Wie wir uns mental mit der gesamten Welt verbinden, um leichter mit schwierigen Situationen umzugehen

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Was wäre, wenn wir uns mental mit allen Menschen auf der Welt verbinden könnten, die jemals gelebt haben? Im Sinne eines geteilten Leids oder einer geteilten Begeisterung. In der Psychosynthese ist dafür unser Transpersonales Selbst zuständig. Was sich im ersten Moment vielleicht ein wenig esoterisch anhört, wird klarer, wenn wir uns dazu einige Beispiele ansehen.

Bin ich mutig, indem ich beispielsweise trotz möglicher negativer Konsequenzen meine Meinung sage, kann ich mich mit allen Menschen, die jemals mutig waren verbunden fühlen. Mit dem Samurai, der vor Hunderten von Jahren aufgrund eines persönlichen Versagens die Konsequenzen zieht und sich in einem Ritual den kleinen Finger abschneidet. Mit einem Sängerknaben, der zum ersten mal in der Kirche ein Solo singt. Mit einem Teenager, der seinen geliebten Schwarm fragt, ob sie gemeinsam Eis essen gehen wollen. Mit einer Abiturientin bei ihrer Abschlussrede vor der gesamten Schule. Sogar mit Winston Churchill, der auf die Klausurfrage „Was ist Mut“ lediglich das Wort „Das“ hingeschrieben haben soll. Oder mit einer ganz „normalen“ Bürgerin, die einen anderen Menschen im Ahrtal aus den Fluten rettete. Mit all diesen Menschen können wir uns verbunden fühlen, wenn wir selbst etwas Mutiges tun oder einige Minuten über die Frage „Was ist Mut?“ philosophieren.

Das gleiche funktioniert selbstredend mit vielen anderen menschlichen Empfindungen wie Liebe, Dankbarkeit, Trauer, Enttäuschungen, Schmerzen, Begeisterung oder Durchhaltevermögen, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Bin ich verliebt, kann ich mich mit allen jemals Verliebten oder Liebenden verbunden fühlen. Mit der himmelstürmenden ersten Liebe von Teenagern. Mit der reifen Liebe eines alternden Ehepaars. Mit der elterlichen Liebe zu ihren Kindern. Mit der Liebe eines kleinen Kindes zu seinem Haus- oder Stofftier. Oder mit der Liebe eines vermeintlichen Sonderlings zu seinem Hobby (wer gerade auf der Suche nach einem exotischen Hobby ist oder Ideen für seine Bewerbung braucht: externer Link).

Bin ich dankbar, kann ich mich mit jeglicher Dankbarkeit verbunden fühlen, die jemals auf der Welt stattfand. Dankbar, dass ein Freund einen kranken Freund besucht. Dankbar, dass ein Team so leidensfähig ist. Oder dankbar dafür, eine schlimme Krankheit überlebt zu haben.

Bin ich begeistert, kann ich mich mit allen jemals Begeisterten verbunden fühlen. Mit jubelnden Massen in einem Fußballstadion. Mit den Gewinner*innen einer Wahl. Oder mit einem Projektteam, das mehr erreichte als es zuvor dachte.

Bin ich traurig, enttäuscht oder habe Schmerzen, kann ich mich mit allen Menschen der Welt verbunden fühlen, die jemals traurig und enttäuscht waren oder Schmerzen empfunden haben. Mit der Trauer nach einer Trennung von einem langjährigen Partner oder Freund. Mit der Enttäuschung über eine verpasste Chance. Oder mit dem Kreuzbandriss der Fußballerin, die ich neulich im Fernsehen sah. Man könnte auch halb-scherzhaft formulieren: Zahnschmerzen alles Länder, vereinigt euch!

Halte ich bei einer schwierigen Aufgabe durch, kann ich mich mit allen tapferen Menschen vor mir und während meines Lebens verbinden. Mit den belagerten Menschen einer Stadt im Mittelalter. Mit einem Vater, der sein bockiges Kind bei den Hausaufgaben begleitet. Oder mit einer Kundenbetreuung, die für einen anspruchsvollen Schlüsselkunden zuständig ist.

Wir sehen also, dass es gar nicht so schwer ist, sich eine Verbindung mit anderen Menschen vorzustellen. Wir müssen dazu lediglich ein paar Minuten über die Frage „Was ist Mut?“, „Was ist Tapferkeit?“ oder „Was ist Trauer?“ meditieren oder philosophieren.

Ein spiritueller Mensch könnte nun sagen: Feine Sache. Ein weniger spiritueller Mensch könnte sich jedoch fragen, was ihm das bringt. Abgesehen von der nicht unbedingt menschenfreundlichen utilitaristischen Sichtweise, ist das tatsächlich eine spannende Frage. Neben der naheliegenden Antwort, dass durch derlei Verbindungen Menschen wieder zueinander kommen, das Verständnis füreinander größer und das Konfliktpotential auf der Welt kleiner wird, gibt es noch die Antwort, durch höhere, transpersonale Verbindungen die eigene Stärke zu stärken.

Stellen wir uns dazu vor, Sie stehen tatsächlich vor einer großen Herausforderung und wissen nicht, wie Sie diese meistern sollen. Was wäre, wenn Sie nicht nur Ihren Mut, sondern den gesamten “kosmischen” Mut zusammen nehmen könnten, der jetzt und jemals existierte? Wenn nicht nur Sie selbst durchhalten, sondern jeder Mensch, der jemals in einer ähnlichen Situation war, hinter Ihnen stünde und Ihnen bei Ihrer Herausforderung beisteht? Wenn Sie nicht alleine trauern müssten, sondern jeder Mensch, der jemals trauerte, seine Trauer mit Ihnen teilt? Damit lässt sich auch erklären, warum manche Menschen zu Außergewöhnlichem fähig sind, obwohl sie rein faktisch nichts von anderen Menschen unterscheidet.

Wenn in esoterisch-spirituellen Büchern davon die Rede ist, dass ein „Es“ aus uns spricht, ist vielleicht genau das der Hintergrund: Sich über eine Art erweiterte Spiegelneuronen miteinander zu verbinden, um gemeinsam stärker zu sein. Oder wie sonst ist der Spruch der Liverpool-Hymne „You’ll never walk alone“ gedacht?

Literatur

Piero Ferrucci – Werde was du bist