lassen sich klare Muster erkennen. Ein Dieter Nuhr war früher bei den Grünen und beobachtet nun, dass sich die einstige Friedenspartei doch ein wenig gewandelt hat. Auch ein Jan Fleischhauer betont, dass er früher politisch Links stand. Dass sich Menschen wandeln, wenn sie älter werden, ist logischerweise normal. Dennoch ist eine subliminale Kränkung nicht auszuschließen. Das gleiche Phänomen beobachte ich selbst auch in meinem Freundeskreis: „In den 80er-Jahren war die Rede vom sauren Regen, der unsere Wälder zerstört. Und jetzt hat sich der Bayerische Wald wieder erholt.“ Zumindest oberflächlich – den unsichtbaren Wassermangel ausgeklammert – scheint es so zu sein, als wäre es nicht so schlimm gekommen wie propagiert.

Anderes Beispiel: „Als Kind habe ich in den 80ern angefangen Müll zu trennen, nur um jetzt – über 30 Jahre später – in der Doku „Die Recyclinglüge“ auf ARD zu sehen, was wirklich mit dem Inhalt des Gelben Sacks passiert. Da fühlt man sich doch ein wenig vera…“.

Um bei diesem einen, drastischen Beispiel zu bleiben: Das jahrelange Recyceln scheint in diesem Fall wenig gebracht zu haben. Damit wird ein Teil der eigenen Überzeugungen entwertet. Gleichzeitig scheint in den letzten Jahrzehnten auf der großen politischen und industriellen Ebene wenig vorangekommen zu sein. Sprich: Wir haben unseren Müll getrennt, aber ansonsten ging es weiter wie gehabt.

Und die aktuelle Kriegsdiskussion folgt einem ähnlichen Schema: Während früher Friedensdemos in einer bestimmten Szene angesehen waren, gelten sie nun als unsolidarisch.

Kein Wunder, dass manche Menschen hier nicht mehr mitkommen und entweder auf die Barrikaden gehen oder sich zynisch von der Politik abwenden.

Vom Umgang mit Kränkungen

Wenn Kränkungen v.a. diejenigen betreffen, die sich etwas anderes erwarteten, ist auch denkbar, dass diejenigen Menschen, die sich in den letzten Jahrzehnten am meisten engagiert haben auch diejenigen sind, die am meisten gekränkt sind.

Bereits diese Erkenntnis könnte uns milder stimmen im Umgang miteinander, insbesondere wenn es um Generationenkonflikte geht. Denn jüngere Generationen konnten logischerweise noch nicht so stark enttäuscht werden wie engagierte, ältere Generationen.

1 Vgl. https://digital-magazin.de/kraenkungen-des-menschen-digitalisierung

2 Vgl. Michael Hübler: New Work (2018), S. 35ff

3 Vgl. www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/praevention/kraenkungen-folgen.html

Einfach sein in einer komplexen Welt

Bild von rawpixel.com auf Freepik

Von der Faszination der Einfachheit

„Mama told me when I was young
Come sit beside me my only son
And listen closely to what I say
And if you do this it′ll help you
Some sunny day.
Oh take your time don’t live too fast
Troubles will come and they will pass
Go find a woman and you′ll find love
And don’t forget son there is someone up above
And be a simple kind of man
Oh be something you love and understand
Baby be a simple kind of man
Oh won’t you do this for me son if you can“

So sangen es einst Lynyrd Skynyrd in ihrem Song „Simple Man“.

Einerseits hat die Maxime der Einfachheit 50 Jahre später aufgrund einer unüberschaubaren Welt inklusive Pandemie, Krieg und Umweltthematik an Faszination eher noch zugenommen. Andererseits hat die Einfachheit oft einen Beigeschmack von Dummheit, als würde dem einfachen Menschen die Intelligenz fehlen, sich mit schwierigen Themen auseinander zu setzen. Wer in der Öffentlichkeit punkten will, muss sich gut präsentieren können und kluge Sätze von sich geben.

