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Der Wunsch des Menschen nach Authentizität

Nur wer eine Rolle spielt, spielt eine Rolle

In vormodernen Zeiten war es normal, insbesondere in der Öffentlichkeit in Rollen aufzutreten. „Da steht er. Hochgewachsen, breitschultrig. Das Kinn kantig, die Haut wettergegerbt, die Augen in die Ferne gerichtet. Wortkarg. Einsam. Und im Herzen eine Sehnsucht“.1 Der klassische Mann wird hier als Macher, Held, Eroberer und einsamer Wolf beschrieben, als hätte Clint Eastwood die Regie für ihn verfasst. Ein Mann, der Gefahren trotzt und erst so richtig aufblüht, wenn eine Krise ins Haus steht. Ein Mann, der dann die Zügel in die Hand nimmt und Frau und Kinder vor einer chaotischen Welt schützt. Ein Mann, der vielleicht auch höflich und galant einer Frau die Tür aufhält. Ein Mann, der sich erst beweisen muss, um zu dem zu werden, der er innerlich schon ist – oder sein sollte.

Die Frau hingegen hatte sich unterzuordnen, demütig zu warten, das Essen herzurichten und sich mit Zigaretten oder „Frauengold“ zu beruhigen, wenn der Mann einmal über die Strenge schlägt.2 Sie hatte folglich in der Öffentlichkeit genau die gegenteilige Rolle des Mannes zu spielen, um ihrer weiblichen Rolle gerecht zu werden. Andernfalls galt sie als zickig, frigide oder hysterisch.

Ein Vertreter der Frankfurter Schule – mein Pädagogikstudium ist schon eine Weile her, deshalb weiß ich leider nicht mehr wer – stellte in den 60er Jahren die Vermutung auf, dass Männer in der Öffentlichkeit vermutlich deshalb so dominant auftreten, weil sie zuhause nichts zu sagen hätten. Auch wenn es in der Öffentlichkeit zur Unterdrückung von Frauen führte, erst recht, wenn sie zuhause nichts zu sagen hatten, war es wohl v.a. für Männer ein Spiel mit ihrer Rolle. Einige Männer werden dieses Spiel genossen haben, andere litten vermutlich darunter. Andernfalls würden wir heute nicht in einer Welt leben, in der die Spielregeln der Geschlechterrollen neu definiert werden. Sowohl Männer als auch Frauen – und Nonbinäre sowieso – treten so auf, wie sie sich innerlich fühlen.

Wie also steht es heute um unsere Authentizität in der Öffentlichkeit? Sind wir wirklich so authentisch wie wir glauben oder uns das wünschen? Eine Frage, die nicht nur für Stars und Influencer interessant ist, sondern für alle, die sich im Internet präsentieren.

Wer sich in digitalen Netzwerken wie Instagram oder Tiktok umsieht, wird nicht umhin kommen, diese Frage zu verneinen. Die dort eingenommenen Rollen folgen allerdings keinem einheitlichen Muster. Die klassischen Männer und Frauen-Rollen gibt es zwar noch, insbesondere in manchen Hollywood-Streifen, wenn es wieder einmal darum geht, dass Männer die Welt retten und Frauen staunend daneben stehen. Aber auch im aktuellen Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ scheint sich diese klassische Rollenaufteilung erhalten zu haben, wenn Medienmogule Frauen einen Klaps auf den Hintern geben und die Frauen von sich selbst erstaunt sind, dass sie die Challenge um den kürzesten Rock im Büro mitmachen.3

Das passiert jedoch eher dort, wo die Scheinwerfer nicht hinleuchten. Auf der öffentlichen Bühne von Twitter und Co. geht es vor allem um die Steigerung der Affizierung. Nur was Affekte auslöst, gilt als wertvoll.4 Dabei scheint es egal zu sein, ob ich mir damit viele Freunde oder auch Feinde mache. Für das Spiel mit Rollen bedeutet das v.a. aktuelle Trends der Wokeness oder Anti-Wokeness zu kennen und diese möglichst nahe an der Grenze zum Zeig- und Sagbaren auszudehnen – in beide Richtungen. Typische Trends lauten: Sensibilität, Solidarität, das Outing psychischer Krankheiten, Authentizität selbst, eine gesunde Ernährung, Fitness, aber auch Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit – oder entsprechend das Wettern dagegen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Auf Tiktok gibt es seit Anfang 2023 den Trend sich mit psychischen Erkrankungen zu outen oder diese zu kopieren.5 Und ein Musiker wie Harry Styles ist zwar nicht Transgender, posiert jedoch gerne mit Rock und bunten Tüchern.6

Dass sich Berühmtheiten mit bunten Federn darstellen und in extravagante Rollen schlüpfen ist nicht neu. Dieses Spiel trieben bereits Elton John und David Bowie in den 70ern auf die Spitze. Neu ist jedoch die Demokratisierung des öffentlichen Rollenspiels, so wie heutzutage alles demokratisiert wurde, vom öffentlichen Schreiben bis hin zu Fernreisen. Dank des einfachen Zugangs zu digitalen Medien hat heutzutage beinahe jede*r die Möglichkeit, sich in sozialen Netzwerken zu präsentieren.7

Um jedoch tatsächlich zu einem Star bzw. Influencer zu werden oder auch nur bemerkt zu werden, braucht es Follower. Und diese erreiche ich nur, wenn ich übertreibe und damit Freund und Feind affiziere. Aus diesem Grund funktionieren Rollenspiele im Internet nicht mehr nach einem statischen Muster wie es früher der Fall war, sondern haben sich dynamisiert. Wenn ich heute als Mann einen bunten Schal trage, mögen das einige Fans bewundernswert finden. Da sich dieser Effekt jedoch schnell abnutzt, muss es morgen ein bunter Rock und übermorgen eine Federboa sein. Die Grenzen des Sagbaren, Zeigbaren und der gezielten Provokation dehnen sich folglich immer mehr aus.

Unser Toleranzfenster verschiebt sich

Ich persönlich glaube nicht, dass diese Darstellungen eine Lüge sind. Und wenn wird es schnell offensichtlich. Ich denke durchaus, dass sich dahinter ein Funken Wahrheit befindet, damit es funktioniert, gerade weil Authentizität in unserer modernen Gesellschaft wichtig ist. Ein Star wie Harry Styles muss sich letztlich wohl fühlen in seiner Kleidung, um sich darin ehrlich präsentieren zu können. Das Spiel mit Rollen ist jedoch ein stetiges Ausbalancieren zwischen dem, was gerade noch passt und dem was zu viele Menschen negativ affizieren könnte.

Dies gilt selbstredend nicht nur für das Spiel mit dem Outfit, sondern erst recht für die Kommunikation im Internet. Auch damit stellen sich Politiker*innen genauso wie einfache Bürger*innen in Rollen dar, wenn sie als gezielte Provokateure auftreten. Und dennoch muss auch diese Provokations-Rolle ein Teil von ihnen sein, um sie authentisch darzustellen.

Um zu verdeutlichen, wie dieses Spiel mit der Provokation funktioniert, ist das Toleranzfenster des Professors für Psychiatrie Dan Siegel hilfreich. Dieses besagt, dass wir je nach Gewohnheit ein bestimmtes Toleranzlevel besitzen, um mit schwierigen Situationen oder konfrontativen Themen umzugehen. Dieses Toleranzlevel lässt sich als Fenster darstellen. Befindet sich eine Konfrontation innerhalb des Fensters, ist alles im grünen Bereich. Fehlt eine Affizierung führt dies zu Ausschlägen unterhalb des Fensters. Dan Siegel spricht in diesem Fall von einer Hypoerregung. Der Mensch langweilt sich. Führt die Konfrontation zu Ausschlägen oberhalb des Fensters, spricht Dan Siegel von einer Hypererregung. Kurzfristig feuert dann unser Sympathikus, um die Situation zu meistern. Bei einer langfristigen Erregung kollabiert entweder unser System oder wir gewöhnen uns daran.8

