Ungleichheit als natürlicher Zustand
Seit jeher werden soziale Gebilde durch das Prinzip der Ungleichheit bestimmt, aufgrund der Größe, Stärke, des Wissens, der Intelligenz oder der Herkunft. Zwar gab es immer wieder das Bestreben, eine Art Gleichheit einzuführen, beispielsweise bei den Griechen. Diese war jedoch auf eine Gruppe von Privilegierten gemünzt, während sich andernorts die Ungleichheit fortsetzte. Oder die Ungleichheit wurde in andere Länder exportiert, um vor Ort mit ähnlichen Privilegien zu leben.
Der Startschuss zu einer umfassenderen Einführung des Gleichheitsgedankens fiel wohl bei einer Rede des damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson zur Gleichberechtigung der schwarzen Minderheit in den USA. Seitdem wird deutlich, dass eine vollkommene Gleichberechtigung schwerer zu erreichen ist als gedacht. Sobald eine ehemals benachteiligte Gruppe in der Bevölkerung durch eine positive Diskriminierung den Anschluss an die Mehrgesellschaft erreichen soll, wird beinahe automatisch eine andere Gruppe, meist diejenige der bisherigen Privilegierten negativ diskriminiert. Als Beispiel können in diesem Zusammenhang die Studienzugangsbestimmungen von Schweden gelten. Um mehr Frauen in Männerberufe zu bekommen, wurde für typische männliche Fächer eine Frauenquote eingeführt. Für ehemals weiblich dominierte Fächer wurde eine Männerquote eingeführt. Daraufhin klagten einige Frauen aufgrund der Benachteiligung, worauf die Männerquote wieder rückgängig gemacht wurde. Die Frauenquote wurde hingegen nicht zurückgenommen.
Wie komplex das Thema der Gleichberechtigung und Chancengleichheit ist, zeigt auf amüsante Weise die Serie “Frau Jordan stellt gleich”. Katrin Bauerfeind spielt darin Eva Jordan, eine Gleichstellungsbeauftragte in einer Kleinstadt. Dass sie es niemandem Recht machen kann, zieht sich als Prinzip durch die Serie. In einer Folge will ein ehemaliger Soldat, der in Afghanistan im Einsatz war, in einem Kindergarten arbeiten und bringt die Frauen dort auf die Palme, weil er den Kindern beibringt, auf Bäume zu klettern, Schrammen inklusive. Fazit der Eltern: Wir wollen mehr Männer in unserem Kindergarten, aber so einen nicht. In einer anderen Folge soll ein IT-Projekt von Frauen geleitet werden, worauf sich ein Ostdeutscher in der Verwaltung diskriminiert fühlt, weil er extra seinen Akzent unterdrückt, um nicht als Sachse erkannt zu werden. Die Arbeit in der Gleichstellung gleicht einer Sisyphosarbeit.
Die mittelfristigen Folgen einer Gleichbehandlung sind zudem oftmals unkalkulierbar. Als in den USA die Rassentrennung aufgehoben wurde, führte dies nicht automatisch zu einem besseren Umgang miteinander, sondern ganz häufig zu einer erneuten Trennung. Die reichen Weißen schickten daraufhin ihre Kinder in Privatschulen, worauf sich die vorhandene Ungleichheit weiter verstärkte. Auch wenn es aus moralischen Gründen ein sinnvoller Ansatz war, muss dennoch mit einem Rückschlag in eine Richtung gerechnet werden, der so nicht eingeplant war.
Die langfristigen Folgen wiederum sind noch weniger absehbar. Wird die vorhandene Ungleichheit der Menschen, die nun einmal da ist, nicht akzeptiert oder zumindest so abgefedert, sodass die weniger privilegierten zwar nicht den Anteil am Leben haben, den die Schnelleren, Klügeren, Durchsetzungsfähigeren, Mächtigeren oder Reicheren haben, aber dennoch gut leben können, besteht die Gefahr einer Fragmentierung der Gesellschaft. Mit einem mal könnte es dann das Volk als soziale Einheit nicht mehr geben, sondern lediglich Zugehörigkeiten zu einer Vielzahl schützenswerter Minderheiten. Einen Eindruck, wie weit dieser Minderheitengedanke gehen kann, haben wir bereits heute durch die Parzellierung im Internet. Jeder noch so obskure Gedanke findet einen Fürsprecher samt der Person dahinter. Der Ruf nach einer freien Meinungsäußerung geht auch in die Richtung, dass jede Meinung und damit Lebensphilosophie geäußert werden darf und damit schützenswert ist. Doch wo hört diese Schonzone auf? Der Amoklauf aufgrund der Karikaturen von Charlie Hebdo zeigt nur die Spitze des Eisbergs, auf dem wir alle stehen. Dass die Karikaturen von Charlie Hebdo verletzend sind und diskutiert wird, wie viele antiislamische Züge darin enthalten sind, ist die eine Seite. Aber wo hört die Freiheit nicht nur von Satire, sondern vor allem von Einzelpersonen und deren Meinungsäußerungen auf? Und wo beginnt das Recht aller anderen auf Gleichheit, Schutz und Unbehelligung? Wie viel Recht auf Freizügigkeit hat jeder von uns, ohne den Spott anderer auf sich zu ziehen? Darf ich im Internet meine Meinung sagen, ohne behelligt zu werden? Darf ich auf eine Demonstration gegen Corona-Maßnahmen gehen, ohne gekündigt zu werden? Darf ich Impfungen gegen Masern oder Corona verweigern?