Wie also lässt sich dieser vermeintliche Widerspruch auflösen?

Die Kernfrage hier lautet: Warum will ich einfacher leben?

Einfachheit als intuitive Fokussierung

Ist es wirklich klug, sich in der Komplexität der Welt zu verlieren? Die Komplexität der Welt ist ein Fakt. Politische Entscheidungen sind komplex. Die Umweltthematik ist komplex. Beziehungen sind komplex. Führung ist komplex. Der Umgang mit Kunden ist komplex. Grundsätzlich ist alles Menschliche komplex. Anders formuliert: Egal was du tust, irgend jemand ist immer unzufrieden.

Sich diese Tatsache des Menschseins bewusst zu machen, sie wahr- und anzunehmen ist eine Sache. Ich kann jedoch gleichzeitig Komplexität wahrnehmen und einfach handeln, indem ich zeitliche oder inhaltliche Prioritäten setze: So wie keine Theorie zu 100% in die Praxis umgesetzt werden kann, bedeutet Handlungsfähigkeit auch, sich in der Umsetzung einer Handlung auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Sowohl seinen Anforderungen in der Arbeit als auch seinen Beziehungen kann ein Mensch niemals zu 100% gerecht werden. Einfach zu sein bedeutet, trotz des Wissens um mögliche Verfehlungen oder Fehlentscheidungen das zu tun, was genau jetzt richtig und wichtig erscheint:

  • Genau jetzt kümmere ich mich um diesen einen Azubi, weil er genau jetzt meine Hilfe braucht. Für diesen Moment vergesse ich alle anderen anstehenden Anforderungen, denen ich erst später gerecht werden kann.
  • Genau jetzt rufe ich bei einem Freund an und frage ihn wie es ihm geht, weil mir das genau jetzt wichtig erscheint.
  • Genau jetzt verschweige ich meiner Partnerin, dass ich mir Sorgen um etwas mache, weil es genau jetzt nicht zeitlich passend ist.

Einfachheit hat folglich viel mit Intuition, Bauchgefühl und Spontaneität zu tun, und damit mit einer kindlichen Natürlichkeit, die wir im Alter meist eher haben als als Kind. Denn als Kind orientieren wir uns noch sehr an Äußerlichkeiten. Im Alter haben wir idR. die Chance, uns von solchen Zwängen zu lösen.

Die Kernfrage hier lautet: Was sagt mir genau jetzt mein Bauchgefühl?

Wäre es so schlimm, diesem Gefühl spontan zu folgen? Es könnte am Ende das Leben lebendiger machen.

Einfachheit bedeutet eindeutig sein

Wer sich auf die Komplexität der Welt beruft, sagt damit auch aus, dass er sich nicht entscheiden kann oder will, weil er dieser Komplexität letztlich niemals gerecht wird. Dass wir uns mit jeder Entscheidung für etwas gleichzeitig auch gegen etwas ent-scheiden, macht die eigentliche Schwierigkeit in Entscheidungen aus:

  • Wenn ich dem Azubi helfe, bleiben andere Aufgaben liegen, was zu anderen Enttäuschungen führen kann.
  • Wenn ich diesen einen Freund anrufe, kann ich jemand anderen nicht anrufen oder einem Hobby nicht nachgehen, auf das ich ebenso gerade Lust hätte.
  • Wenn ich meiner Partnerin meine Sorgen verschweige, könnte sie mir später Vorwürfe darüber machen, dass ich nichts gesagt habe.

In allem, was wir tun besteht folglich eine Zwiespältigkeit. Auch hier gilt: Ich sollte diese Dilemmata erkennen und dennoch handeln. Anders formuliert: Wenn ich mich in diesen Dilemmata verliere, bin ich entweder handlungsunfähig oder aber ich handle im wahrsten Sinne des Wortes halbherzig. Dann …

  • … helfe ich widerwillig.
  • … rufe aus einem Pflichtgefühl heraus an.
  • … sage zwar nichts, bin aber dennoch schlechter Laune.

