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Auf dem Weg zu einer humanen Digitalisierung

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In vielen Unternehmen ist die Digitalisierung weit vorangeschritten, in anderen wird immer noch gefremdelt. Dies liegt insbesondere an branchenspezifischen Einstellungen der Menschen. Eine Studie von Sebastian Wörwag gibt Aufschluss darüber, was unterschiedliche Branchen erwarten und befürchten.

Stimmungs-Status-Quo in verschiedenen Branchen

Grob zusammengefasst erwartet die IT-Branche mehrheitlich Positives von der Digitalisierung:

  • weniger Routineaufgaben
  • mehr (kreative) Freiräume, erst recht durch KI
  • und damit auch die Zunahme spannender Arbeit

In der Finanzbranche sieht es schon anders aus. Hier wird erwartet, dass …

  • zwar einerseits Routineaufgaben abgenommen werden, bspw. durch Chatbots,
  • andererseits jedoch Standardisierungen zunehmen und damit auch persönliche Entscheidungsfreiräume wegfallen.

Die Sozialen und Gesundheits-Berufe stehen der Digitalisierung besonders skeptisch gegenüber. Hier wird erwartet, dass digitalisierte Prozesse in diesen Berufen wenig bis gar nichts bringen. Ehrlicherweise muss man auch festhalten, dass eine Tätigkeit wie die Pflege an sich kaum digitalisiert werden kann. In ferner Zukunft könnten evtl. Pflegeroboter zum Einsatz kommen. Bis dahin bezieht sich die Digitalisierung von Prozessen v.a. auf Verwaltungstätigkeiten im Hintergrund.

Die Bildungsbranche wiederum erwartet v.a. mehr Freiräume für die Lehre und Forschung durch die standardisierte Digitalisierung von Prozessen, bspw. bei Laboruntersuchungen, die 1000 mal durchgeführt werden müssen.

Und in der Öffentlichen Verwaltung schließlich scheint eine Art Gleichmut vorzuherrschen: Während auf der einen Seite mehr Routineaufgaben erwartet werden, werden auf der anderen Seite digitale Hintergrund-Prozesse eingeführt, um die eigene Arbeit zu erleichtern. Damit halten sich Befürchtungen und Begeisterung die Waage.

Kreativität versus Digitalisierung

Ein Schlüssel zur Akzeptanz digitaler Prozesse ist definitiv die Einschätzung der Notwendigkeit von Kreativität in der eigenen Arbeit. Hier ergab die Untersuchung von Wörwag Erstaunliches:

  • Während die Notwendigkeit von Kreativität im Sozialen Bereich (18%) und Gesundheitsbereich (27%) am höchsten von allen untersuchten Branchen eingeschätzt wird (Durchschnitt aller Branchen 14%),
  • liegt sie im Bereich Bildung und Forschung bei überraschenden 10%. Um es noch einmal klar zu verdeutlichen: Die befragten Angestellten gaben lediglich zu 10% an, dass Kreativität in Lehre und Forschung wichtig ist.
  • Selbst die Öffentliche Verwaltung (15%) und das Finanzwesen (13%) liegen hier höher.
  • Noch extremer ist es in der IT. Hier gaben 0% an, dass Kreativität in ihrer Arbeit erforderlich ist. Daraus lässt sich auch erklären, warum KI in der IT so wichtig erscheint, was mich als Nicht-IT-ler erstaunt: Es scheint oftmals weniger um neue Ideen zu gehen, sondern mehr um die Umsetzung von Routine-Programmierungen oder die Wartung vorhandener Systeme.

Da jedoch digitale Prozesse, insbesondere KI und die Arbeit mit Algorithmen, bereits vorhandene Daten nutzen oder analoge Prozesse digital standardisieren, werden sie nicht damit verbunden, etwas Neues in die Welt zu bringen. Es geht also nicht darum, mit einer neuen Situation kreativ umzugehen.

Je wichtiger folglich für ein/e Mitarbeiter*in – unabhängig von der Branche – Kreativität ist, desto mehr wird er oder sie die Digitalisierung ablehnen, weil mit der Digitalisierung eher eine Standardisierung verbunden ist, in der Freiräume mehr beschnitten als gefördert werden.

Eine Faustformel zur Digitalisierung von Prozessen

Der Vergleich der Branchen zeigt deutlich, dass jede Branche anders bei der Digitalisierung tickt. Umso wichtiger ist es, nicht in einen Machbarkeitswahn zu verfallen, sondern sich genau zu überlegen, wann die Digitalisierung von Prozessen sinnvoll ist.