Hier befinden wir uns wieder im Bereich der Ethik, wo Verstöße gegen vorherrschende Moralvorstellungen nicht per Gesetz geahndet werden, sondern per sozialer Ächtung.
Wie Gleichheit neue Ungleichheiten fördert
Gleichzeitig beginnt bei einer verordneten Gleichheit ein neues Rennen um Ungleichheit, als möchte sich der Mensch um alles in der Welt von anderen abgrenzen. So beginnt ein Rennen um das dauerhafte Bestreben zur Selbstoptimierung. Wir wollen eben doch besser als die anderen sein. Eine fundiertere Ausbildung genossen haben. Überhaupt gebildeter sein. Ein wenig mehr verdienen als der Nachbar. Ein schickeres Auto fahren. Ein Haus in einer ruhigeren Lage besitzen. Ein spannenderen Job ausüben. Freier sein, in dem was ich tue. Die eigenen Kinder besser erziehen, was auch immer das heißt. Moralisch gefestigter sein. Sich besser im Griff haben. Sich gesünder und umweltverträglicher ernähren. Ein E-Auto anstatt einen Diesel fahren. Eine schickere Nase haben. Einen teureren Anzug tragen. Sich schminken und auf Instagramm die spannenderen Geschichten erzählen. Bis hin zum Designerbaby, damit wenigstens die Kinder es einmal besser haben, indem sie sich von anderen abgrenzen. Abgrenzungen haben nicht automatisch mit Macht zu tun. Die Thematik der Besonderheit und damit Ungleichheit ist vielfältig. Aber der Mensch vergleicht sich gerne mit anderen, um zu verorten wie gut er ist.
Wer jedoch nicht imstande ist, dieses Rennen mitzumachen und am Ende noch alte Privilegien einbüßt, könnte die Wut über seine neue Unterprivilegierung in andere Richtungen verschieben. An die Urheber der sogenannten umgekehrten Diskriminierung, in der Regel den Staat oder die Medien als Vermittler neuer Moralvorstellungen, kommt er nicht heran. Also agiert er seine Wut anderweitig aus, beispielsweise im Internet mit Hasskommentaren oder mittels Gewalt in der Familie. Tatsächlich hat die Gewalt von Männern gegen die eigenen Ehe-Frauen stark zugenommen.
Möglichkeiten des Ausgleichs bei Ungleichheiten
Gewalttaten sollen damit selbstredend nicht gut geheißen werden. Das Phänomen der Aggressionsverschiebung soll lediglich verdeutlichen, welche langfristigen Folgen ein umfassender Gleichheitsanspruch nach sich ziehen kann. Wir sollten uns folglich gut überlegen, wie ein Gleichheitsansatz umgesetzt werden kann und welche negativen Folgen er nach sich ziehen könnte. So könnte der Gleichheitsansatz in Konflikten durchaus zu ungeplanten Verschiebungen von Aggressionen führen oder den Fokus auf dem Beharren der eigenen Rechte setzen. Streitet sich ein geschiedenes Paar um jede Minute, die sie mit dem eigenen Kind verbringen können, geht es lediglich um die Quantität, nicht jedoch um die Qualität der Zeit. Die Quantität mag gleich sein, die Qualität gerät dabei jedoch aus dem Fokus. Zudem stellt sich in solchen Fällen grundsätzlich die Frage, wie Gleichheit bemessen wird. In Konflikten Gleiches mit Gleichem zu verrechnen ist in der Regel nicht möglich. Das Elternteil, dass ein Kind unter der Woche betreut, erlebt die Zeit mit dem Kind anders als das Elternteil, das sein Kind am Wochenende hat. Und wie sieht es mit dem ganz normalen Kommunikationsaustausch aus? Wer hört besser zu? Wer schenkt dem anderen mehr Aufmerksamkeit?
Wir werden eine vollkommene Gleichheit niemals erreichen. In Konfliktparteien gibt es immer eine Person, die schneller denkt, spricht und handelt. Deshalb ist es wichtig, über Möglichkeiten nachzudenken, vorhandene Ungleichheiten annähernd auszugleichen:
- Ein Ausgleich im Sinne einer 1 zu 1-Aufrechnung sollte verhindert werden.
- Auch Racheakte sollten vermieden werden.
- Wer sich benachteiligt fühlt, hat das Recht und die Pflicht, dies anzusprechen. Er sollte nicht darauf hoffen, dass der andere die Ungleichheit bemerkt, sondern selbst aktiv werden.
- Der Schuldner sollte einen Ausgleich anbieten. Der Benachteiligte bestimmt jedoch, ob er diese Art der Wiedergutmachung annehmen möchte oder nicht. Eine dauerhafte Ablehnung sollte jedoch vermieden werden, um nicht in ein Machtspiel zu kommen.
- Der Ausgleich sollte ernst gemeint sein und auf der Basis der Bedürfnisse geschehen. Es ist sinnlos, sich darüber zu streiten, wer wem länger oder besser zuhört. Sinnvoll ist jedoch zu klären, warum wir einander zuhören sollten. So könnte das Bedürfnis von Person A sein, logisch verstanden zu werden, während Person B emotional wertgeschätzt werden möchte.
Literatur: Van Creveld, Martin (2018): Gleichheit – Das falsche Versprechen. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung