Als ich noch jünger war, dachte ich Probleme waren dafür da, gelöst zu werden:
- Du willst einen Job? Mach eine Ausbildung oder studiere.
- Du kommst in deinem Beruf nicht klar? Mach eine Fortbildung oder bewirb dich woanders.
- Die Wohnung wird für die 4-köpfige Familie zu klein? Sucht euch nach etwas Neuem um. Usw.
Doch dann, bei mir war das mit etwa 35, gab es eine Wende in meinem Leben. Nichts Dramatisches. Stattdessen viele kleine Anzeichen, dass dieses Problemlöse-Mindset nicht mehr funktioniert:
- Die Zerrung vom Sport spürte ich noch Monate später.
- Der erste verlorene Zahn wollte einfach nicht mehr nachwachsen.
- Die Kinder taten sich nicht so leicht in der Schule, wie man sich das als Vater wünscht.
Bei anderen Menschen könnten weitere Punkte hinzu kommen:
- Die Partnerschaft geht in die Brüche, aber wegen der Kinder muss ich mich irgendwie mit meinem Partner arrangieren.
- Der Job passt doch nicht so perfekt zu mir, wie ich mir das gedacht hatte. Eine Kündigung ist dennoch nicht so einfach, weil das Haus noch abbezahlt werden muss.
Probleme aushalten als Lebenskompetenz gegen den Zeitgeist
Sich klar zu machen, dass das Leben nicht nur aus dem Lösen von Problemen besteht, wie uns das die Welt, insbesondere das Marketing, vormachen will, sondern auch auf dem Aushalten von Problemen basiert, war zumindest bei mir ein Prozess. Es fiel mir schwer, den eigenen schrittweisen, wenn auch langsamen Zerfall anzunehmen. Es fiel mir schwer, zu akzeptieren, dass ich Jahre brauchte mit meiner Selbständigkeit durchzustarten. Dass meine Kinder nicht so perfekt in der Schule waren (und teilweise noch sind), fiel mir nicht schwer. Ich war selber damals nicht der Beste.
Dennoch: Das Aushalten von Problemen in einer unperfekten Welt widerspricht dem, was uns allerorten beigebracht wird: “Mach was aus deinem Leben! Probleme sind dafür da, gelöst zu werden!” Dabei wird unterschlagen, dass sich manche Probleme nicht ohne Weiteres lösen lassen:
- Ich kann mir ein Implantat machen lassen. Aber der Zahn kommt nicht zurück. Ich werde also mit einer zweitbesten Lösung leben müssen.
- Es gibt Kinder, die einen Text einmal lesen und sofort verstehen. Und es gibt Kinder, die den Text dreimal lesen und immer noch nicht verstanden haben. Manchmal hilft da auch keine viertes oder fünftes mal lesen. Manchmal hilft nur, die 4 im Zeugnis auszuhalten und nach anderen Begabungen zu suchen.
- Und an einen Jobwechsel kann ich erst in ein paar Jahren denken, wenn das Haus abbezahlt ist. Bis dahin gilt es, das Beste daraus zu machen, durchzuhalten und sich ein paar ausgleichende Hobbys zu suchen.
Beruflich ergibt sich ein ähnliches Bild. Chefs, Kolleg:innen oder Kund:innen müssen manchmal einfach ausgehalten werden. Und die großen und kleinen Probleme in der Welt können wir auch nicht so einfach lösen. Dabei ergibt sich häufig ein Paradoxon: Je komplexer Probleme werden, desto eher müssen wir auf Algorithmen zurückgreifen, die wir nicht mehr verstehen und damit indirekt einen Kontrollverlust erleiden. Wir kommen dann zu Lösungen, die wir zwar nicht verstehen, aber bspw. Kund:innen erklären müssen. Auch daher kommt ein Teil des aktuellen Stresses und der Gereiztheit. Außer wir vertrauen blind auf Algorithmen. Dafür jedoch bräuchte es eine intensive Beschäftigung mit Algorithmen-Ethik. Hier soll es jedoch erst einmal und das Zwischenmenschliche gehen.
Vom Aushalten von Problemen zur Toleranz in Gesprächen
Manche Probleme müssen oder können nicht sofort gelöst werden, sondern brauchen Zeit. Haben wir es verlernt, Probleme auszuhalten? Wurden wir zu ungeduldig?
Und wie sieht es mit unserer Toleranz gegenüber anderen aus, also dem Aushalten anderer Meinungen? Probleme lösen zu wollen, bei denen andere Menschen beteiligt sind, führt logischerweise zu Kontrollversuchen.
Dabei ist das Aushalten anderer Meinungen eine Grundbedingung für eine echte Resonanz mit meinem Gegenüber. Für eine Resonanz in einer Situation muss mich die Situation laut dem Soziologen Hartmut Rosa berühren, positiv oder negativ. Ich muss das Gefühl haben, einen Einfluss auf den Verlauf der Situation nehmen zu können. Die Situation sollte mich verändern können. Und sie sollte teilverfügbar sein. D.h. ich kann einen Einfluss nehmen, ich kann sie jedoch nicht kontrollieren. Ohne diese Rest-Unverfügbarkeit würde kein echter Kontakt zu meinem Gegenüber entstehen.
Deshalb ist es sinnvoll, zu den vier Aspekten von Rosa noch den Aspekt des Aushaltens hinzuzufügen, um gute Gespräche zu führen und sich persönlich weiter zu entwickeln:
- Von einer Situation betroffen sein.
- Ein Problem oder einen Konflikt aushalten können.
- Einen Einfluss auf den Verlauf des Gesprächs nehmen können.
- Die Möglichkeit sehen, durch das Gespräch transformiert zu werden.
- Das Problem und den Konflikt nur teilweise kontrollieren können. Andernfalls wäre eine Transformation nicht möglich.