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Warum digitale Konflikte entstehen und wie eine Deeskalation im Netz funktioniert

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2017 veröffentlichte der Soziologe Andreas Reckwitz sein Buch „Gesellschaft der Singularitäten“. Während der Begriff der Singularität u.a. auch im Transhumanismus zur Verbindung zwischen Mensch und Maschine genutzt wird, meint Reckwitz damit die Maxime des Besonderen in unserer Gesellschaft: In der Spätmoderne geht es nicht mehr darum, Sneakers zu besitzen, die meine Schulkameraden auch haben, sondern Sneakers zu tragen, die niemand anders besitzt. Es geht also weniger darum, nicht aufzufallen, sondern im Gegenteil darum sich aus der Masse emporzuheben.

Reckwitz ist Soziologe und geht daher lediglich am Rande auf mögliche Konflikte ein. Klar ist jedoch, dass die Betonung spezieller Merkmale und Vorlieben von Menschen, insbesondere im Internet, eher zu Abstoßungen als zu Annäherungen führt.

Wenn wir nun digitale Netzwerke als Treiber dieser Entwicklung hinzunehmen, ergeben sich 7 Schritte auf dem Weg zu immer extremeren Gruppierungen.

Ich spreche dabei ausdrücklich (noch) nicht von einer Extremisierung der Gesellschaft, da die Gesellschaft wesentlich differenzierter ist als ihr Abbild im Internet. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass digitale Konflikte auch ihren Weg auf die Straße finden, erscheint mir die Entwicklung dennoch noch besorgniserregender, als Reckwitz es 2017 bereits darstellte.

7 Schritte zu einer Extremisierung im Netz

  1. Die Spätmoderne als Zeitalter der Besonderheit: Während Technik früher das Leben standardisierte und der Mensch etwas haben wollte, was andere auch hatten, um dazuzugehören, nutzt der Mensch in der Spätmoderne Technik, Kleidung, etc., um sich von anderen abzugrenzen und etwas Besonderes darzustellen. Routinen und Rituale gelten als spießig. Das Einzigartige ist wichtiger als Standards. Bereits diese Dynamik führt zu einer Spirale auf der Suche nach dem Extremen, bspw. was eine besondere Optik oder hohe Preise angeht. Gerade Sneakers sind hierfür ein gutes Beispiel.
  2. Der Mensch als Produzent: Da jeder Mensch im Internet potenziell gleichzeitig als Konsument und Produzent auftreten kann, kann auch jeder seine eigene Besonderheit zur Schau stellen oder auch – als Produzent – die Besonderheit anderer mit Likes unterstützen bzw. ungeliebte Besonderheiten digital verteufeln. Damit einher geht ein früher ungekanntes Machtgefühl.
  3. Algorithmen als Treiber: Gleichzeitig kann jeder im Internet nach Seinesgleichen suchen bzw. wird durch algorithmisierte Angebote zusätzlich singularisiert. Er kann sich damit bestätigt fühlen, wodurch seine Besonderheit weiter extremisiert wird.
  4. Die Entstehung von Neogemeinschaften: In digitalen Netzwerken gründen sich Neogemeinschaften, deren Verbindung lediglich auf Besonderheiten beruht, beispielsweise Fremdenhass, Veganismus, etc. Dass jeder Mensch sich nicht nur durch Besonderheiten auszeichnet, sondern auch eine Familie, Hobbys, eine Arbeit, etc. hat, wird dabei ausgeblendet.
  5. Kampf der Filterblasen: Stoßen zwei konträre Neogemeinschaften in digitalen Netzwerken aufeinander, führt dies lediglich dazu, dass sie sich in ihrer Besonderheit bestätigt fühlen. Im Falle eines digitalen Angriffs kommt es zu Solidarität für die vermeintlich schützenswerte Besonderheit der betroffenen Person bzw. der gesamten Neogemeinschaft. Eskalierend wirkt zudem, dass in digitalen Netzwerken niemals unter vier Augen diskutiert wird, sondern potentiell die gesamte Welt mitliest. Gleichzeitig ist ein Austausch über nuancierte Abweichungen weniger möglich ist als in analogen Diskussionen. Aus diesen Gründen kommt es zu keinem echten Austausch oder gar einer Annäherung und damit zu einer Relativierung der eigenen Besonderheit.
  6. Affekte statt Versachlichung: Die Logik des Allgemeinen funktioniert über Versachlichung. Die Logik des Besonderen funktioniert über Übertreibungen, Empörung und Glorifizierung, um sich darzustellen und von anderen abzugrenzen. Solche Affekte wiederum fördern Gegenaffekte wie Wut oder Hass und führen zu noch mehr Abgrenzung bzw. einer weiteren Überhöhung der eigenen Position.
  7. Metaverse: In maßgeschneiderten Umwelten können diese Neogemeinschaften noch extremer werden. Nun wird niemand mehr mit anders Gesinnten konfrontiert. Man nistet sich ein und bleibt unter sich. Digitale Konflikte nehmen damit zwar (vermutlich) ab, sollten verschiedene Neogemeinschaften jedoch an anderer Stelle wieder aufeinander treffen, branden die Konflikte umso stärker wieder auf.

Ein 5-Punkte-Plan zur Deeskalation und gegenseitigen Annäherung

Um dieser Entwicklung entgegen zu treten, sind verschiedene Lösungsansätze denkbar:

  1. Das Gemeinsame betonen und wahrnehmen: Anstatt die eigene Besonderheit zu betonen und bei meinem Gegenüber wahrzunehmen, sollten wir wieder lernen, dass wir nicht nur ein Image haben, sondern hinter diesem Bild auch ein Mensch mit Familie, Hobbys, usw. steht.
  2. Bewusstheit der eigenen Macht: Wer als Produzent im Internet auftritt, hat auch Macht. Wie sagte Pipi Langstrumpf so schön: „Aus großer Macht erfolgt auch große Verantwortung.“ Und aus kleiner Macht erfolgt zumindest eine kleine Verantwortung.
  3. Nach gegenteiligen Meinungen suchen: Es ist zwar schön, sich bestätigt zu fühlen. Gegenteilige Ansichten können uns jedoch immer wieder „einnorden“. Ich persönlich lese bspw. parallel sowohl die konservative Zeitung „Die Welt“ als auch ein linkes Blatt wie den „Freitag“. Irgendwo dazwischen wird die Wahrheit schon liegen. Gleichzeitig sehe ich es kritisch, wenn Menschen in digitalen Netzwerken ungeliebte Personen blockieren oder löschen. Oder aber, man geht anstatt auf Algorithmen zu vertrauen, selbst aktiv auf Suche nach Personen in digitalen Netzwerken mit einer vermutlich ganz anderen Meinung.
  4. Diskussionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Wer wirklich Interesse an einem Austausch hat, sollte große Diskussionen vermeiden und vermehrt auf direkte Nachrichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit setzen.
  5. Affektreaktionen vermeiden durch mehr Empathie: Wir sollten uns bewusster als bisher machen, welche Wirkung die Übertreibung des Besonderen auf andere hat. Wer sich wie Franck Ribery beim Essen eines Blattgold-Steaks für 1200 € ablichten lässt, sollte wissen, welche Affekte er damit bei manchen Menschen auslöst.