Einfach zu sein bedeutet folglich, in genau diesem Moment eindeutig statt doppeldeutig zu sein. Muss ich dafür schauspielern? Vielleicht. Oder aber ich mache mir bewusst, dass ich genau jetzt einen Teil meines Ichs lebe und später einen anderen Teil. Schließlich ist niemandem mit einer unzufriedenen Doppeldeutigkeit geholfen. Der Azubi wird ein schlechtes Gewissen haben. Der Freund und die Partnerin wissen nicht, woran sie sind.

Die Kernfrage hier lautet: Was ist genau jetzt dringend und wichtig?

Einfachheit als Ehrlichkeit

Wer einfach ist, hat keine Hintergedanken. Er agiert nicht, um sich darzustellen. Er denkt nicht daran, wie er bei anderen ankommt. Er muss sich nicht präsentieren, um etwas zu erreichen. Er ist einfach nur er selbst. Er sagt, wenn es ihm schlecht geht, damit sich sein Gegenüber keine Gedanken machen muss. Er denkt nicht an morgen, sondern nur daran, jetzt ein gutes Gespräch zu führen.

Das ist nicht zu verwechseln mit brutaler Direktheit. Auch höfliche, zuvorkommende oder diplomatische Menschen können einfach sein, wenn die Höflichkeit und Diplomatie ehrlich und angemessen ist. Denn auch Höflichkeit und Diplomatie können Hintergedanken haben. Haben sie es nicht, sondern dienen dem gerade jetzt stattfindenden Gespräch, passen sie sehr gut zur Einfachheit.

Die Kernfrage hier lautet: Wie mache ich es meinem Gegenüber möglichst einfach?

Einfachheit bedeutet mutig zu sein

Sich dergestalt für diesen einen Moment auf eine Handlung festzulegen ist mutig. Immerhin kann später der Vorwurf kommen, dass ich mich genau dafür entschieden habe. Dies erfordert folglich nicht nur Mut, sondern auch eine Reflexionsfähigkeit jenseits einfacher Bauchgefühle. Ich muss also wissen, warum und wofür ich in diesem Moment genau so entschieden habe. Lag es an der Bedürftigkeit des Azubis? Ist das letzte Telefonat schon so lange her? Oder ist die Stimmung gerade ungünstig und die Zeit nicht vorhanden für ein intensives Gespräch?

Die Kernfrage hier lautet: Worum geht es gerade wirklich?

Einfachheit bedeutet demütig zu sein

Ein Mensch alleine kann weder die Welt retten, noch seiner eigenen Welt jederzeit gerecht werden. Er kann es allenfalls nach und nach. Zudem kann der Mensch nicht in die Zukunft blicken. Er weiß nicht, welche Konsequenzen seine Handlungen nach sich ziehen. Diese Unvollkommenheit erfordert Demut. Der einfache Mensch weiß um seine Unvollkommenheit und konzentriert sich darauf, das zu tun, was in seiner Macht liegt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Kernfrage hier lautet: Was kann ich tun, um meine Welt ein klein wenig besser zu machen?

Einfachheit als Achtsamkeitsübung

In einer komplexen Welt gibt es mehr Angebote als wir jemals verarbeiten können. Während ich in meiner Studienzeit schon aus Geldgründen monatlich maximal zwei CDs kaufte und diese solange hörte, bis ich sie auswendig kannte, bieten heute Spotify und Co. mehr Auswahl als ich jemals hören könnte. Das gleiche gilt für Filme oder Bücher ebenso wie für potentielle Projekte oder Marketingstrategien. Das Paradoxe daran ist: Je mehr Wissen und Kompetenzen ich habe, desto mehr Zugang und Auswahl habe ich auch.

