In Konflikten geht es häufig um das Unverständnis anderer Positionen. Meist werden dabei kaum Abstufungen vorgenommen: Entweder ich verstehe jemanden, wenn er oder sie meiner Meinung ist oder ich verstehe ihn oder sie nicht. Dies führt beinahe zwangsläufig entweder zu langweiligen Diskussionen oder Eskalationen. Deshalb ist es dringend geboten, sich an drei aus der Mode geratene Kulturtechniken des Miteinanders zu erinnern:
- Höflich bleiben: Wer anderer Meinung ist, muss mögliche Differenzen dennoch nicht ansprechen und kann stattdessen in einer höflichen Distanz zueinander bleiben, beispielsweise durch Smalltalk. Manche mögen dies langweilig finden. Höflichkeit kann allerdings eine Atmosphäre schaffen, in der eine langfristige Annäherung möglich erscheint. Solche Regeln, Rituale oder Gesten können ein Nachfragen, Ausreden lassen, Bitte und Danke sagen oder auch Raum gebende Gesten sein. Indem alle sich auf diese Riten einlassen, muss sich niemand exponieren und jeder kann sein Gesicht wahren. Interessanterweise werden Höflichkeitsrituale wie das Handgeben, Küsschen auf die Backe geben oder selbst die Ghetto-Faust unter Jugendlichen, d.h. unter Menschen, die sich noch gegenseitig abtasten, teils besonders intensiv gelebt.
- Fasziniert sein: Wer jemand anderen nicht versteht, kann sich dennoch an dessen „Exotik“ im weitesten Sinne erfreuen. Exotik beschränkt sich also nicht auf ferne Länder, sondern meint exotische oder sogar verrückte Meinungen zu vertreten oder ein besonderes Auftreten an den Tag zu legen. Die Haltung der Faszination ist förderlich, um ein intensives Interesse an den Tag zu legen, aufmerksam zuzuhören und nachzufragen. Es geht nun nicht mehr darum, das Gegenüber von den eigenen Meinungen überzeugen zu wollen oder gar Angst vor diesem „seltsamen, gefährlichen Vogel“ zu haben, sondern seine Position voller Neugier mit großen Augen und Ohren zu betrachten.
- Das Gegenüber verzaubern: Das Gegenstück zur eigenen Faszination ist die Kunst der Verzauberung des Gegenübers. Nun liegt es an Ihnen, Ihre/n Gesprächspartner*in zu faszinieren, indem Sie sich möglichst viel Mühe gebe. Dies kann durch Humor, große Gesten oder die Kunst der Rhetorik geschehen, als stünden Sie auf einer Bühne vor Publikum. Es geht auch hier nicht primär darum, das Gegenüber von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern das Gegenüber gut zu unterhalten. Es geht also weniger um den klugen und stichhaltigen Inhalt sondern mehr um die schöne, reizvolle Form.
Auch wenn diese drei Kulturtechniken nicht primär der Auseinandersetzung und Diskussion über Meinungen dienen und damit das Verständnis füreinander nicht automatisch fördern, führen sie doch unweigerlich zu einer Wahrung der Form im öffentlichen Raum und fördern dadurch zumindest eine zarte, vorsichtige Annäherung, ohne das Gegenüber anzugreifen, auf deren Basis aufgebaut werden kann.
Inspiriert durch Moritz Rudolph: Überbrücke die Lücke, Philosophie Magazin 01/2023, S. 58f