Im Sinne einer humanen Arbeit kann eine Faustformel (mit fünf Fingern) dazu lauten:

  1. Sinnvoller Zweck und Nutzen: Worin besteht der Nutzen des digitalisierten Prozesses? Soll er die Menschen entlasten? Schneller, agiler oder kundenfreundlicher („Ihre Nachricht kam an und wir kümmern uns darum …“) machen?
  2. Weiterentwicklung statt Entfremdung: Werden Prozesse digitalisiert, die den Menschen bislang Spaß machten? Werden sie also von ihrer Arbeit entfremdet? Verstehen die Mitarbeiter*innen noch, was bei digitalen Prozessen im Hintergrund passiert, auch um es Kund*innen verständlich zu machen? Oder nimmt die Digitalisierung dem Menschen ungeliebte Tätigkeiten ab und hilft ihm sich weiterzuentwickeln?
  3. Freiräume für persönliche Entwicklungen: Schaffen digitale Prozesse Freiräume zur Entwicklung der Mitarbeiter*innen an einer anderen Stelle? Oder gilt es nur noch, im Hintergrund digitale Prozesse zu beobachten und bei Fehlern einzugreifen? Kurzum: Macht die Digitalisierung die Arbeit spannender oder langweiliger?
  4. Bindung: Fördert die Digitalisierung die Bindung zueinander, bspw. weil digitalisierte Routineaufgaben Freiräume schaffen, die für kreative Prozesse im Team genutzt werden? Oder schafft die Digitalisierung (Stichwort: Onlinemeetings) mehr Distanz zwischen den Mitarbeiter*innen? Es ist erstaunlich, wie viele Teams sich online verabreden, nur weil es einfacher ist, obwohl alle am gleichen Ort sind.
  5. Teilhabe, Integration und Inklusion: Fördert die Digitalisierung die Teilhabe möglichst vieler Mitarbeiter*innen an der Arbeit oder auch Diskussionen und Abstimmungen? Schaffen bspw. Onlinemeetings bessere Zugänge für Gehandicapte? Denken wir dabei auch an Apps für Sehbehinderte, die ihnen helfen, Einkaufswaren zu scannen oder die Möglichkeit von Übersetzungsprogrammen im interkulturellen Austausch. Und auch zur Partizipation möglichst vieler Mitarbeiter*innen an Unternehmensprozessen lassen sich digitale Hilfsmittel (Onlinemeetings, Abstimmungsplattformen) gut einsetzen. Die Frage ist nur: Ist das auch gewünscht?

Zusammenfassen lassen sich diese 5 Aspekte auch in die 3 Bereiche des Organisatorischen, Persönlichen und Sozialen:

Literatur

Sebastian Wörwag, Andrea Cloots (Hrsg.) – Human Digital Work – Eine Utopie? Springer—Gabler, 2020, S. 127ff

Warum über Generationen zu sprechen heikel ist

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Das Bedürfnis, über Generationen zu sprechen erscheint größer denn je. Während nicht nur in meinen Seminaren regelmäßig auf die Generation Z geschimpft wird, weil diese (anscheinend) nicht mehr so viel arbeiten will wie ihre Vorgänger-Generationen und damit den Industriestandort Deutschland zu gefährden scheint, wird auf der anderen Seite den „Boomern“ vorgeworfen, die Umwelt zerstört zu haben. Immerhin hat dann jede Seite ein klares Ziel für den eigenen Frust. Ist es nicht super, wenn ich weiß, dass jemand schuld ist – wahlweise an der Unterbesetzung in meinem Team oder an der Umweltverschmutzung?

Tatsächlich ist es nichts neues, dass jüngere Generationen Dinge anders sehen und machen. Das galt bereits bei den alten Griechen. Neu ist der Austausch über die digitalen Medien, auf denen sich Ältere und Jüngere treffen. Hinzu kommt nach einer langen Phase der Sorglosigkeit eine krisengebeutelte Zeit. Der Druck im Kessel ist hoch und gleichzeitig wird lautstark über die jeweilige Gegenseite lamentiert.

Nur: Bringt uns das weiter? Und: Stimmt die Generationenfrage überhaupt?

