Authentizität als Ideologie

Die Forderung nach mehr Authentizität könnte zu einer Gesamtvereinnahmung des Menschen führen. Der Mensch soll nicht nur mit einem Teil von sich gute Arbeit abliefern, sondern in seiner Gesamtheit begeistert sein. Damit wird jedoch zum einen der Druck in der Arbeit erhöht, weil ich dann mit Leib und Seele bei der Arbeit sein muss, anstatt lediglich eine Rolle auszuüben, bestehend aus klaren aber begrenzten Erwartungen an mich. Rollen wiederum haben den Vorteil im Rahmen eines Spiels stattzufinden, das sich wiederum durch klare Regeln auszeichnet. Durch diese Regeln lässt sich definieren, was eine Führungskraft, ein Einkäufer oder eine Vertrieblerin zu tun haben, um als erfolgreich zu gelten, beliebt zu sein und anerkannt zu werden.

Zum anderen ist es schwerer, am Abend abzuschalten, wenn der gesamte Mensch vereinnahmt wird. Denn eine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit findet dann nicht mehr statt. Mehr noch: Soll der Mensch in seiner Arbeit mindestens ebenso begeistert sein wie in seinem Privatleben, stellt sich die Frage, was dann noch in seinem privaten Leben an Begeisterung übrig bleibt. Entweder er toppt seine beruflichen emotionalen Erfolge, indem er auch im Privaten nach ähnlichen emotionalen Höhenflügen strebt, im Sinne von Abenteuerurlauben und Wellnesstempeln. Oder er gerät in Depressionen, wenn ihm sein Privatleben weniger spannend als sein berufliches Leben vorkommt.

Authentische Rollen spielen

Um zu klären, wie wir in Zukunft mit Authentizität umgehen sollten, sollten wir Authentizität zuerst einmal als das entlarven, was es ist: Zum einen ist Authentizität eine Ideologie, die im Sinne Slavoj Zizeks unbewusst umso stärker wirkt. Zum anderen ist der Wunsch nach mehr Authentizität in einer Welt voller überbordender Bürokratie und digitaler Ferne und dem Verstecken von Entscheidungsträger*innen gleichzeitig ein nachvollziehbarer Wunsch nach Nahbarkeit und Menschlichkeit.

Die beste Lösung dieses Dilemmas besteht meiner Meinung nach in einer transparenten Erhöhung der Komplexität. Anstatt blind der Vorgabe zu folgen, authentisch zu sein oder sich hinter einer Rolle zu verstecken, sollten wir klar definieren, aus welchen Rollen unser Arbeitsleben im Detail besteht, welche Erwartungen wir selbst an diese Rollen haben und welche Erwartungen es von den Kolleg*innen gibt. Aus der unklar definierten Rolle einer authentischen – vermutlich im Sinne von begeisterten und mitreißenden – Führungskraft wird so eine Führungskraft als Antreiber*in, Visionär*in, Entscheider*in, Tüftler*in, Seelsorger*in, Coach, Vermittler*in, usw. Manche dieser Unterrollen lassen sich sehr authentisch ausleben, weil sie genau dem entsprechen, was zum jeweiligen Charakter passt. Andere Unterrollen werden sich weniger authentisch anfühlen, gehören jedoch ebenso zum Berufsleben dazu. Auch dies lässt sich gegenüber den Kolleg*innen deutlich machen. Die Führungskraft als Kumpel fühlt sich vielleicht besonders authentisch an. Die Führungskraft als Profi kennt jedoch ihr gesamtes (Unter-)Rollenrepertoire und ist in der Lage, von der einen Rolle zu anderen zu wechseln, wenn dies erforderlich ist.

Literatur:

Byung-Chul Han: Vom Verschinden der Rituale

Nieder mit der Ideologie: Philophische Sternstunden mit Slavoj Zizek (externer Link): https://www.youtube.com/watch?v=Lsc1e3pYtRw