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Der Wunsch des Menschen nach Authentizität

Nur wer eine Rolle spielt, spielt eine Rolle

In vormodernen Zeiten war es normal, insbesondere in der Öffentlichkeit in Rollen aufzutreten. „Da steht er. Hochgewachsen, breitschultrig. Das Kinn kantig, die Haut wettergegerbt, die Augen in die Ferne gerichtet. Wortkarg. Einsam. Und im Herzen eine Sehnsucht“.1 Der klassische Mann wird hier als Macher, Held, Eroberer und einsamer Wolf beschrieben, als hätte Clint Eastwood die Regie für ihn verfasst. Ein Mann, der Gefahren trotzt und erst so richtig aufblüht, wenn eine Krise ins Haus steht. Ein Mann, der dann die Zügel in die Hand nimmt und Frau und Kinder vor einer chaotischen Welt schützt. Ein Mann, der vielleicht auch höflich und galant einer Frau die Tür aufhält. Ein Mann, der sich erst beweisen muss, um zu dem zu werden, der er innerlich schon ist – oder sein sollte.

Die Frau hingegen hatte sich unterzuordnen, demütig zu warten, das Essen herzurichten und sich mit Zigaretten oder „Frauengold“ zu beruhigen, wenn der Mann einmal über die Strenge schlägt.2 Sie hatte folglich in der Öffentlichkeit genau die gegenteilige Rolle des Mannes zu spielen, um ihrer weiblichen Rolle gerecht zu werden. Andernfalls galt sie als zickig, frigide oder hysterisch.

Ein Vertreter der Frankfurter Schule – mein Pädagogikstudium ist schon eine Weile her, deshalb weiß ich leider nicht mehr wer – stellte in den 60er Jahren die Vermutung auf, dass Männer in der Öffentlichkeit vermutlich deshalb so dominant auftreten, weil sie zuhause nichts zu sagen hätten. Auch wenn es in der Öffentlichkeit zur Unterdrückung von Frauen führte, erst recht, wenn sie zuhause nichts zu sagen hatten, war es wohl v.a. für Männer ein Spiel mit ihrer Rolle. Einige Männer werden dieses Spiel genossen haben, andere litten vermutlich darunter. Andernfalls würden wir heute nicht in einer Welt leben, in der die Spielregeln der Geschlechterrollen neu definiert werden. Sowohl Männer als auch Frauen – und Nonbinäre sowieso – treten so auf, wie sie sich innerlich fühlen.

Wie also steht es heute um unsere Authentizität in der Öffentlichkeit? Sind wir wirklich so authentisch wie wir glauben oder uns das wünschen? Eine Frage, die nicht nur für Stars und Influencer interessant ist, sondern für alle, die sich im Internet präsentieren.

Wer sich in digitalen Netzwerken wie Instagram oder Tiktok umsieht, wird nicht umhin kommen, diese Frage zu verneinen. Die dort eingenommenen Rollen folgen allerdings keinem einheitlichen Muster. Die klassischen Männer und Frauen-Rollen gibt es zwar noch, insbesondere in manchen Hollywood-Streifen, wenn es wieder einmal darum geht, dass Männer die Welt retten und Frauen staunend daneben stehen. Aber auch im aktuellen Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ scheint sich diese klassische Rollenaufteilung erhalten zu haben, wenn Medienmogule Frauen einen Klaps auf den Hintern geben und die Frauen von sich selbst erstaunt sind, dass sie die Challenge um den kürzesten Rock im Büro mitmachen.3

Das passiert jedoch eher dort, wo die Scheinwerfer nicht hinleuchten. Auf der öffentlichen Bühne von Twitter und Co. geht es vor allem um die Steigerung der Affizierung. Nur was Affekte auslöst, gilt als wertvoll.4 Dabei scheint es egal zu sein, ob ich mir damit viele Freunde oder auch Feinde mache. Für das Spiel mit Rollen bedeutet das v.a. aktuelle Trends der Wokeness oder Anti-Wokeness zu kennen und diese möglichst nahe an der Grenze zum Zeig- und Sagbaren auszudehnen – in beide Richtungen. Typische Trends lauten: Sensibilität, Solidarität, das Outing psychischer Krankheiten, Authentizität selbst, eine gesunde Ernährung, Fitness, aber auch Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit – oder entsprechend das Wettern dagegen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Auf Tiktok gibt es seit Anfang 2023 den Trend sich mit psychischen Erkrankungen zu outen oder diese zu kopieren.5 Und ein Musiker wie Harry Styles ist zwar nicht Transgender, posiert jedoch gerne mit Rock und bunten Tüchern.6

Dass sich Berühmtheiten mit bunten Federn darstellen und in extravagante Rollen schlüpfen ist nicht neu. Dieses Spiel trieben bereits Elton John und David Bowie in den 70ern auf die Spitze. Neu ist jedoch die Demokratisierung des öffentlichen Rollenspiels, so wie heutzutage alles demokratisiert wurde, vom öffentlichen Schreiben bis hin zu Fernreisen. Dank des einfachen Zugangs zu digitalen Medien hat heutzutage beinahe jede*r die Möglichkeit, sich in sozialen Netzwerken zu präsentieren.7

Um jedoch tatsächlich zu einem Star bzw. Influencer zu werden oder auch nur bemerkt zu werden, braucht es Follower. Und diese erreiche ich nur, wenn ich übertreibe und damit Freund und Feind affiziere. Aus diesem Grund funktionieren Rollenspiele im Internet nicht mehr nach einem statischen Muster wie es früher der Fall war, sondern haben sich dynamisiert. Wenn ich heute als Mann einen bunten Schal trage, mögen das einige Fans bewundernswert finden. Da sich dieser Effekt jedoch schnell abnutzt, muss es morgen ein bunter Rock und übermorgen eine Federboa sein. Die Grenzen des Sagbaren, Zeigbaren und der gezielten Provokation dehnen sich folglich immer mehr aus.

Unser Toleranzfenster verschiebt sich

Ich persönlich glaube nicht, dass diese Darstellungen eine Lüge sind. Und wenn wird es schnell offensichtlich. Ich denke durchaus, dass sich dahinter ein Funken Wahrheit befindet, damit es funktioniert, gerade weil Authentizität in unserer modernen Gesellschaft wichtig ist. Ein Star wie Harry Styles muss sich letztlich wohl fühlen in seiner Kleidung, um sich darin ehrlich präsentieren zu können. Das Spiel mit Rollen ist jedoch ein stetiges Ausbalancieren zwischen dem, was gerade noch passt und dem was zu viele Menschen negativ affizieren könnte.

Dies gilt selbstredend nicht nur für das Spiel mit dem Outfit, sondern erst recht für die Kommunikation im Internet. Auch damit stellen sich Politiker*innen genauso wie einfache Bürger*innen in Rollen dar, wenn sie als gezielte Provokateure auftreten. Und dennoch muss auch diese Provokations-Rolle ein Teil von ihnen sein, um sie authentisch darzustellen.

Um zu verdeutlichen, wie dieses Spiel mit der Provokation funktioniert, ist das Toleranzfenster des Professors für Psychiatrie Dan Siegel hilfreich. Dieses besagt, dass wir je nach Gewohnheit ein bestimmtes Toleranzlevel besitzen, um mit schwierigen Situationen oder konfrontativen Themen umzugehen. Dieses Toleranzlevel lässt sich als Fenster darstellen. Befindet sich eine Konfrontation innerhalb des Fensters, ist alles im grünen Bereich. Fehlt eine Affizierung führt dies zu Ausschlägen unterhalb des Fensters. Dan Siegel spricht in diesem Fall von einer Hypoerregung. Der Mensch langweilt sich. Führt die Konfrontation zu Ausschlägen oberhalb des Fensters, spricht Dan Siegel von einer Hypererregung. Kurzfristig feuert dann unser Sympathikus, um die Situation zu meistern. Bei einer langfristigen Erregung kollabiert entweder unser System oder wir gewöhnen uns daran.8

Im Umgang mit konfrontativen Themen passiert genau das: Das Fenster verschiebt sich nach oben mit zwei Folgen:

  1. Unsere Hypoerregung und Langeweile tritt immer schneller ein. Wir dürsten sozusagen nach neuen Skandalen.
  2. Unsere Hypererregung tritt immer langsamer ein, weil wir uns das, was gestern noch provokativ war, bereits gewöhnten. Das Sag- und Zeigbare muss daher immer konfrontativer werden, um weitere Erregungen auszulösen bzw. aus der Masse meiner Konkurrenz in digitalen Netzwerken herauszutreten.

Dass aktuell die halbe Menschheit erschöpft ist, ist also kein Wunder.9

Für unsere Sehnsucht nach Authentizität stellt sich daher die Frage, ab wann das Spiel mit einer Rolle aufhört authentisch zu sein und nur noch bedient wird, weil es andere Menschen in meinem Netzwerk positiv oder negativ affiziert?