Strömungen statt Generationen

Streng genommen müssten wir nicht von Generationen sprechen, sondern von einflussreichen Strömungen innerhalb einer Generation. Ja, junge Generationen sehen vieles anders. Das gilt jedoch nur für einen kleinen Teil einer Generation. Meine Eltern waren keine Hippies, obwohl es zeitlich gepasst hätte. Sie hörten nicht Jimi Hendrix, sondern tanzten auf James Last. Und meine eigenen Kinder waren auf keiner einzigen Fridays-for-Future-Demo. Wir leben hier zwar seit Jahr und Tag ökologisch verträglich, fliegen nicht, waren noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff, sind passionierte Camper, Papa fährt am liebsten mit der Bahn, wir ernähren uns flexi-bio und trennen unseren Müll nach bestem Wissen und Gewissen. Wir sind jedoch keine Öko-Aktivisten. Und: Meine Kinder gingen auf eine Realschule. Fridays-for-Future ist Thema für Gymnasiast*innen.

Und haben die Vorgängergenerationen tatsächlich den Klimawandel befeuert? Die Industrie mit Sicherheit. Aber was war mit den Umwelt-Bewegungen seit den 70-er Jahren, aus denen die Grünen hervor gingen?

Ähnlich wie in jedem Konflikt, überschätzen sich die Parteien auch in diesem hochstilisierten Generationen-Konflikt: „Ich gut – Du schlecht“ lautet die Devise. Auf Generationen übertragen heißt das:

  • Wir halten den Laden am Laufen und ihr seid faul.
  • Oder: Wir retten die Welt, die ihr zerstört habt.

Dabei wird leider der eigene positive Anteil überschätzt und der eigene negative Anteil unterschätzt:

  • Teile älterer Generationen gingen oft zu sorglos mit sich und der Umwelt um. Manche beuteten sich über Jahrzehnte hinweg in der Arbeit selbst aus, um sich und der Familie ein Eigenheim zu leisten. Hier machen viele jüngere Menschen nicht mehr mit. Warum auch, wenn sie in Großstädten leben, es Carsharing gibt und sie sich ein Haus ohnehin nicht mehr leisten können oder wollen.
  • Gleichzeitig nutzen jüngere Generationen digitale Möglichkeiten sorgloser als Generationen zuvor. Wer sich jedoch den Strom- und Wasserverbrauch bspw. von ChatGPT ansieht, könnte sein anti-grünes Wunder erleben. Und sind Klimaaktivist*innen wirklich so radikal wie sie dargestellt werden? Nur ein Beispiel: Erinnert sich noch jemand an die Republik Freies Wendland als Protest gegen die Tiefenbohrung zur Erstellung eines Atommüll-Endlagers in Gorleben? Mit eigenem Piratensender und solidarischen Botschaften u.a. in Hamburg, Hildesheim und Krefeld. Die Politik sprach von Hochverrat. Es gab sogar einen Pass, in dem stand: „Dieser Pass ist gültig, solange der Inhaber noch lachen kann“. Mir scheint, der Protest war damals radikaler als heutzutage, weil sowohl Gesellschaft als auch Medien und Politik heute insgesamt wohlwollender auf solche Protestaktionen reagieren. Damals war das absolutes Neuland. Laut Berichten wurden die Besetzer*innen mit zum Teil brutaler Härte von der Polizei davon geschleppt, geschleift und gestoßen, während Klimaaktivist*innen heute beinahe schon sanft von der Straße entfernt werden. Wenn nicht ist der Aufschrei in den digitalen Medien gegen Polizeigewalt groß.

Jede Generation hat ihre Aktivist*innen und einflussreiche Strömungen. Diese sind heute vermutlich einflussreicher als früher, da gesellschaftliche Macht heutzutage nicht nur auf finanziellen Gütern oder einflussreiche Positionen beruht, sondern auch und insbesondere über digitale Medien. Wer also als junger Mensch auf Youtube, Twitter oder Instagram viele Follower*innen um sich schart, kann Macht ausüben, wenn er will und bspw. „die CDU zerstören“. Solche Einflusssphären wirken jedoch größer als sie sind, weil viele Vertreter*innen auch der jüngeren Generation gar nicht bei Twitter sind.