Im Umgang mit konfrontativen Themen passiert genau das: Das Fenster verschiebt sich nach oben mit zwei Folgen:

  1. Unsere Hypoerregung und Langeweile tritt immer schneller ein. Wir dürsten sozusagen nach neuen Skandalen.
  2. Unsere Hypererregung tritt immer langsamer ein, weil wir uns das, was gestern noch provokativ war, bereits gewöhnten. Das Sag- und Zeigbare muss daher immer konfrontativer werden, um weitere Erregungen auszulösen bzw. aus der Masse meiner Konkurrenz in digitalen Netzwerken herauszutreten.

Dass aktuell die halbe Menschheit erschöpft ist, ist also kein Wunder.9

Für unsere Sehnsucht nach Authentizität stellt sich daher die Frage, ab wann das Spiel mit einer Rolle aufhört authentisch zu sein und nur noch bedient wird, weil es andere Menschen in meinem Netzwerk positiv oder negativ affiziert?

Authentizität als Ideologie

Skurril wird es dann, wenn Menschen sich gezwungen fühlen, sich authentisch darzustellen, wenn sie beispielsweise nicht nur gute Arbeit abliefern, sondern in ihrer Arbeit aufgehen bzw. begeistert sein sollen, wie wir es in diversen modernen Unternehmen sehen. Authentizität wäre dann nicht nur eine Möglichkeit, als echter Mensch aufzutreten, sondern gerät damit zur Ideologie. Ideologien wiederum wirken umso stärker auf uns, weil sie unbewusst sind und sich daher schlecht hinterfragen lassen. Der Philosoph Slavoy Zizek geht davon aus, dass wir im Zeitalter der Ideologien leben, weil wir viele Dinge des Alltags als gegeben hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. So suggeriert uns beispielsweise die Werbung in einer Doppelbotschaft, dass wir uns einerseits gut ernähren und auf Zucker und Fett verzichten, andererseits aber auch konsumieren sollen, um glücklich zu sein. Die Lösung lautet daher nicht – wie es ebenso naheliegend sein könnte – weniger Zucker und Fett zu konsumieren, sondern stattdessen Produkte mit Zuckerersatzstoffen oder spezielle fettreduzierte Produkte zu kaufen.10

Authentizität wird damit zu einer Meta-Ideologie. Lasse ich mich auf dieses Spiel ein, wird durch solche unbewussten Ideologien der Druck auf den Menschen erhöht. Es reicht dann nicht mehr aus, Veganer*in oder Radfahrer*in zu sein. Ich muss es voller Überzeugung sein. Und im beruflichen Bereich reicht es nicht aus, einfach seinen Job zu machen. Ich sollte mit Leib und Seele dabei sein.

Im Berufsleben erscheint die Sehnsucht nach Authentizität besonders dramatische Konsequenzen zu haben. Denn häufig wäre es wesentlich einfacher, eine Rolle zu spielen, bestehend aus klaren, begrenzten Erwartungen an mich. Die sich daraus ergebenden Aufgaben haben den Vorteil, im Rahmen eines Rollenspiels stattzufinden, das sich wiederum durch klare Regeln auszeichnet. Durch diese Regeln lässt sich definieren, was eine Führungskraft, ein Einkäufer oder eine Vertrieblerin zu tun haben, um als erfolgreich zu gelten, beliebt zu sein und anerkannt zu werden. Soll ich jedoch mein authentisches Herzblut einbringen, ist es schwer, zu definieren, wann die Begeisterung ausreicht, um einen richtig guten Job zu machen. Schließlich können meine Kolleg*innen immer noch ein wenig begeisterter sein als ich, ähnlich wie sich ein konkurrierender Influencer in einem noch bunteren Kostüm präsentiert als ich.

Zum anderen ist es schwerer, am Abend abzuschalten, wenn der gesamte Mensch vereinnahmt wird. Denn eine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit findet dann nicht mehr statt. Mehr noch: Soll der Mensch in seiner Arbeit mindestens ebenso begeistert sein wie in seinem Privatleben, stellt sich die Frage, was dann noch in seinem privaten Leben an Begeisterung übrig bleibt. Entweder er toppt seine beruflichen emotionalen Erfolge, indem er auch im Privaten nach ähnlichen emotionalen Höhenflügen strebt, im Sinne von Abenteuerurlauben und Wellnesstempeln. Oder er gerät in Depressionen, wenn ihm sein Privatleben weniger spannend als sein berufliches Leben vorkommt.11

Wir sollten uns folglich klar machen, wann Authentizität sinnvoll ist, weil sie unser Leben bereichert und wann wir in eine Authentizitäts-Eskalations-Spirale geraten, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gesund ist, und vermutlich auch nicht mehr authentisch.

1Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/was-machte-den-mann-zum-mann-100.html

2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Frauengold

3Vgl. https://www.freitag.de/autoren/erika-thomalla/noch-wach-von-benjamin-von-stuckrad-barre-ist-reine-selbstrechtfertigung

4Vgl. Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten, S. 70f

5Vgl. https://www.inrlp.de/ratgeber/technik/internet-handy/wegen-tiktok-videos-jugendliche-kopieren-psychische-stoerungen-experten-sehen-probleme-art-5610606

6Vgl. https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/queerbaiting-ist-gefaehrlich-vorwuerfe-an-harry-styles-und-taylor-swift

7Vgl. Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten, S. 68ff

8Vgl. https://psy.iks-hagen.de/images/Methodenzettel-Toleranzfenster.pdf

9Vgl. https://www.m-huebler.de/erschoepft-vom-leben

10Vgl. Nieder mit der Ideologie. Philosophische Sternstunden mit Slavoj Zizek: https://www.youtube.com/watch?v=Lsc1e3pYtRw

11Vgl. Byung-Chul Han: Vom Verschinden der Rituale, S. 25ff

Prosoziale versus antisoziale Lügen in digitalen Netzwerken

Bild von macrovector auf Freepik

Wofür digitale Plattformen geschaffen wurden – und wofür nicht

Wer beklagt, dass es auf digitalen Plattformen nicht ehrlich zugeht, hat anscheinend das System dieser Plattformen nicht verstanden. Auf beruflichen Plattformen wie Xing oder Linkedin geht es darum, sich von seiner besten Seite zu zeigen. In einem Bewerbungsgespräch würde ich auch nicht sagen: „Was ich noch sagen wollte: Vor ein paar Jahren hatte ich eine depressive Phase. Aber keine Panik, ist ja schon lange her (Zwinkersmiley). Aber im Frühling kann es sein, dass mich meine Pollenallergie für 1-2 Wochen lahm legt. Ich bin dann oft mies gelaunt. Kundenkontakte in der Zeit gehen gar nicht.“

Plattformen wie Linkedin oder Xing sind letztlich nichts anderes als persönliche Dauerwerbesendungen. Das ist freilich nichts Schlimmes. Denn genau dafür wurden sie geschaffen. Ich darf nur nicht erwarten, dass es hier zu 100% ehrlich zugeht.

Das gleiche gilt für private digitale Netzwerke. Auch hier präsentieren sich die Menschen von ihrer Schokoladenseite. Sie zeigen anderen Menschen ihre Stärken, was perfekt in unsere Leistungsgesellschaft passt. Wer also die Instagramisierung der Welt beklagt, müsste gleichzeitig die Leistungsgesellschaft an sich kritisieren. Ich kann jedoch nicht sagen: Leistung finde ich super, aber dass die Menschen da draußen sich als dermaßen perfekt präsentieren, finde ich weniger gut. Zumal solche Vorbilder auch motivierend wirken können.

