Warum wir ein systemischeres Stressmanagement brauchen
Derzeit bin ich in verschiedensten Seminaren mit dem Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ unterwegs. Dass dieses Thema seit Corona wichtig ist, hat vermutlich jede*r schon am eigenen Leib oder aus Erzählungen erfahren. Die Rückmeldungen in meinen Führungs-Seminaren sind entsprechend. In einem Seminar für Leitungskräfte aus Pflegeheimen berichtete eine Teilnehmerin davon, dass sie am Abend meist komplett neben sich steht. Tagsüber funktioniert sie. Aber am Abend hat sie Kopfschmerzen, ist dauergereizt und streitet sich regelmäßig mit ihrem Mann.
Ein Einzelfall? Sicherlich nicht. In einem Online-Vortrag für 23 Führungskräfte startete ich neulich eine Abfrage: Wie belastet sind Sie aktuell auf einer Skala von 1-10. Als Antworten kam ein Durchschnitt von 9 heraus. Eine Person lag bei 6. Die meisten jedoch zwischen 8 und 10. Ich fragte ebenso ab, ob die Teilnehmer*innen glauben, dass es bald wieder besser wird. Ein Teilnehmer meinte „Ja“. Der Rest ging davon aus, dass es eher schlimmer wird.
Vor 4 Jahren war die Belastung ebenfalls hoch. Doch erstens war sie nicht ganz so hoch. Und zweitens gab es ein Licht am Ende des Tunnels. Heute ist das Ende nicht absehbar.
Gründe für Dauerüberlastungen
Gründe dafür, warum Teams allerorten überlastet sind, gibt es viele. Manche davon werden sich von alleine lösen, andere werden bleiben. Krankheitswellen kommen und gehen. Der Arbeitsmarkt jedoch bleibt bestehen. Junge Menschen wollen weniger arbeiten. Warum sich aufarbeiten? Auch Krisen werden vermutlich zunehmen: Zoonosen, Überschwemmungen, Hitzewellen. Bei der „Neuen Normalität“ müssten hinter dem Wort „Neu“ drei dicken Ausrufezeichen stehen und hinter dem Wort „Normalität“ ein großes Fragezeichen.
Was also ist zu tun, damit die Menschen nicht reihenweise in Burnout-Kliniken landen?
Zuerst einmal gibt es im Stressmanagement ein großes Repertoire an Methoden, mit denen viel erreicht werden kann, wenn sie konsequent angewendet werden:
- Aus der Resilienzforschung wissen wir um die Vorteile einer klaren Zielsetzung, einer optimistischen Einstellung, dem Vertrauen in die Zukunft, klaren Verantwortungsverteilungen im Team und der Macht des Austauschs mit anderen. Doch was passiert, wenn wir keine längerfristigen Ziele mehr setzen können und sich der Optimismus über die letzten Jahre abnutzte? Aktuell habe ich das Gefühl, die meisten Menschen sind froh, wenn dieses Jahr einigermaßen ohne weitere große Zwischenfälle verläuft. Große Pläne haben da eher keinen Platz.
- Aus dem Selbst- und Zeitmanagement kennen wir Todo-Listen und Prioritätenpläne. Auch das kann helfen, um mit den gröbsten Belastungen umzugehen. Doch was passiert, wenn täglich Aufgaben anfällen, die auf keiner Liste stehen und Prioritäten immer wieder neu priorisiert werden müssen?
- In diesem Fall sollten wir unsere Einstellungen verändern, was im Wesentlichen mit Achtsamkeit zu tun hat: Die Arbeit muss erledigt werden. Aber wie gut oder schlecht gelaunt ich das mache und ob ich mir dazwischen Regenerationspausen gönne, ist mir selbst überlassen. Fakt ist: Selbst wenn ich heute alles erledigen würde (was utopisch erscheint), ginge es morgen von vorne los. Sisyphos lässt grüßen.
- Doch auch die Einstellungsveränderung stößt an Grenzen. Umso wichtiger ist es, sich aktiv um seine Lebensbalance zu kümmern, was letztlich bedeutet, von einem WorkLifeBlending wieder zu einer klaren WorkLifeBalance zu kommen, indem ich meine Arbeit klar von meinem Privatleben trenne. Bei manchen Führungskräften werden beispielsweise die Diensthandys ab 18 Uhr konsequent abgeschaltet.
Vom Ego zum System
All diese Ansätze sind jedoch weitgehend egobezogen. Der Mensch ist selbst dafür zuständig, seine Arbeitskraft zu erhalten. Allenfalls die Unterstützung anderer – wie im Resilienzansatz angedeutet – wirkt noch ergänzend zur eigenen Leistung. Die Systemfrage wird jedoch selten gestellt.
Dabei haben wir in den letzten Jahren durchaus erfahren, dass Systeme sich verändern können, wenn sie müssen. Homeoffice funktionierte nach einigen Startschwierigkeiten besser als gedacht. Woher kommt also die große Angst, auf der Systemebene nach Lösungen zu suchen? Und muss es immer ein großer Schock sein wie von Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schockstrategie“ beschrieben, bis sich etwas verändert?
Ein Beispiel: Eine Malermeisterin kann keine Aufträge mehr annehmen, weil sie kein Personal mehr hat. Die Lösung: Sie stellt auf eine 4-Tage-Woche um und gibt ihren Mitarbeiter*innen mehr Freiheit in ihrer Arbeitszeiteinteilung. Konkret: Ist ein Maler mit einem Auftrag bereits nach 4 Stunden fertig, fragt er seine Kolleg*innen, ob auf einer anderen Baustelle jemand gebraucht wird. Die Reduzierung der Arbeitswoche sorgt für mehr Ausgleich, die Flexibilisierung für eine bessere Auslastung aller. Beides führt zu mehr Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und in Folge zu mehr Bewerber*innen. Die Malermeisterin greift auf ein agiles System zurück, ohne das Wort Agilität in den Mund zu nehmen. Sie suchte einfach nach einem pragmatischen Ansatz (siehe externe Quelle: https://www.freitag.de/autoren/lena-marbacher/new-work-eine-handwerkerin-weiss-besser-als-linkedin-was-modernes-arbeiten-ist, leider hinter einer Bezahlschranke).
Was also braucht es, um Systeme zu ändern?
Wie wir an dem Beispiel gesehen haben nicht viel. Bereits die Umstellung von einer 5- auf eine 4-Tage-Woche hat eine enorme Auswirkung. Um eine solche Entscheidung zu treffen, braucht es jedoch nicht nur Mut, sondern auch das Vertrauen in die Flexibilität der sich selbst organisierenden Mitarbeiter*innen.
An dem Beispiel sehen wir allerdings auch, dass neue Arbeitsansätze durchaus Möglichkeiten bietet, Stress und Dauerbelastungen zu reduzieren. Wie wäre es beispielsweise mit der Überprüfung überkommener Regeln wie im Ansatz von „Kill a stupid rule“ (siehe externe Quelle: https://nativdigital.com/kill-a-stupid-rule), nicht um agiler und schneller zu werden, sondern um Belastungen besser zu meistern?
Literatur (externer Link): Michael Hübler – Du bist nicht schuld!