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Rette sich wer kann

“Ich möchte mich nicht hinstellen und die Entscheidung getroffen haben, wenn in einem Monat in Deutschland 10.000de Menschen sterben.” Eine Aussage, die aktuell häufig zu lesen ist.

Es ist derzeit erschreckend klar verfolgbar, was in der Entscheidungsfindung schon lange bekannt ist. Der Mensch – und Politiker sind auch Menschen – tendiert zu defensiven Entscheidungen. Er möchte Leiden verhindern anstatt Leiden zufügen.

Die Entscheidung, alte Menschen in den Tod hinüber zu beatmen und dabei laut Palliativmedizinern etwa 10% davon zu retten, auch wenn sie davon mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einen Hirnschaden davon tragen, gleicht einer solchen defensiven Entscheidung. Dieses Muster war in den ersten Wochen der Krise deutlich erkennbar und ist ja immer noch aktuell. Die Logik ist nicht neu. Ärzte tun, was sie dank dem hippokratischen Eid schon immer taten: Sie retten Leben. Während jedoch früher die Grenze zwischen Leben und Tod klar gezeichnet schien, haben sich die medizinischen Apparate dergleichen weiterentwickelt, dass die Grenze, wann der Tod beginnt und das Leben aufhört immer unklarer wird.

All die depressiven Menschen in Altenheimen, die Kindeswohlgefährdungen, die misshandelten Frauen und bankrotten Geschäftsmenschen waren damals noch nicht sichtbar. Wer seine Wahrnehmung öffnete, konnte sie antizipieren. Damals waren jedoch die Toten aus Bergamo noch zu präsent. Rette Leben! Und verdränge die Kollateralschäden!

Die Toten blieben aus. Die Kliniken sind leer. Nun hat sich die Wahrnehmung verschoben. Die Leiden der anderen werden sichtbar. Die Szenarien des Ethikrates und anderer Mahner bekommen ein Gesicht. Zum Beispiel das Gesicht trauriger alter Menschen in Pflegeheimen.

Nun geht es erneut darum, defensiv zu entscheiden und Leid zu verhindern.

Gut, dass wir das nicht entscheiden müssen, sagen sich die Menschen. Dafür sind schließlich Politiker zuständig. Gut, dass wir das nicht entscheiden müssen, sagen sich die Politiker. Dafür haben wir schließlich unsere Wissenschaftler. Gut, dass wir das nicht entscheiden müssen, sagen sich die Wissenschaftler. Dafür … verdammt noch eins, wenn Wissenschaftler jetzt mit Gott kommen, dann stimmt hier was nicht. Gott wiederum spricht: Leute, vertraut auf die Evolution und alles wird gut.

In diesem Sinne: Rette sich, wer kann!

Die Angst vor dem Tod

Wenn es um das große C geht, kommt meist auch die Angst ins Spiel. Die Angst um liebe Menschen, die sterben könnten. Dies wirkt auf den ersten Blick mitfühlend und mitmenschlich. Nur: Wie sozial ist diese Angst in Wirklichkeit?

Nehmen wir den Tod. Wer leidet in einem Todesfall am meisten? Der Tote kann leiden, wenn sich sein Sterben im Falle einer zweiwöchigen, laut Palliativmedizinern unwürdigen Beatmungs- und Sterbeverlängerungspraxis, dahinzieht. Anstatt echter Menschen geleiten uns Maschinen in die ewigen Jagdgründe hinüber. Unseres Fortschrittsglaubens sei Dank. Schläft er sanft im Kreise seiner Liebsten ein, leidet er vermutlich weniger.

Zurück bleiben die Angehörigen, die im schlimmsten Fall für den Rest ihres Lebens trauern. Vielleicht machen sie sich sogar Vorwürfe, für den geliebten Menschen nicht genügend da gewesen zu sein oder wichtige Momente im Miteinander Leben verpasst zu haben. Derjenige, der zurück bleibt, leidet immer mehr als der, der geht.

Das mag banal klingen, bedeutet jedoch in der Konsequenz, dass wir an einer Beerdigung nicht um den Toten trauern, sondern um uns. Wir beweinen uns selbst. Wir sind es, die mit einem Verlust klar kommen müssen. Tote vergießen keine Tränen.

Aktuell wird das Leiden der Depressiven, Suizidalen, Gekündigten oder Bankrotten mit der Rettung v.a. alter Menschen in Kauf genommen. Es heißt, das Leben der anderen geht schließlich weiter. Nur: Diese Menschen leiden aktuell wirklich. Sie sind noch nicht tot. Damit stellt sich die essentielle Frage, wie wir grundsätzlich mit dem Tod umgehen wollen und wie wichtig wir das Leben selbst nehmen? Wer sein Leben in vollen Zügen genoss, kann mit dem Tod zufrieden abschließen. Jetzt ist die nächste Generation dran. Leben wir oder haben wir Angst davor, zu sterben?

Es heißt, die Wirtschaft müsse nun im Angesicht des Todes zurückstecken. Nur: Die Wirtschaft bedeutet neben all dem Schlimmen auch zu leben. Sie bedeutet Kultur, Lebendigkeit, Freude, Spaß und Austausch. Hinter der Wirtschaft stecken Millionen von Individuen. Der Herr Adidas wird vermutlich weniger an der Krise leiden als die Frau Meyer im Schuhladen um die Ecke.

Sind wir aufgrund unserer Angst vor dem Tod so todesfixiert, dass wir dabei vergessen, zu leben? Und könnte diese Angst vor Ableben anderer sogar ein Symbol unserer eigenen Angst vor dem Tod sein, der sich dank medizinischer Fortschritte weit hinauszögern lässt? Mit Impfstoffen und sonstigen Medikamenten. Es ist in dieser Debatte um den richtigen Weg erhellend, dass viele alte Menschen dies gar nicht wollen. Sie wollen nicht beatmet werden. Eine Impfung könnte sie umbringen. Sie haben Krebs oder eine Lungenentzündung und wollen in Ruhe sterben. Nicht mit Ärzten und Pflegepersonal in sterilen Anzügen an ihrer Seite, sondern mit Menschen, die sie kennen und lieben, unsteril in Fleisch und Blut. Mit Berührungen und Nähe. Und mit all der Trauer, die bei einer solchen Begleitung dazu gehört.