Aber sollten auf digitalen Plattformen nicht auch Schwächen ihren Platz haben? Ich denke schon. Allerdings würde sich niemand komplett mit seinen Schwächen präsentieren. Denn letztlich geht es darum, auch seine Schwächen bzw. den Umgang damit als Stärke zu präsentieren, im Sinne von: „Das war eine schwierige Zeit, aber wenn ich das geschafft habe, schaffst du es auch.“ Denn auch das – im Sinne einer kleinen Heldenreise – wirkt motivierend.

Grundsätzlich ist der Platz für Probleme eher die Familie oder der Freundeskreis. Im Zuge der Digitalisierung stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich diese Vermischung auch auf den Umgang mit Offenheit auswirkt. Dass es im Zuge der Digitalisierung des Lebens eine Sehnsucht gibt, sich auch im Netz möglichst authentisch zu geben, ist nachvollziehbar. Ob dafür das Internet der richtige Platz ist, ist fraglich, da es Abwägungen, Nuancen, Humor oder ein nonverbales Feedback in digitalen Plattformen schwer haben. Hier regiert die 0 oder 1: Entweder du hast es geschafft oder nicht. Ob dies im Metaverse eines Tages anders sein wird, zeigt uns die Zukunft.

Schwarze und weiße Lügen

Zur Differenzierung der Ehrlichkeit – gerade auf Plattformen – ist die Unterscheidung der Sozialforschung zwischen schwarzen und weißen Lügen hilfreich. Eine schwarze Lüge nimmt bewusst in Kauf, dass ich jemand anderem schaden könnte, während eine weiße Lüge sogar einen prosozialen Effekt haben kann.

Übertragen auf digitale Netzwerke bedeutet das: Wenn ich meine Kompetenzen so übertreibe, dass ich Aufträge bekomme, die mich überfordern und ich damit – in meinem Fall im Rahmen eines Coachings, Trainings oder einer Teamentwicklungsmaßnahme – einem zukünftigen Auftraggeber schaden könnte, ist es eine schwarze Lüge. Der Slogan von “Fake it ’till you make it” hat also Grenzen.

Picke ich mir jedoch aus einem vergangenen Training lediglich die Highlights heraus und übertreibe ein wenig, um mich gut darzustellen, handelt es sich um eine weiße Lüge, die letztlich niemandem schaden wird.

Weiße Lügen sollen zudem mein Gegenüber schonen, ihm Unangenehmes ersparen und eine potentielle Beziehung stabilisieren. So wie ich meine Trainings nicht mit dem Satz beginne „Guten Morgen, ich habe gestern Nacht kaum geschlafen. Mal sehen, ob das heute was wird“, selbst wenn es der Fall wäre, muss ich auch im Digitalen nicht alle meine Probleme präsentieren. Gleichzeitig verhindere ich damit eine Verunsicherung der Beziehung. Sind die Stärken später bekannt, lässt sich im 1-zu-1-Gespräch auch über Schwächen reden, so wie am Abendessen mit Seminarteilnehmer*innen auch private Themen ihren Platz haben.

Letztlich lügen wir ohnehin ständig, beispielsweise, wenn wir von einem Kollegen gefragt werden, wie es uns geht und wir keine Lust haben, über Kopf- oder Zahnschmerzen zu sprechen. Auch hier will ich mein Gegenüber nicht mit meinen Problemen behelligen.

Weiße Lügen sind folglich prosozial. Wie sie sich konkret auf andere Menschen auswirken, hat ein Forschungsteams um Gerardo Iñiguez1 unlängst mit Hilfe eines sozialen Netzwerkmodells untersucht. In ihrem Versuch testeten sie, wie stabilisierend oder destabilisierend sich eine Lüge auf andere auswirkt. Ihr Fazit:

  • Schwarze Lügen führen – wenig überraschend – langfristig zu einem Zerfall des Netzwerks, weil antisoziale Lügen letztlich alle Teilnehmer*innen isolieren. Schlechte Nachrichten also für digitale Schaumschläger*innen und Scharlatane. Und gute Nachrichten für diejenigen, die seit Jahren einen guten Job machen und ehrlich darüber berichten – auch wenn sie manchmal ein wenig übertreiben. Aber Klappern gehört nunmal zum Handwerk.
  • Wer jedoch weiße Lügen verbreitet, verliert manche Bindungen im Netz, dafür werden andere umso mehr vertieft. Proziale Lügen führen daher langfristig zu Cliquenbildungen und damit zu einer Sortierung des eigenen Netzwerks. Denn letztlich sind digitale Netzwerke nichts anderes als das moderne Lagerfeuer. Und wer damals erzählte, dass der erlegte Bär einfach gestolpert ist und deshalb der Fang nicht der Rede wert ist, langweilte seine Zuhörer. Wer stattdessen erzählte, dass er den Bär in eine Falle lockte, die er stundenlang ausgeheckt hatte und dieser schließlich nicht anders konnte, als sich darin zu verfangen, hatte ein paar “Follower” mehr, die zudem etwas daraus lernten: Wenn du einen Bären fangen willst, der dir hoch überlegen ist, brauchst du einen guten Plan und sehr viel Vorbereitung.

1https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/warum-weisse-luegen-nuetzlich-sind

Authentizität als Ideologie

Die Forderung nach mehr Authentizität könnte zu einer Gesamtvereinnahmung des Menschen führen. Der Mensch soll nicht nur mit einem Teil von sich gute Arbeit abliefern, sondern in seiner Gesamtheit begeistert sein. Damit wird jedoch zum einen der Druck in der Arbeit erhöht, weil ich dann mit Leib und Seele bei der Arbeit sein muss, anstatt lediglich eine Rolle auszuüben, bestehend aus klaren aber begrenzten Erwartungen an mich. Rollen wiederum haben den Vorteil im Rahmen eines Spiels stattzufinden, das sich wiederum durch klare Regeln auszeichnet. Durch diese Regeln lässt sich definieren, was eine Führungskraft, ein Einkäufer oder eine Vertrieblerin zu tun haben, um als erfolgreich zu gelten, beliebt zu sein und anerkannt zu werden.

Zum anderen ist es schwerer, am Abend abzuschalten, wenn der gesamte Mensch vereinnahmt wird. Denn eine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit findet dann nicht mehr statt. Mehr noch: Soll der Mensch in seiner Arbeit mindestens ebenso begeistert sein wie in seinem Privatleben, stellt sich die Frage, was dann noch in seinem privaten Leben an Begeisterung übrig bleibt. Entweder er toppt seine beruflichen emotionalen Erfolge, indem er auch im Privaten nach ähnlichen emotionalen Höhenflügen strebt, im Sinne von Abenteuerurlauben und Wellnesstempeln. Oder er gerät in Depressionen, wenn ihm sein Privatleben weniger spannend als sein berufliches Leben vorkommt.

Authentische Rollen spielen

Um zu klären, wie wir in Zukunft mit Authentizität umgehen sollten, sollten wir Authentizität zuerst einmal als das entlarven, was es ist: Zum einen ist Authentizität eine Ideologie, die im Sinne Slavoj Zizeks unbewusst umso stärker wirkt. Zum anderen ist der Wunsch nach mehr Authentizität in einer Welt voller überbordender Bürokratie und digitaler Ferne und dem Verstecken von Entscheidungsträger*innen gleichzeitig ein nachvollziehbarer Wunsch nach Nahbarkeit und Menschlichkeit.