Authentizität als Ideologie

Skurril wird es dann, wenn Menschen sich gezwungen fühlen, sich authentisch darzustellen, wenn sie beispielsweise nicht nur gute Arbeit abliefern, sondern in ihrer Arbeit aufgehen bzw. begeistert sein sollen, wie wir es in diversen modernen Unternehmen sehen. Authentizität wäre dann nicht nur eine Möglichkeit, als echter Mensch aufzutreten, sondern gerät damit zur Ideologie. Ideologien wiederum wirken umso stärker auf uns, weil sie unbewusst sind und sich daher schlecht hinterfragen lassen. Der Philosoph Slavoy Zizek geht davon aus, dass wir im Zeitalter der Ideologien leben, weil wir viele Dinge des Alltags als gegeben hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. So suggeriert uns beispielsweise die Werbung in einer Doppelbotschaft, dass wir uns einerseits gut ernähren und auf Zucker und Fett verzichten, andererseits aber auch konsumieren sollen, um glücklich zu sein. Die Lösung lautet daher nicht – wie es ebenso naheliegend sein könnte – weniger Zucker und Fett zu konsumieren, sondern stattdessen Produkte mit Zuckerersatzstoffen oder spezielle fettreduzierte Produkte zu kaufen.10

Authentizität wird damit zu einer Meta-Ideologie. Lasse ich mich auf dieses Spiel ein, wird durch solche unbewussten Ideologien der Druck auf den Menschen erhöht. Es reicht dann nicht mehr aus, Veganer*in oder Radfahrer*in zu sein. Ich muss es voller Überzeugung sein. Und im beruflichen Bereich reicht es nicht aus, einfach seinen Job zu machen. Ich sollte mit Leib und Seele dabei sein.

Im Berufsleben erscheint die Sehnsucht nach Authentizität besonders dramatische Konsequenzen zu haben. Denn häufig wäre es wesentlich einfacher, eine Rolle zu spielen, bestehend aus klaren, begrenzten Erwartungen an mich. Die sich daraus ergebenden Aufgaben haben den Vorteil, im Rahmen eines Rollenspiels stattzufinden, das sich wiederum durch klare Regeln auszeichnet. Durch diese Regeln lässt sich definieren, was eine Führungskraft, ein Einkäufer oder eine Vertrieblerin zu tun haben, um als erfolgreich zu gelten, beliebt zu sein und anerkannt zu werden. Soll ich jedoch mein authentisches Herzblut einbringen, ist es schwer, zu definieren, wann die Begeisterung ausreicht, um einen richtig guten Job zu machen. Schließlich können meine Kolleg*innen immer noch ein wenig begeisterter sein als ich, ähnlich wie sich ein konkurrierender Influencer in einem noch bunteren Kostüm präsentiert als ich.

Zum anderen ist es schwerer, am Abend abzuschalten, wenn der gesamte Mensch vereinnahmt wird. Denn eine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit findet dann nicht mehr statt. Mehr noch: Soll der Mensch in seiner Arbeit mindestens ebenso begeistert sein wie in seinem Privatleben, stellt sich die Frage, was dann noch in seinem privaten Leben an Begeisterung übrig bleibt. Entweder er toppt seine beruflichen emotionalen Erfolge, indem er auch im Privaten nach ähnlichen emotionalen Höhenflügen strebt, im Sinne von Abenteuerurlauben und Wellnesstempeln. Oder er gerät in Depressionen, wenn ihm sein Privatleben weniger spannend als sein berufliches Leben vorkommt.11

Wir sollten uns folglich klar machen, wann Authentizität sinnvoll ist, weil sie unser Leben bereichert und wann wir in eine Authentizitäts-Eskalations-Spirale geraten, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gesund ist, und vermutlich auch nicht mehr authentisch.

1Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/was-machte-den-mann-zum-mann-100.html

2Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Frauengold

3Vgl. https://www.freitag.de/autoren/erika-thomalla/noch-wach-von-benjamin-von-stuckrad-barre-ist-reine-selbstrechtfertigung

4Vgl. Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten, S. 70f

5Vgl. https://www.inrlp.de/ratgeber/technik/internet-handy/wegen-tiktok-videos-jugendliche-kopieren-psychische-stoerungen-experten-sehen-probleme-art-5610606

6Vgl. https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/queerbaiting-ist-gefaehrlich-vorwuerfe-an-harry-styles-und-taylor-swift

7Vgl. Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten, S. 68ff

8Vgl. https://psy.iks-hagen.de/images/Methodenzettel-Toleranzfenster.pdf

9Vgl. https://www.m-huebler.de/erschoepft-vom-leben

10Vgl. Nieder mit der Ideologie. Philosophische Sternstunden mit Slavoj Zizek: https://www.youtube.com/watch?v=Lsc1e3pYtRw

11Vgl. Byung-Chul Han: Vom Verschinden der Rituale, S. 25ff

Authentizität als Ideologie

Die Forderung nach mehr Authentizität könnte zu einer Gesamtvereinnahmung des Menschen führen. Der Mensch soll nicht nur mit einem Teil von sich gute Arbeit abliefern, sondern in seiner Gesamtheit begeistert sein. Damit wird jedoch zum einen der Druck in der Arbeit erhöht, weil ich dann mit Leib und Seele bei der Arbeit sein muss, anstatt lediglich eine Rolle auszuüben, bestehend aus klaren aber begrenzten Erwartungen an mich. Rollen wiederum haben den Vorteil im Rahmen eines Spiels stattzufinden, das sich wiederum durch klare Regeln auszeichnet. Durch diese Regeln lässt sich definieren, was eine Führungskraft, ein Einkäufer oder eine Vertrieblerin zu tun haben, um als erfolgreich zu gelten, beliebt zu sein und anerkannt zu werden.

Zum anderen ist es schwerer, am Abend abzuschalten, wenn der gesamte Mensch vereinnahmt wird. Denn eine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit findet dann nicht mehr statt. Mehr noch: Soll der Mensch in seiner Arbeit mindestens ebenso begeistert sein wie in seinem Privatleben, stellt sich die Frage, was dann noch in seinem privaten Leben an Begeisterung übrig bleibt. Entweder er toppt seine beruflichen emotionalen Erfolge, indem er auch im Privaten nach ähnlichen emotionalen Höhenflügen strebt, im Sinne von Abenteuerurlauben und Wellnesstempeln. Oder er gerät in Depressionen, wenn ihm sein Privatleben weniger spannend als sein berufliches Leben vorkommt.

Authentische Rollen spielen

Um zu klären, wie wir in Zukunft mit Authentizität umgehen sollten, sollten wir Authentizität zuerst einmal als das entlarven, was es ist: Zum einen ist Authentizität eine Ideologie, die im Sinne Slavoj Zizeks unbewusst umso stärker wirkt. Zum anderen ist der Wunsch nach mehr Authentizität in einer Welt voller überbordender Bürokratie und digitaler Ferne und dem Verstecken von Entscheidungsträger*innen gleichzeitig ein nachvollziehbarer Wunsch nach Nahbarkeit und Menschlichkeit.

Die beste Lösung dieses Dilemmas besteht meiner Meinung nach in einer transparenten Erhöhung der Komplexität. Anstatt blind der Vorgabe zu folgen, authentisch zu sein oder sich hinter einer Rolle zu verstecken, sollten wir klar definieren, aus welchen Rollen unser Arbeitsleben im Detail besteht, welche Erwartungen wir selbst an diese Rollen haben und welche Erwartungen es von den Kolleg*innen gibt. Aus der unklar definierten Rolle einer authentischen – vermutlich im Sinne von begeisterten und mitreißenden – Führungskraft wird so eine Führungskraft als Antreiber*in, Visionär*in, Entscheider*in, Tüftler*in, Seelsorger*in, Coach, Vermittler*in, usw. Manche dieser Unterrollen lassen sich sehr authentisch ausleben, weil sie genau dem entsprechen, was zum jeweiligen Charakter passt. Andere Unterrollen werden sich weniger authentisch anfühlen, gehören jedoch ebenso zum Berufsleben dazu. Auch dies lässt sich gegenüber den Kolleg*innen deutlich machen. Die Führungskraft als Kumpel fühlt sich vielleicht besonders authentisch an. Die Führungskraft als Profi kennt jedoch ihr gesamtes (Unter-)Rollenrepertoire und ist in der Lage, von der einen Rolle zu anderen zu wechseln, wenn dies erforderlich ist.

Literatur:

Byung-Chul Han: Vom Verschinden der Rituale

Nieder mit der Ideologie: Philophische Sternstunden mit Slavoj Zizek (externer Link): https://www.youtube.com/watch?v=Lsc1e3pYtRw