Das eigene Ich als Heimatquelle in Zeiten des Wandels

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In einer alten Geschichte überqueren zehn Narren einen Fluss. Auf der anderen Seite angekommen zählen sie durch, ob es alle geschafft haben. Der erste Narr kommt jedoch nur auf neun, weil er sich selbst vergisst. Dem zweiten ergeht es ebenso. Sie sind schon ganz verzweifelt, weil sie glauben, einen von ihnen verloren zu haben. Da kommt ein Wanderer des Weges, erkennt, welchen Fehler sie gemacht haben und zählt die Narren seinerseits laut durch. Die Narren verstehen zwar ihren Fehler nicht so richtig, sind jedoch erleichtert, dass sie wieder alle beisammen sind.

Auf der Suche nach unserem Selbst

So ähnlich ergeht es uns allen. Wir besitzen einen Käfig voller Narren, vergessen jedoch, dass wir noch eine weitere Instanz als Chef dieser Narren haben (sollten). Diese Instanz wird unser Ich oder unser Selbst genannt. Und die Narren sind unsere Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Gedanken oder komplexer innere Teilpersonen oder Antreiber.

Identifizieren wir uns in einzelnen Situationen vollkommen mit unseren einzelnen Narren, vergessen wir, dass diese nur einen Teil von uns ausmachen. Deshalb empfiehlt die Psychosynthese (nach Roberto Assagioli) eine Disidentifikation mit unserer einzelnen Erlebensmodalitäten, um uns in einem zweiten Schritt mit unserem Selbst zu identifizieren.

Wir disidentifizieren uns von unseren Narren, indem wir sie wahrzunehmen, ohne mit ihnen eins zu werden:

  • Ich habe körperliche Empfindungen (Schmerzen, Verspannungen, Unruhe, …), aber ich bin nicht meine körperlichen Empfindungen.
  • Ich habe Gefühle (Wut, Angst, Enttäuschung, …), aber ich bin nicht meine Gefühle.
  • Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht meine Gedanken.
  • Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht meine Wünsche.

Unser Selbst würde stattdessen sagen: Ich bin. Ich bin da. Ich bin präsent. Ich nehme wahr. Ich beobachte.

Bei der Identifikation mit dem Selbst ergibt sich jedoch ein Problem: Unser Selbst kann lernen, unsere inneren Narren mit Abstand zu beobachten („Aha, da ist also eine Wut“), es kann sich jedoch nicht selbst beobachten. Wir kommen unserem Selbst also nur mehr oder weniger indirekt auf die Spur, indem wir das aus dem Weg räumen, was nicht zu unserem Selbst gehört.

Unser Wille als Kern unseres Ichs

Stellen wir uns dazu einen Fluss vor, der automatisch seinen Weg sucht, wenn er nicht daran gehindert wird. Dieser Fluss hat einen Willen, eine Bestrebung, Motivation und Energie. Er hat den Antrieb, genau wie unser Selbst, sich eine Spur durch die Natur zu bahnen. Er verfolgt geduldig und beharrlich sein ganzes Leben lang seinen Weg. Sein Wille ist manchmal schwach, wenn sein Wasser beinahe versiegt. In anderen Zeiten ist sein Wille stark, wenn er zu einem reißenden Strom wird. Der Fluss untersteht gleichzeitig stetigen Veränderungen und doch ist das Wasser in ihm immer dasselbe. Es kommt stetig aus derselben Quelle.

In der Psychosynthese wird davon ausgegangen, dass unser Ich ein stabiler Teil unseres Wesens ist, während alles andere in uns einem stetigen Wandel unterzogen wird. Unser Selbst war schon immer da und wird uns trotz aller Veränderungen und Anpassungen als innere Heimatquelle dienen.

Wenn ich persönlich an meine Kindheit zurückdenke, war ich schon immer neugierig, eher zurückhaltend als mutig, hilfsbereit, ausgestattet mit einem großen Gerechtigkeitssinn und eher langsam und geduldig.

In der Grundschule hatte ich einen türkischen Freund. Ich erinnere mich sogar noch an seinen Namen: Ismail, wie in Moby Dick. Eines Tages auf dem Nachhauseweg wurde er von zwei „Schulkameraden“ verbal-rassistisch angemacht. Ich meinte nur, sie sollten ihn in Ruhe lassen, weil er mein Freund ist. Ich erinnere mich auch, dass ich nicht verstanden habe, warum er anscheinend stinken solle. Ich hatte damals keine Ahnung von Rassismus. Doch hier war ich einmal mutig. Ansonsten hielt sich mein Mut bspw. gegenüber Lehrer*innen eher in Grenzen. Ich war schon damals der stille Beobachter, der so lange abwartet, bis es fast schon zu spät ist um einzugreifen. Ich war schon als Kind der Typ, der draußen steht, während andere sich balgen.

Wie also könnte der Wille meines Ichs aussehen? Ich denke, mein größtes Bestreben besteht in der Harmonie der Menschen untereinander. Auf dem Weg dorthin darf durchaus gestritten werden. Ich will keinen Burgfrieden oder eine Pseudoharmonie, sondern eine langfristige, ehrliche Harmonie, bei der jeder Mensch sich ernst- und wahrgenommen fühlt.

Zu entdecken, dass Harmonie über einen gesunden Streit führen kann, oft sogar muss, hat jedoch in meinem Fall einige Jahrzehnte gebraucht.

Den eigenen Willen erkennen lernen

Den eigenen reinen Willen zu erkennen ist folglich nicht gerade einfach, weil sich uns stattdessen viele periphere Willensfragmente aufdrängen. Oftmals glauben wir unserem Willen zu folgen. Dabei folgen wir lediglich inneren Mustern und Prägungen, Stimmungen oder äußeren Erwartungen.

Umso wichtiger ist es, den eigenen Willen immer wieder zu überprüfen:

  • Mache ich oft eher das, was andere von mir wollen anstatt dem eigenen Willen nachzuspüren?
  • Handle ich impulsiv, weil ein inneres Muster („Sei stark, mach schneller, sei perfekt, sei beliebt“) in mir angetriggert wird (siehe auch: https://www.m-huebler.de/erlauber-ausnahmen-von-der-regel)?
  • Handle ich oft aus Wut, Angst, Enttäuschung, Ekel, … heraus?
  • Lasse ich mich leicht ablenken?
  • Mache ich das, was leicht erscheint, anstatt das, was ich wirklich will?
  • Handle ich (nicht), weil ich zu träge oder müde bin?
  • Mache ich mir zu viele Gedanken, bevor ich handle und mache dann im Zweifel lieber gar nichts?

Unser Selbst zu entdecken ist eine spannende Aufgabe, die uns – gerade in turbulenten Zeiten – eine immense Sicherheit bietet. Denn wer weiß, was ihm oder ihr wirklich wichtig ist im Leben, lässt sich nicht (mehr) so leicht aus der Ruhe bringen.

Literatur

Ken Wilber – Wege zum Selbst

Piero Ferrucci – Werde was du bist