Das Leitprinzip der Achtsamkeit besteht in der Konzentration darauf, was ich genau jetzt wahrnehme. Entweder ich schaue mir einen Film an oder ich esse mein Abendessen. Wer beides gleichzeitig macht, nimmt beides nur zur Hälfte wahr und kann sich – wie der Soziologe Hartmut Rosa schreibt – von nichts von beidem affizieren lassen. Solche Doppelhandlungen machen zudem unglücklich. Oberflächlich betrachtet sparen wir Zeit. In Wirklichkeit verschwenden wir jedoch Lebenszeit.

Einfachheit im Sinne von Achtsamkeit bedeutet, sich auf eine Quelle der Wahrnehmung zu fokussieren. Wenn wir wandern, konzentrieren wir uns auf die Natur und denken nicht an das anstehende Projektmeeting in der nächsten Woche. Wenn wir essen, konzentrieren wir uns auf den Geruch und Geschmack des Essens. Wenn wir einen Film ansehen, lassen wir uns von der Atmosphäre oder Spannung des Films mitreißen. Wenn wir ein Gespräch führen, konzentrieren wir uns auf das Gespräch. Wenn wir jemandem helfen, tun wir das mit ganzem Herzen.

Die Kernfrage hier lautet: Was fasziniert mich an dem, was ich gerade mache und worauf sollte ich mich deshalb genau jetzt konzentrieren?

Energiefluss als Zeichen der Zufriedenheit

Bild von pch.vector auf Freepik

Weniger Schmerzen durch Auflösung von Energieblockaden

Neulich litt ich unter starken Nervenschmerzen im Zahnbereich, die erst abnahmen, als ich nicht mehr dagegen ankämpfte, sondern stattdessen die Schmerzen akzeptierte und mich auf die Suche nach deren Ursache machte. Der Auslöser war eine Zahn-OP. Die eigentliche Ursache jedoch lag in einer tiefen Verspannung im linken Schulterbereich, vermutlich durch eine monatelange Sitzfehlhaltung, die ich zuvor kaum bemerkte. Erst durch die Zahn-OP kam es zum Ausbruch der besagten Schmerzen.

Als die Verspannung durch mehrere gezielte Massagen gelöst wurde, ließ auch der Schmerz nach. Dies betrifft jedoch lediglich die körperliche Ebene. Parallel dazu hatte ich auch meine innere Haltung verändert, weg von „Ich muss das alleine schaffen“ und mich im wahrsten Sinne des Wortes durchbeißen, hin zu „Ich darf mir Hilfe holen“.

Als der Schmerz sich (beinahe) in Nichts auflöste, begann mein Gesicht zu kribbeln, als würde es wieder stärker durchblutet werden. Meine linke Gesichtshälfte fühlte sich nicht mehr so kontrolliert an wie zuvor. Durch die körperliche und psychische Blockade konnte die Energie wieder vollkommen durch meinen Körper fließen.

Die Entstehung von Schmerzen ist sicherlich vielfältig. Hier bin ich kein Experte. Meine eigene Erfahrung zeigte mir jedoch, dass ein Aspekt des Schmerzes die Unterbrechung von Energie sein kann. Damit Energie wieder fließen kann, gibt es verschiedene Möglichkeiten:

  • Offenes Denken: Als erstes ist es hilfreich, seine „Ich muss“-Sätze zu überprüfen, mit denen ich mich selbst blockiere: Ich muss es alleine schaffen. Ich muss durchhalten. Ich muss stark sein. Und natürlich auch: Ich darf keine Schwäche zeigen.
  • Akzeptierendes Fühlen: Eng damit verbunden sind unsere Gefühle. Hinter dem Satz „Ich muss stark sein“ steckt das Gefühl der Angst, bspw. als unsouverän oder verantwortungslos zu gelten. Wird diese Angst verdrängt, anstatt reif und erwachsen mit ihr umzugehen, kann sie die inneren Blockaden im Körper verstärken oder sogar deren Ursprung sein.
  • Veränderung von Beziehungen: Sowohl das Denken als auch das Fühlen beinhalten meist eine deutliche Beziehungskomponente: Akzeptiere ich, dass ich Hilfe brauche, weil meine eigenen Kompetenzen in diesem Fall nicht (mehr) ausreichen, verändere ich entweder eine Beziehung in meinem Nahbereich oder suche mir externe Hilfe. Wenn die Angst vor Verantwortungslosigkeit mein Thema ist, bezieht sich das ebenso auf mindestens eine andere Person, mit der eventuell eine Beziehungsklärung ansteht.
  • Körperliche Veränderung: Gerade im Gesundheitsbereich etwas körperlich zu verändern durch Massagen, mehr Bewegung oder eine andere Sitzhaltung, um den Energiefluss durch den Körper zu verbessern, liegt meist am nächsten und wirkt logischerweise auch am schnellsten. Wird das Denken und Fühlen hingegen nicht mitgenommen, sind auch körperliche Veränderungen lediglich von kurzer Dauer sein. Sind die Rückenschmerzen erst wieder weg, vergesse ich schnell, dass ich jemals Rückenschmerzen hatte.

Energiefluss als Sinn- und Glückserleben

Einige Wochen vor meiner Nervenattacke unterhielt ich mich mit meiner jüngeren Tochter (17) auf einem Spaziergang über den Sinn des Lebens. Sie meinte: „Keinen Mangel zu haben – d.h. auch schmerzfrei leben – ist doch schon mal was.“ Wer jemals starke Schmerzen erlebte, kann das vermutlich gut nachvollziehen. Unter Schmerzen fokussiert sich die gesamte Wahrnehmung auf den Schmerz oder das Abstellen des Schmerzes. Alles andere – ein leckeres Essen genießen, sich mit Freunden unterhalten, mit den Kindern ein Brettspiel spielen, Wandern, Arbeiten – ist allenfalls Ablenkung. Ein Teil des Gehirns ist jedoch beständig mit dem Schmerz beschäftigt. Erst wenn der Schmerz gebändigt oder zumindest auf ein Mindestmaß reduziert ist, lässt sich das Leben wieder vollkommen genießen.

Energiefluss im Alltag

Lässt sich der Umgang mit Schmerz und damit auch die Frage nach Sinn, Glück und Zufriedenheit auch auf den normalen Alltag übertragen? Ich denke ja. Denn auch ohne Schmerzen kann es eine Maxime des Lebens sein, dass die eigene Lebensenergie ohne Blockaden durch den Körper fließt. Ich kenne beispielsweise Menschen, die von sich selbst behaupten, vom Kopf ab (nach unten) abgeschnitten zu sein. Sie denken zwar, haben aber kaum einen Zugang zu ihrem restlichen Körper. Anderen fehlt der Zugang zu ihren Händen, wenn sie nicht wissen, was sie damit während einer Präsentation tun sollen. Dahinter steckt vermutlich die Angst, zu sehr aufzufallen, wenn ge-hand-elt wird. Oder jemand hat keinen Zugang zu seinen Beinen, wenn er nicht stabil auf dem Boden steht.

Um den Energiefluss zu fördern, müssen wir vermutlich nicht einmal wissen, welche Ziele wir damit anstreben, ob wir erfolgreich sein wollen, kreativ oder ein entspanntes Leben führen wollen. Die Energie findet ihren eigenen Weg und erreicht das Ziel, das unser Körper sich wünscht, nebenbei.