Die beste Lösung dieses Dilemmas besteht meiner Meinung nach in einer transparenten Erhöhung der Komplexität. Anstatt blind der Vorgabe zu folgen, authentisch zu sein oder sich hinter einer Rolle zu verstecken, sollten wir klar definieren, aus welchen Rollen unser Arbeitsleben im Detail besteht, welche Erwartungen wir selbst an diese Rollen haben und welche Erwartungen es von den Kolleg*innen gibt. Aus der unklar definierten Rolle einer authentischen – vermutlich im Sinne von begeisterten und mitreißenden – Führungskraft wird so eine Führungskraft als Antreiber*in, Visionär*in, Entscheider*in, Tüftler*in, Seelsorger*in, Coach, Vermittler*in, usw. Manche dieser Unterrollen lassen sich sehr authentisch ausleben, weil sie genau dem entsprechen, was zum jeweiligen Charakter passt. Andere Unterrollen werden sich weniger authentisch anfühlen, gehören jedoch ebenso zum Berufsleben dazu. Auch dies lässt sich gegenüber den Kolleg*innen deutlich machen. Die Führungskraft als Kumpel fühlt sich vielleicht besonders authentisch an. Die Führungskraft als Profi kennt jedoch ihr gesamtes (Unter-)Rollenrepertoire und ist in der Lage, von der einen Rolle zu anderen zu wechseln, wenn dies erforderlich ist.

Literatur:

Byung-Chul Han: Vom Verschinden der Rituale

Nieder mit der Ideologie: Philophische Sternstunden mit Slavoj Zizek (externer Link): https://www.youtube.com/watch?v=Lsc1e3pYtRw

Mediativ, Provokant, Agil mit einer prise Neuro

Mit mediativem Führen Veränderungsprozesse begleiten

Führungskräfte stehen heutzutage zwischen allen Stühlen. Von der einen Seite wird der Druck durch Kunden und den globalen Konkurrenzkampf über die arbeitsüberlasteten und ungeduldigen Mitarbeiter an sie herangetragen. Von der anderen Seite stoßen sie auf Systemstrukturen, die sich oftmals nicht so schnell verändern können, wie es wünschenswert und notwendig wäre. Führungskräfte befinden sich damit automatisch in einer vermittelnden, mediativen Rolle im System.

Der mediative Führungsansatz (Seminar-Agenda) bündelt die zentralen Elemente achtsamer, agiler, provokanter und neurobiologischer Führungsansätze zu einem umfassenden Gesamtkonzept. In Zeiten großer Veränderungen sind sowohl klare, kraftvolle Haltungen nötig, als auch die Achtsamkeit, mit Ruhe und Geduld zum passenden Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen zu treffen, der Humor, in Krisenzeiten die Mitarbeiter bei Laune zu halten und die richtigen Worte zu finden, die Fähigkeit, Informationen gezielt durch die Organisation zu steuern, Teams gleichzeitig stabil und agil aufzustellen sowie langfristig Mitarbeiter und Teams mit Hilfe mediativer Haltungen und gezielt eingesetzter Moderationstools zu mehr Verantwortung und Selbstmanagement anzuleiten.

Einen Einstieg in das Kapitel Mediative Führung finden Sie hier: Die Führungskraft als mediativer Moderator

Wollen Sie tiefer einsteigen: Buch und/oder Kurs zum Thema „Die Führungskraft als Mediator

Provokantes Führen: Komplexitätsreduktion beginnt und endet mit Beziehungsarbeit!

In meinen Führungstrainings lerne ich eine Vielzahl an Führungskräften kennen, die eine Sehnsucht nach einfachen Führungsprinzipien und -stilen haben. Einfach im Sinne von: Direkt, achtsam, authentisch, mutig, offensiv, ehrlich, menschlich, humorvoll und lebendig. In einigen dieser (nicht nur) jungen Führungskräfte blitzt auch ein provokanter Schalk in den Augen auf. Ohne Handbremse und Betriebsrat im Hinterkopf. Diese Sehnsucht brachte mich auf das Konzept “Provokante Führung”, das ich in meinem Buch (externer Link) “Provokantes Führen – Wie Sie Ihre Mitarbeiter aus der Reserve locken” beschreibe, seit Januar 2019 in der zweiten, aktualisierten Fassung. Humorvoll zu führen ist sozusagen die Championsleague unter den Führungstrainings.

Weg mit zu vielen Gesprächsregeln – her mit der Ehrlichkeit!

