Gestern besuchte ich mit meiner Familie eine Kirche. Natürlich fand kein Gottesdienst statt, jetzt in Zeiten der Krise. Wir saßen da und lauschten der Stille. Auf den Bänken lagen Gebete aus. In einem dieser Gebete stand etwas davon, Umstände hinzunehmen und davon, nicht alles kontrollieren zu können. Auf einem Flyer dieser katholischen Kirche stand etwas von “(sinnvollen) Maßnahmen”. Die Kirche übt subtile Kritik? Interessant. Vor allem in einem Bundesland, das von einer Partei regiert wird, das ein C im Namen führt. Ich meine damit nicht das Corona-C, sondern das christliche C.
Die Kirche trifft damit einen Nerv der Zeit und nährt den ewigen Streit zwischen wissenschaftlicher Machbarkeit und geduldigem Vertrauen. Vielleicht ist auch so der Hitler-Vergleich des Papstes (externer Link) mit der Rhetorik aktueller Politiker zur derzeitigen Lage verständlich. Während im religiösen Verständnis das Gebot des Vertrauens auf eine höhere Macht vorherrscht, gehen Virologen, Mediziner oder Epidemiologen davon aus, dass wir alles kontrollieren können. Wir können jede Krankheit wegimpfen. Wir können uns das Leben Untertan machen, natürlich(!) aus “philanthropischen” Gründen.
Vielleicht sind sich Kirchenvertreter dem Darwinismus näher als sie das selber wussten. Darwinistisch wäre schließlich, das Virus wallten zu lassen und Vertrauen in die Natur zu haben. Selbstredend sollte dennoch aus christlicher Nächstenliebe und Solidarität an Stellen wo es nötig ist, geholfen werden. Der Eingriff des Menschen hingegen beinhaltet die Gefahr eines Sozialdarwinismus, der gezielt Einfluss auf die Natur nimmt und damit entscheidet, wer überlebt und wer nicht. Politiker, die derzeit solche Entscheidungen treffen (müssen), sind nicht zu beneiden. Sollen sie alte und gebrechliche Menschen gefährden, um jungen und vitalen Menschen auch morgen noch eine optimistische Zukunft zu bieten, oder nicht? Kein Wunder, dass rechte Seiten, die leicht einem “survival of the fittest” anheim fallen die Maßnahmen lieber heute als morgen komplett zurücknehmen würden. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir es wirklich riskieren wollen, die gesamte Generation C (das Alpha und Beta überspringen wir einfach mal) inklusive ihrer Eltern, die gestern noch als systemrelevante Säulen der Gesellschaft galten zu desillusionieren? Die Gefahren eines Vertrauensverlustes in den Staat in umfassenden Schichten der Gesellschaft sind enorm, wenn die Wahrnehmung umher geht, Gelder würden ungerecht verteilt und am Ende überleben ohnehin nur die Großen und Mächtigen.
Mir scheint, das wissenschaftliche Denken der Kontrolle, als wäre die Welt ein Versuchslabor, in dem alle Bedingungen bis hinter die zweite Kommastelle vorberechnet werden, hat in dieser Krise von Tag Eins an die Politik infiziert. Laut Platon gilt jedoch die klare Trennung des Wahren, Guten und Schönen. Das Wahre ist die Wissenschaft. Das Schöne die Kultur, die wir gerade noch haben. Das Gute symbolisiert die Politik.
Gut ist es, ethisch-moralisch zu handeln und nicht nach Vorgaben der Wissenschaft. Gut ist es, bei allem Schutz der Gebrechlichen diejenigen nicht zu vergessen, die ebenso ein Recht auf Zukunft haben. Gut ist es, mutige Entscheidungen zu treffen, deren Folgen nur zum Teil vorhersehbar sind. Kontrolle ist dabei nur selten möglich. Vertrauen ist unabdingbar, um der Hybris der Machbarkeit zu entkommen. Führungskräfte mit Mitarbeitern im Homeoffice erkennen gerade, wie wenig Macht sie aktuell noch ausüben können. Dabei könnte das Vertrauen in den mündigen Bürger helfen. Wenn ich im gleichen Spiegel-Artikel lese, dass Corona-Partys seltener waren als uns vermittelt wurde, dass es jedoch gefährlich ist, wenn die Bürger nur noch zu gut 50% Angst vor dem Virus haben, weil es in Deutschland im Europa-Vergleich zu seltene Todesfälle gibt, wohingegen die Intensiv-Betten noch lange nicht ausgelastet sind, spricht wenig dafür, dass dem gemeinen Bürger Vertrauen in seine Mündigkeit entgegen gebracht wird. Der Bürger scheint jedoch ein Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem zu haben. Ist das nicht ein Grund zum Feiern?
Vielleicht könnte ein Gefühl der Solidarität und des “Wir-schaffen-das” auf einem gemeinsamen neuen Sozialvertrag fußen: Der Bürger vertraut den Maßnahmen des Staates. Und der Staat vertraut auf die Mündigkeit des Bürgers und verzichtet dabei auf eine Rhetorik der infantilisierenden Entmündigung.
Ob das wirklich funktioniert, fragt sich vielleicht jetzt mancher? Nun ja: Es ist eben eine Utopie, ein Wunschtraum. Vielleicht brauchte es ja zu Beginn der Krise eine Angst machende Rhetorik, damit die Bürger den Ernst der Lage erkennen. Vielleicht braucht es jedoch jetzt, in Phase Zwei, eine versöhnende Rhetorik, mit klaren Ansagen und einem empathischen Duktus.