Ein Fazit zur Generationen-Versöhnung

  1. Entspannt euch. Das kann nie schaden.
  2. An besagte Strömungen aus der jüngeren Generation: Überschätzt euch nicht. Es gab bei den Boomern Strömungen, die radikaler waren als ihr es seid. Und wer weiß: Vielleicht war mein Chef in den 80ern selber eine rebellische Seele? Letztlich gilt der Wahlspruch „Wir stehen alle auf den Schultern von Giganten“. Und das gilt nicht nur für die Klimabewegung, sondern für jede gesellschaftspolitische Strömung. Die Ursprünge von New Work und einer Positiven Führung gehen (mindestens) bis in die 60er Jahre zurück. Holokratie wäre nichts ohne die Ursprünge der Soziokratie. Was heute Mainstream ist, war damals Avantgarde. Ein dicker Respekt für solche Pionierleistungen ist niemals falsch.
  3. An die noch mächtigen Teile älterer Generationen: Hört zu. Vieles, was sich Teile der jüngeren Generation wünschen, sind vermutlich geheime eigene Wünsche: Was ist so schlimm daran, weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen? Was ist falsch daran, Spaß an und in der Arbeit zu haben? Was ist verwerflich daran, überkommene Prozesse auf deren Sinnhaftigkeit zu hinterfragen?

Ein nachhaltiger Wandel, sowohl gesellschaftlich als auch in Unternehmen, funktioniert nur gemeinsam.

Brauchen wir Religion, um moralisch gut zu sein?

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Ein Team um den kanadischen Psychologen Ara Norenzayan testete anhand von Priming-Experimenten die unbewusste Wirkung religiöser Begriffe auf die Entscheidungen einer Gruppe von Menschen, von denen lediglich 50% behaupteten, religiös zu sein (nachzulesen in Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die 10 Gebote, Klett-Cotta, 2015, S. 294ff).

Während der eine Teil der Versuchspersonen einen Text bearbeitete, in dem Wörter wie „Gott“, „göttlich“ oder „Prophet “ vorkamen, fehlten solche Begriffe bei der Kontrollgruppe (das klassische Priming-Setting). Anschließend wurden 10 Ein-Dollar-Münzen auf den Tisch gelegt, von denen die Proband*innen für sich nehmen konnten wieviel sie wollten. Was sie jedoch nicht nahmen, bekam ihr/e Nachfolger/in.

Das Ergebnis war beeindruckend: Während in der Gottes-Gruppe im Durchschnitt 4,22 $ zurückblieben, waren es in der nichtgebahnten Gruppe lediglich 1,84 $.

Vermutlich dachte die Gottes-Gruppe an einen unsichtbaren Gott, der über ihre Taten richtet, was sie zu altruistischeren Handlungen verleitete. Eine solche Sichtweise deckt sich mit der geschichtlichen Entstehung von Religionen zu einem Zeitpunkt, an dem Gemeinschaften so groß wurden, dass direkte Verbindungen nicht mehr so einfach möglich waren. Da Herrscher nicht jede Fehltat kontrollieren lassen konnten, brauchte es eine unsichtbare Kraft, um Recht, Ordnung und Moral auch ohne staatliche Sanktionen aufrecht zu erhalten.

In einer weiteren Studie tauschten sie die Gottes-Begriffe gegen Begriffe wie „gutbürgerlich“, „Staatsbürger“, „Geschworene“ und „Gericht“ aus. Der Effekt war derselbe wie bei den Gottes-Begriffen.

Das simple Fazit daraus lautet: Religionen erfüllen durchaus ihren Sinn in einer Gesellschaft, weil sie uns dabei helfen, uns moralisch gut zu verhalten. Sollten Religionen jedoch in mehr und mehr sakularisierten Gesellschaften abgeschafft werden, braucht es die gesellschaftliche Akzeptanz anderer Instanzen, um das Bewusstsein für eine ordnende Kraft zu fördern, damit wir nicht allzu egoistisch verhalten und gut miteinander umgehen.

Wie wir uns ständig einreden, wie unpassend es ist, anderen zu helfen

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Wie der Biologe Frans de Waal in seinem Buch „Der Mensch, der Bonobo und die 10 Gebote“ darstellt, gibt es zwei widerstreitende Maximen zum Thema Helfen: Die „Altruismus-muss-weh-tun“- und die „Altruismus-fühlt-sich-gut-an“-Hypothese.

Kostet anderen zu helfen einen Preis?

Dass anderen zu helfen mit Schmerzen verbunden sein muss, war lange Zeit die Haupterklärung für Altruismus. Wer anderen hilft, ist naiv. Und wenn schon geholfen wird, ist das zumindest erklärungsbedürftig. Die Grundannahme dahinter lautet: Wir leiden jetzt, indem wir uns für andere aufopfern, um später einen Vorteil daraus zu ziehen. Wir ziehen unsere Kinder auf, damit wir im Alter nicht alleine sind. Wir helfen Freunden beim Umzug, damit wir bei Bedarf ebenso Hilfe bekommen. Oder wir unterstützen Kolleg*innen, damit wir uns, wenn wir einmal ganz oben in der beruflichen Nahrungskette stehen, auf eine breite Unterstützungsbasis verlassen können.