Dieses Konzept eines authentischen Beziehungsmanagements betrachte ich als zentralen Kern agiler Führung. Wir wurden in den letzten 30 Jahren mit Gesprächsregeln, Dos, Donts und Überpsychologisierung so überfrachtet, dass kaum noch jemand weiß, was er wie sagen sollte oder darf. Weg damit! Viel wichtiger als ‘Was ich sage’ ist ‘Wie ich es sage’. Wer machte nicht schon die Erfahrung einer toxischen Ich-Botschaft nach Lehrbuch, während ein herzliches “Du Idiot” äußerst liebevoll wirken kann?

Digitalisierung und Agilität als Treiber

Je virtueller wir werden, desto bewusster, klarer, direkter und menschlicher sollten wir die Beziehungen zu unseren Mitarbeitern pflegen, um eine Resilienz-Pufferzone für Krisen und Unklarheiten aufzubauen. Nicht umsonst kommt kaum eine Veranstaltung zum Thema Digitalisierung und Agilität ohne das Wörtchen Menschlichkeit aus.

Konzepte zur Vereinbarung von Agilität, Digitalisierung und Menschlichkeit in Teams und Organisationen, insbesondere für agilitätsferne Unternehmen, finden Sie in meinem Buch “New Work – Menschlich – demokratisch – agil” (externer Link).

60% der Führungsarbeit betrifft Konflikte

Zur Provokation gehört dazu, Streit nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern aktiv für Klärungen einzusetzen. Die übliche Lesart von Streit lautet: Ich habe recht und du nicht. Ich bestimme, du hast zu gehorchen. Wenn Führungskräfte in Mitarbeiterjahres(krampf)gesprächen Ziele vorgeben, die der Mitarbeiter umzusetzen hat, auch wenn er anderer Meinung ist, ist dies ein Zeichen für einen herkömmlichen Streit. Diese traditionellen Kämpfe machen nicht nur krank, sondern führen auch zum berühmten “Wie gewonnen, so zerronnen”, sobald der Mitarbeiter das Büro seiner Führungskraft verlässt.

Klärungen statt Sand im Getriebe

Dabei könnte streiten so produktiv sein, wenn sich die Beteiligten für etwas einsetzen, das ihnen wichtig ist. Ich investiere Zeit und Energie in ein Projekt, das mir etwas bedeutet. Ich setze mich ehrlich mit anderen Sichtweisen auseinander, ohne Maske, ohne Visier. Ich gehe in Widerstand, sollte mein Gegenüber aus meiner Sicht einen falschen Weg einschlagen. Ich erfreue mich an der lebendigen Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und Werten. Verbunden mit der Vision, dass am Ende nicht der hierarchisch höher Stehende gewinnt, sondern die beste Idee, die von allen gemeinsam umgesetzt wird.

Streit hält uns lebendig – Kooperationen machen uns erfolgreich

Jeder hat berechtigte Ziele und Ansichten. Erkenntnisse werden miteinander abgeglichen, um am Ende zu einem bestmöglichen Ergebnis für sich, für das Team und die Organisation zu kommen. Letztlich gilt: Was der Organisation zugute kommt, kommt auch mir zugute, erhält meinen Arbeitsplatz und zahlt mein Gehalt.

Neuroleadership

Ergänzt werden meine Konzepte Provokantes Führen und Agiles Führen (siehe auch Vortrag Agiles Führen) durch Erkenntnisse aus dem Neuroleadership.

All diese Konzepte verfolgen das Ziel, stabiler und flexibler mit Komplexität und “besonderen” Mitarbeitern umzugehen. Dazu braucht es die Selbststeuerungskompetenz der Mitarbeiter, und dazu wiederum ein transparent-authentisches Beziehungsmanagement mit demokratischen Befugnissen und Vertrauen auf beiden Seiten.

Sind Sie bereit für einen Paradigmen-Wechsel jenseits sozialer Masken und Erwünschtheit?