(Selbst-) Coaching-Fragen zur Förderung des Energieflusses

Hilfreiche Coachingfragen lauten daher:

  • Bis wohin fließt die Energie und wo hört sie auf zu fließen?
  • Wie fühlt es sich an, wenn ein Teil des Körpers nicht mit Energie „versorgt“ wird?
  • Wann fließt mehr Energie durch meinen Körper – auch durch kritische Bereiche? Und was mache ich da anders?
  • Wodurch blockierst du dich geistig selbst mit „Ich muss“-Aussagen?
  • Welche Emotionen hindern dich an einem guten Energiefluss?
  • Welche Beziehungen sollten geklärt werden, um einen guten Energiefluss zu fördern?
  • Welche körperlichen Veränderungen wären sinnvoll, um den Energiefluss zu fördern?
  • Wie fühlt es sich an, wenn die Energie wieder in den Bereichen fließt, in denen sie zuvor nicht floss?

Prosoziale versus antisoziale Lügen in digitalen Netzwerken

Bild von macrovector auf Freepik

Wofür digitale Plattformen geschaffen wurden – und wofür nicht

Wer beklagt, dass es auf digitalen Plattformen nicht ehrlich zugeht, hat anscheinend das System dieser Plattformen nicht verstanden. Auf beruflichen Plattformen wie Xing oder Linkedin geht es darum, sich von seiner besten Seite zu zeigen. In einem Bewerbungsgespräch würde ich auch nicht sagen: „Was ich noch sagen wollte: Vor ein paar Jahren hatte ich eine depressive Phase. Aber keine Panik, ist ja schon lange her (Zwinkersmiley). Aber im Frühling kann es sein, dass mich meine Pollenallergie für 1-2 Wochen lahm legt. Ich bin dann oft mies gelaunt. Kundenkontakte in der Zeit gehen gar nicht.“

Plattformen wie Linkedin oder Xing sind letztlich nichts anderes als persönliche Dauerwerbesendungen. Das ist freilich nichts Schlimmes. Denn genau dafür wurden sie geschaffen. Ich darf nur nicht erwarten, dass es hier zu 100% ehrlich zugeht.

Das gleiche gilt für private digitale Netzwerke. Auch hier präsentieren sich die Menschen von ihrer Schokoladenseite. Sie zeigen anderen Menschen ihre Stärken, was perfekt in unsere Leistungsgesellschaft passt. Wer also die Instagramisierung der Welt beklagt, müsste gleichzeitig die Leistungsgesellschaft an sich kritisieren. Ich kann jedoch nicht sagen: Leistung finde ich super, aber dass die Menschen da draußen sich als dermaßen perfekt präsentieren, finde ich weniger gut. Zumal solche Vorbilder auch motivierend wirken können.

Aber sollten auf digitalen Plattformen nicht auch Schwächen ihren Platz haben? Ich denke schon. Allerdings würde sich niemand komplett mit seinen Schwächen präsentieren. Denn letztlich geht es darum, auch seine Schwächen bzw. den Umgang damit als Stärke zu präsentieren, im Sinne von: „Das war eine schwierige Zeit, aber wenn ich das geschafft habe, schaffst du es auch.“ Denn auch das – im Sinne einer kleinen Heldenreise – wirkt motivierend.

Grundsätzlich ist der Platz für Probleme eher die Familie oder der Freundeskreis. Im Zuge der Digitalisierung stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich diese Vermischung auch auf den Umgang mit Offenheit auswirkt. Dass es im Zuge der Digitalisierung des Lebens eine Sehnsucht gibt, sich auch im Netz möglichst authentisch zu geben, ist nachvollziehbar. Ob dafür das Internet der richtige Platz ist, ist fraglich, da es Abwägungen, Nuancen, Humor oder ein nonverbales Feedback in digitalen Plattformen schwer haben. Hier regiert die 0 oder 1: Entweder du hast es geschafft oder nicht. Ob dies im Metaverse eines Tages anders sein wird, zeigt uns die Zukunft.