Diese Denkweise hat auch heute noch in vielen Bereichen Gültigkeit, wenn es heißt, man solle sich nicht über den Tisch ziehen lassen und jede*r soll sich in unserer neoliberalen Welt am besten um sich selbst kümmert, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Und ganz falsch ist das nicht. Es ist ja tatsächlich so, dass wir uns durch ein altruistisches Verhalten Freunde machen, die uns bei Bedarf später mit einer höheren Wahrscheinlichkeit unterstützen werden.

Gleichzeitig klingt dieser Ansatz doch sehr strategisch, als würden wir genau deshalb helfen, um später Hilfe zu bekommen. Dass diese Herangehensweise nicht funktioniert, zeigt Adam Grant in seinem Buch „Geben und Nehmen“. Grant stellt dar, dass wir am meisten Hilfe zurückbekommen, wenn wir selbst keine Hintergedanken haben. Die strategische Version ist zu manipulativ.

Was wir alles denken, um anderen nicht helfen zu müssen

Die Altruismus-mit-Schmerzen-Hypothese kam jedoch in den letzten Jahren v.a. durch bildgebende Verfahren unter Druck. U.a. wurde von einem Team um James Rilling von der Emory University festgestellt, dass wir in sozialen Situationen zuerst den Impuls haben, anderen zu helfen und dann erst darüber nachdenken, ob diese Hilfe gut oder schlecht ist (de Waal, 2015, S. 72).

Kognitive Begründungen für eine Nichthilfe können entsprechend der „Altruismus-tut-weh“-Hypothese vielfältig sein:

  • Du machst dich hier zum Affen.
  • Ist das nicht übergriffig?
  • Bloß nicht einmischen.
  • Am Ende fühlt sie sich von dir angemacht.
  • Wer zu viel hilft, macht andere abhängig.
  • Und bei gehandicapten Menschen: Wie helfe ich hier am besten? Vielleicht will der das gar nicht.

Kurzum: Als erstes taucht der Impuls zu helfen auf. Dann jedoch finden wir eine Menge Gründe, warum es unpassend ist.

Öfter mal zum Affen machen

Wie de Waal zeigt, ist dieser Impuls ein Erbe unserer tierischen Vorfahren. Sowohl Schimpansen als auch Bonobos lösen eine Menge Konflikte, indem sie beispielsweise Kontrahenten nach einem Streit zur Versöhnung sanft aufeinander zu schieben oder anderen die Tür zu einem Futterraum öffnen, obwohl sie selbst dadurch weniger Futter bekommen.

Aber gehen insbesondere Schimpansen nicht oftmals aggressiv miteinander um? Dies liegt meist an der Enge und fehlenden Fluchtmöglichkeiten in einer unnatürlichen Umgebung. Zum Vergleich: In einen einstöckigen Nahverkehrs-Reisezugwagen passen inklusive stehenden Personen etwa 150 Menschen. Stellen wir uns vor, der Zug strandet bei Vollbesetzung zwischen zwei Haltestellen im Nirgendwo. Bei einer sommerlichen Hitze von 30 Grad. Die Klimaanlage fällt aus. Zudem ist unklar, wie lange der Aufenthalt dauert. Wie lange dauert es wohl, bis die ersten Menschen darin ungehalten reagieren? Nebenbei: Gibt es schon eine Serie über Geschichten, die Menschen erleben, wenn die Bahn Verspätung hat? Wenn nein, warum nicht? Netflix, Amazon oder Disney, wie wär’s?

Unsere weniger sozialisierten Vorfahren denken vermutlich weniger als wir über Gründe nach, warum sich gegenseitig zu helfen falsch ist. Vielleicht sollten wir uns viel öfter „zum Affen machen“. Aber vielleicht steckt dahinter auch eine große Kränkung. Wie Sigmund Freud bereits anmerkte: Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Und Frau wohl auch nicht. Freud meinte damit, dass unser Es, d.h. unsere unbewussten Impulse, uns oftmals mehr leiten, als uns lieb ist.

Wobei der Geschlechterunterschied, wenn wir schon dabei sind, ein gutes Stichwort ist: Nach de Waal reagieren bereits neugeborene Mädchen stärker auf Gesichter, während das männliche Geschlecht stärker auf mechanisches Spielzeug reagiert. Später sind Mädchen prosozialer als Jungs, achten mehr auf Stimmen, können emotionale Ausdrücke besser deuten, sind empathischer und haben mehr Gewissensbisse, wenn sie andere verletzen (de Waal, S. 75).

Geht es also gar nicht darum Chef*in im eigenen Haus zu sein, sondern besser auf die eigenen inneren Impulse zu horchen, ohne sie mit logischen Argumenten beiseite zu schieben?

Helfen macht Spaß

Schauen wir uns genauer an, welche Tätigkeiten bei uns Menschen mit Lust verbunden sind, wird deutlich, dass biologisch alles, was uns im ersten Moment keinen Vorteil bringt, jedoch wichtig für unser Überleben als Mensch oder Menschheit ist, mit positiven Emotionen vernetzt ist:

  • Das Stillen unseres Hungers gibt uns ein befriedigendes Gefühl. Der Geschmack von Salz, Zucker, Pfeffer, Knoblauch, usw. ist dabei auch nicht zu vernachlässigen.
  • Wie Sex funktioniert brauche ich wohl nicht zu erläutern.
  • Und die Königsdisziplin des Helfens – die Brutpflege – funktioniert ebenso nur durch positive Emotionen.

Einfach formuliert werden beim Helfen – und zwar nicht nur den eigenen Nachkommen, sondern auch der alten Dame am Ticketautomaten – Bindungshormone (Oxytocin) ausgeschüttet, die uns über unsere Spiegelneuronen beinahe das Gefühl geben, uns selbst zu helfen. Schaffen wir es, die unterstützte Person zu ihrem Ziel zu führen, haben wir damit auch das Gefühl, selbst ein Ziel erreicht zu haben. Dadurch werden Glücks- und Belohnungsgefühle im Nucleus accumbens ausgelöst, wodurch wir uns gemeinsam über diesen Erfolg freuen können.

Und damit sind wir bei der „Altruismus-fühlt-sich-gut-an“-Maxime angekommen. Der Grundgedanke dahinter lautet also: Wenn wir schon weniger an uns selbst denken, sollte es sich gut anfühlen, anderen zu helfen, damit wir es auch tun.

Um andere zu unterstützen brauchen wir also nicht einmal Mut, sondern lediglich das Im-Zaun-halten der inneren Stimmen, die uns suggerieren, wie naiv und unpassend es doch ist, anderen zu helfen.

Weihnachten überstehen

Bald ist es wieder soweit. Dann treffen am Fest der Liebe Menschen aufeinander, die genau einmal im Jahr in einer solchen Konstellation zusammentreffen und sich so gar nicht verstehen. Das war schon immer so. Und doch haben die potenziellen Themen des Missverstehens in den letzten Jahren so zugenommen wie die Jahresendmägen der Diskutanden. Zum einen gab es früher keine Coronamaßnahmen, Waffenlieferungen an Europas Grenzgebiete, Solidaritätsfrieren oder Straßenblockaden der selbsternannten „Letzten Generation“. Auch Themen wie Veganismus oder Flugreisen wurden weniger heiß diskutiert. Zum anderen scheinen Diskussionen allgemein jakobinischer geworden zu sein.

Grund genug, sich anzusehen, welche Möglichkeiten es gibt, das Weihnachtsfest auch bei weit auseinander liegenden Meinungen heil zu überstehen.

Zwischen Befürchtungen und Bedürfnissen

Bevor wir dazu kommen, ist es hilfreich zu überlegen, aus welchen Gründen jemand seine Meinung vehement verteidigt. Ein Grund, der häufig genannt wird ist die allgemeine Meinungsfreiheit. Dahinter scheint es eine Angst zu geben, in dunkle Zeiten zurückzufallen, in denen nicht mehr alles gesagt werden durfte. Schnell ist dann der Begriff einer „Cancel Culture“ zur Hand, in der eine Meinung zwar gesagt werden darf, aber drastische Konsequenzen nach sich zieht. Wenn beispielsweise eine Professorin an einer Universität eine Statistik zitiert, bei der es um biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau geht, die von manchen gesellschaftlichen Gruppierungen geleugnet werden. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine ganz banale Diskussion handelt, die durchaus auch heiß werden kann, oder ob das Zitat der Professorin tatsächlich zu einer Entlassung oder einer Ausladung von Konferenzen führt. Im ersten Fall, der nach meiner Beobachtung weit häufiger passiert, allerdings im Vergleich zu früher nun vor aller Augen im Internet vollzogen wird, handelt es sich sicherlich nicht um einen Fall von Cancel Culture. Im zweiten Fall wohl schon. Leben wir also in einer Gesellschaft, in der einzelne Meinungen gecancelt werden? Ja und Nein.

Was passiert jedoch an Weihnachten? Muss ich befürchten, dass ich kein leckeres Stück von der Weihnachtsgans (bereits hier kann der Streit schon anfangen) aufgrund meiner Äußerungen bekomme? Oder dass ich mit bösen Blicken überzogen werde? Zwei Tage später ist der Liebes-Spuck wieder vorbei und ich kann in mein altes Leben und in meine ganz persönliche Filterblase zurückkehren. Die Konsequenzen sind also überschaubar.

In öffentlichen Diskussionen greift zudem die Angst um sich, dass ich meine Meinung gegen andere „falsche“ Meinungen verteidigen muss, damit mein Gegenüber seinen Einfluss auf potentielle Anhänger*innen nicht ausbaut. Auch dieses Argument fällt in Familien weg.

Neben diesen Befürchtungen bleiben ureigene Bedürfnisse übrig, mit denen sich wesentlich besser erklären lässt, woher die Vehemenz in Diskussionen kommt. Menschen suchen nach Anerkennung. Und sie wollen vor allem gesehen werden. Zumindest diese Minimalvoraussetzung sollte gegeben sein: Ich muss die Meinungen anderer nicht gut finden, aber ich kann sie mir zumindest anhören und mein Gegenüber damit wahrnehmen.

Verstehen bezieht sich nicht auf Meinungen

Zwar kommt vorschnell der Satz „Das musst du doch verstehen!“. Ein Verstehen ist jedoch niemals in Gänze möglich und auch nicht wünschenswert, weil jeder Mensch mit anderen Erfahrungen und anderen Fähigkeiten auf die Welt blickt. Was den einen ängstigt, ist für den anderen normal. Zudem ist es keineswegs wünschenswert, einen anderen Menschen komplett zu verstehen. Was das Zusammenleben von Menschen spannend und interessant macht, ist gerade das Gegensätzliche. Was wäre denn, würde ich meine Frau oder meine Kinder komplett verstehen? Wir müssten uns nicht mehr unterhalten. Sie würde einen Satz beginnen … und ich würde sofort sagen: „Weiß ich. Kenne ich. Geht mir genauso“. Ist es da nicht viel spannender, sich ein Leben lang vom Gegenüber, selbst nach vielen Jahren, immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen?

Zudem ließe sich der Drang eines allumfassenden Verstehens eines anderen Menschen durchaus als privaten Kolonialismus deuten: „Ich ordne dich komplett in mein Verstehens-Schema, um dich zu begreifen“. Wie schnell wird dann aus einem „Begreifen“ ein „Ergreifen“ oder „Im Griff haben“?

Vielleicht kennen Sie das Phänomen, wenn andere Menschen vorschnell zu Ihnen sagen: „Das verstehe ich“, obwohl Sie noch nicht am Ende Ihrer Erzählung angekommen sind. In einem solchen Fall fühlen Sie sich in der Regel alles andere als verstanden. Sie wurden eingeordnet und möchten laut ausrufen: „Stopp! Ich will gar nicht, dass Du mich verstehst! Du kannst das vermutlich auch gar nicht verstehen! Wirklich verstehen kann nur ich, was ich erlebt habe. Denn Du warst nicht dabei“.

Dass es dennoch eine Sehnsucht gibt, verstanden zu werden, ist unbenommen. Diese Sehnsucht lässt sich vermutlich tatsächlich nur von Erlebens- und Leidensgenossen oder Menschen, denen wir sehr nahe stehen, stillen. Kein Wunder, dass es seit einiger Zeit eine starke Tendenz in unserer Gesellschaft gibt, sich in solchen Erlebensgruppen gegenseitig auszutauschen und zu solidarisieren. Sozusagen eine organische und stützende Solidarität unter Gleichen zu pflegen, während nach dem Soziologen Emile Durkheim in modernen Gesellschaften ebenfalls eine funktioniale und ergänzende Solidarität unter Ungleichen besteht. Bei gleichzeitiger Auflösung von Verbindungen – nachdem Gewerkschaften und Kirche bereits seit langer Zeit im Rückgang sind, lösen sich aktuell auch berufsbezogene Verbindungen durch die Arbeit im Homeoffice auf – ist die Suche nach neuen stützenden Verbindungen evident. Das Tummeln in Filterblasen lässt sich also auch aus einem Bedürfnis nach Verständnis deuten.