Schwarze und weiße Lügen

Zur Differenzierung der Ehrlichkeit – gerade auf Plattformen – ist die Unterscheidung der Sozialforschung zwischen schwarzen und weißen Lügen hilfreich. Eine schwarze Lüge nimmt bewusst in Kauf, dass ich jemand anderem schaden könnte, während eine weiße Lüge sogar einen prosozialen Effekt haben kann.

Übertragen auf digitale Netzwerke bedeutet das: Wenn ich meine Kompetenzen so übertreibe, dass ich Aufträge bekomme, die mich überfordern und ich damit – in meinem Fall im Rahmen eines Coachings, Trainings oder einer Teamentwicklungsmaßnahme – einem zukünftigen Auftraggeber schaden könnte, ist es eine schwarze Lüge. Der Slogan von „Fake it ‚till you make it“ hat also Grenzen.

Picke ich mir jedoch aus einem vergangenen Training lediglich die Highlights heraus und übertreibe ein wenig, um mich gut darzustellen, handelt es sich um eine weiße Lüge, die letztlich niemandem schaden wird.

Weiße Lügen sollen zudem mein Gegenüber schonen, ihm Unangenehmes ersparen und eine potentielle Beziehung stabilisieren. So wie ich meine Trainings nicht mit dem Satz beginne „Guten Morgen, ich habe gestern Nacht kaum geschlafen. Mal sehen, ob das heute was wird“, selbst wenn es der Fall wäre, muss ich auch im Digitalen nicht alle meine Probleme präsentieren. Gleichzeitig verhindere ich damit eine Verunsicherung der Beziehung. Sind die Stärken später bekannt, lässt sich im 1-zu-1-Gespräch auch über Schwächen reden, so wie am Abendessen mit Seminarteilnehmer*innen auch private Themen ihren Platz haben.

Letztlich lügen wir ohnehin ständig, beispielsweise, wenn wir von einem Kollegen gefragt werden, wie es uns geht und wir keine Lust haben, über Kopf- oder Zahnschmerzen zu sprechen. Auch hier will ich mein Gegenüber nicht mit meinen Problemen behelligen.

Weiße Lügen sind folglich prosozial. Wie sie sich konkret auf andere Menschen auswirken, hat ein Forschungsteams um Gerardo Iñiguez1 unlängst mit Hilfe eines sozialen Netzwerkmodells untersucht. In ihrem Versuch testeten sie, wie stabilisierend oder destabilisierend sich eine Lüge auf andere auswirkt. Ihr Fazit:

  • Schwarze Lügen führen – wenig überraschend – langfristig zu einem Zerfall des Netzwerks, weil antisoziale Lügen letztlich alle Teilnehmer*innen isolieren. Schlechte Nachrichten also für digitale Schaumschläger*innen und Scharlatane. Und gute Nachrichten für diejenigen, die seit Jahren einen guten Job machen und ehrlich darüber berichten – auch wenn sie manchmal ein wenig übertreiben. Aber Klappern gehört nunmal zum Handwerk.
  • Wer jedoch weiße Lügen verbreitet, verliert manche Bindungen im Netz, dafür werden andere umso mehr vertieft. Proziale Lügen führen daher langfristig zu Cliquenbildungen und damit zu einer Sortierung des eigenen Netzwerks. Denn letztlich sind digitale Netzwerke nichts anderes als das moderne Lagerfeuer. Und wer damals erzählte, dass der erlegte Bär einfach gestolpert ist und deshalb der Fang nicht der Rede wert ist, langweilte seine Zuhörer. Wer stattdessen erzählte, dass er den Bär in eine Falle lockte, die er stundenlang ausgeheckt hatte und dieser schließlich nicht anders konnte, als sich darin zu verfangen, hatte ein paar „Follower“ mehr, die zudem etwas daraus lernten: Wenn du einen Bären fangen willst, der dir hoch überlegen ist, brauchst du einen guten Plan und sehr viel Vorbereitung.

1https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/warum-weisse-luegen-nuetzlich-sind