5 Tipps für bessere Gespräche an Weihnachten (und überhaupt)

Wenn also ein Verständnis unter Ungleichen schwer möglich und vielleicht sogar nicht einmal sinnvoll ist, was wäre dann zu tun, um sich an Weihnachten nicht gegenseitig den Appetit zu verderben?

Tipp 1: Wohlwollen als Grundbedingung

Vorneweg ist eine Grundbedingung wichtig, um sich zumindest nicht destruktiv zu begegnen: Das Wohlwollen, dass mein Gegenüber mich nicht anlügt, sondern aus seiner Sicht einen Teil der Wahheit über die Welt in der Hand hält, auch wenn das für mich übertrieben oder sogar vollkommen hahnebüchen erscheint. Wir sollten uns allerdings immer vor Augen halten: Unser Gegenüber denkt genauso.

Tipp 2: An der eigenen Toleranz arbeiten

Bereits hier scheint ein Scheitern vorprogrammiert. Denn es gehört (aus unserer eigenen Sicht) eine Menge Ambiguitätstoleranz und Geduld dazu, unser Gegenüber mit seinen seltsamen Meinungen auszuhalten. Dabei ist es genau diese Toleranz, die ein Miteinander unter Ungleichen seit jeher ausmachte. Wir glauben vielleicht, wir sollten gleich sein, weil wir doch aus einer Familie kommen. Doch wir sind in der Regel verschiedener als im Austausch mit Freunden.

Tipp 3: Fokus auf Sachen

Stellen Sie sich vor, Sie wären in der Arbeit und müssen mit Menschen auskommen, die Sie kaum kennen. Was tun Sie? Sie konzentrieren sich auf die Sache. Sie müssen niemanden von Ihrer Meinung überzeugen. Es reicht, wenn „der Laden läuft“. So ein Fokus auf die Sache kann sehr entspannend sein. Vielleicht gehen deshalb manche Menschen so gerne in die Arbeit. Weil es nicht so menschelt.

Übertragen auf Weihnachten bedeutet das: Fokussieren Sie sich auf gemeinsame Tätigkeiten. Kochen Sie zusammen, decken den Tisch, schmücken den Baum, packen Geschenke aus oder spielen ein Spiel. Und sorgen Sie dafür, dass die Welt der vielen Meinungen da draußen zumindest für ein paar Tage schweigen darf.

Tipp 4: Seien Sie neugierig

Gibt es in Ihrem eigenen Umfeld kaum eine solche Exotin wie Ihre Schwester? Freuen Sie sich, sich Sichtweisen und Meinungen erläutern zu lassen, die komplett anders sind als das, was Sie gewohnt sind. Manche Menschen scheinen beinahe Angst zu haben, durch abweichende Meinungen beschmutzt zu werden. Aber warum? Sind Sie so leicht zu verunsichern, dass Sie am Ende noch umgestimmt werden könnten? Was soll schon passieren? Sie hören sich das „Exotische“ aus einem höflichen, aber neugierigen Wissensdrang heraus an und können auch Ihrerseits darum bitten, angehört zu werden.

Tipp 5: Experimentieren Sie

Haben Sie jemals versucht, andere Menschen, die komplett anderer Meinung sind als Sie, von Ihrer Meinung zu überzeugen? Und? Hat es funktioniert? Vermutlich nicht.

Wie wäre es, wenn Sie experimentieren und etwas anderes versuchen? Was wäre, wenn es nicht darum ginge, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, ein interessantes Gespräch zu führen? Sie könnten Ihre Sprechart verändern, beispielsweise langsamer, unheimlicher, akzentuierter oder ruhiger sprechen, Betonungen anders setzen, Metaphern nutzen, Humor einsetzen oder Ihre Aussagen in Fragen formulieren.

Bei Experimenten geht es nicht darum, Ihr Gegenüber zu überzeugen, sondern darum, es zu locken und neugierig zu machen auf das, was Sie zu sagen haben.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Inspiriert durch mehrere Artikel im aktuellen Philosophie-Magazin 01/2023

Siehe auch: https://www.metropolitan.de/buch/wir-sollten-reden