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Vor ein paar Tagen besuchte ich meine Eltern. Beide sind jetzt über 80 und mein Vater leidet seit einigen Monaten an einer rapide fortschreitenden Demenz. Als ich mit meinem Vater zusammen eine Pumpe zum Bewässern des Gartens zusammen baute, wurde mir eines klar: Ich kann ihm widersprechen, wenn ich sehe, dass er die Pumpe falsch zusammenbaut, weil er vergessen hat, wie es richtig geht. Damit befinde ich mich jedoch in Sekundenschnelle in einem Streitgespräch. Oder ich lasse ihn nach seiner Vorstellung walten – Gefahrensituationen ausgeschlossen – bis er merkt, dass es nicht funktioniert und schlage ihm dann erst vor, es anders auszuprobieren.
Ich entschied mich nach 2-3 Situationen auf der Kippe für die zweite Version. Ich muss zugeben, dass es mir nicht leicht fiel. Mein Ego stand mir dabei breitschultrig im Weg. Hitzige Diskussionen helfen jedoch nicht weiter. Er selbst vergisst ohnehin schnell, was er vor ein paar Minuten sagte. Und ihm zu zeigen, wie es funktioniert, damit er es sich merkt ist ohnehin zum Scheitern verurteilt.
Am ehesten hilft meines Erachtens die radikale Akzeptanz dieses unveränderbaren Status Quo, so anstrengend es auch sein mag. Radikale Akzeptanz ist daher auch eine Abkehr vom Wollen. Ich will ihn nicht verändern, sondern lediglich eine gute Zeit mit ihm verbringen, ohne Stress und ohne Streit.
Mit einer radikalen Akzeptanz neue Perspektiven gewinnen
Radikale Akzeptanz wird am häufigsten in Situationen angewandt, in denen wir nicht in der Lage sind, das Geschehene zu ändern, oder wenn sich etwas ungerecht anfühlt wie der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Diagnose eine unheilbaren Krankheit – bei sich selbst oder jemand anderem. Diesen Zustand radikal zu akzeptieren bedeutet jedoch nicht, dass mir alles egal ist. Eine solche Haltung hilft jedoch dabei, sich einen neutralen Blick zu erkämpfen. Denn in der Regel ist es nicht nur der Zustand an sich – eine Krankheit oder Kündigung – der uns schmerzt, sondern v.a. der Umgang damit: Wir finden es unfair, dass ausgerechnet wir so etwas erleben müssen. Wir fragen uns, was wir falsch gemacht haben. Wir fragen uns, was wir anders im Leben hätten machen können.
Damit potenzieren wir unser Leiden nur noch. Könnten wir es als einen unveränderbaren Zustand akzeptieren, hätten wir die Chance einen neuen Umgang damit zu finden. Wir könnten dann – anstatt uns dagegen aufzulehnen – lernen damit umzugehen. Wir würden dann vermutlich auch positive Seiten daran entdecken. Eine Krankheit zeigt uns Grenzen auf, mit denen wir uns arrangieren müssen. Und vielleicht ist ein langsameres Leben, weil es nicht mehr schneller geht, manchmal nicht das Schlechteste. Und vielleicht bietet eine Kündigung die Chance auf einen Neuanfang.
Damit soll beileibe nicht alles Negative rosarot angesprüht werden. Wenn Veränderungen möglich sind, ist es auch für unsere Psyche wichtig, alles Menschenmögliche zu unternehmen, etwas zum Positiven zu wenden. Wenn jedoch keine Veränderungen möglich erscheinen – der Krankheitsverlauf ist eindeutig und die Kündigung ist final – gilt es, dies als gegeben zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Alles andere wäre ein Energieverlust.
Ich kann dennoch trauern oder enttäuscht sein. Es ist sogar wichtig, Trauerphasen durchzumachen. Trauerphasen sollten jedoch nicht ewig dauern, weil wir ansonsten nur noch auf den Schmerz und das Leiden fokussiert sind.
Krankheit oder Kündigung sind extreme Situationen. Es gibt allerdings eine Menge Alltagssituationen, in denen wir ebenso die Haltung einer radikalen Akzeptanz üben können, beispielsweise, wenn einem der ICE vor der Nase weg fährt und ich eine Stunde auf den nächsten Zug warten muss. Wer kennt sie nicht, die Menschen, die bereits bei 5 Minuten Verspätung Schnappatmung bekommen? Würde der kleine empörte Wutausbruch über die Unzuverlässigkeit der Bahn etwas bringen, wäre ich sofort dabei. Es bringt aber nichts. Also kann ich mich genauso gut in ein Buch vertiefen.
Der Dalai Lama meinte dazu einmal sinngemäß: „Schmerz zu empfinden ist unvermeidlich – zu leiden ist eine Entscheidung“. Wer sich leidvoll an Situationen klammert, verhindert seine persönliche Weiterentwicklung, die notwendig wäre, um auch in Zukunft mit schwierigen Situationen umzugehen.
Typische Situationen, in denen eine radikale Akzeptanz sinnvoll ist
- Verlustsituationen: Wenn Sie mit einem Verlust konfrontiert sind, einem Todesfall, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer Beziehung.
- Traumata: Wenn Sie an eine schwierige Zeit in Ihrer Vergangenheit denken, möglicherweise an ein Trauma. Den Vorfall können Sie nicht mehr ändern, nur noch den Umgang damit in der Jetzt-Zeit.
- Schuldgefühle: Ähnliches gilt für das eigene Verschulden, bspw. eines Unfalls.
- Gedankenkarussell: Wenn Gedanken und Gefühle Sie daran hindern eine Situation abzuhaken und einen Schritt weiterzukommen.
- Dauerhafte Trauerphase: Wenn Sie nach einem Verlust in der Trauerphase stecken geblieben sind.
- Unveränderbare Umstände: Wenn Sie sich an einem Problem die Zähne ausbeißen und dennoch nicht weiter kommen.
- Akzeptanz der eigenen Kompetenzen: Wenn Sie trotz großer Anstrengungen ein selbst gestecktes Ziel nicht erreichen, evtl. weil andere besser sind als Sie.
- Impulsivität: Wenn Sie dazu neigen, in Hauruckverfahren Dinge (und Menschen) verändern zu wollen.
Zeichen für eine mangelnde emotionale Distanz
Hier sind einige typische Gedanken oder Sprüche, die uns durch den Kopf gehen, wenn es uns schwer fällt, unveränderbare Situationen zu akzeptieren:
- Das ist unfair.
- Warum ich?
- Ich verstehe nicht, wie es soweit kommen konnte.
- Warum passiert das jetzt?
- Habe ich nicht schon genug gelitten?
- Womit habe ich das verdient?
- Die Welt hat sich gegen mich verschworen.
- Das ist typisch für mich.
- Niemand sonst muss mit so einer Situation klar kommen.
- Ich werde mich damit niemals abfinden.
- Wenn ich könnte, würde ich das alles ganz anders angehen.
In 7 Schritten zu einer radikalen Akzeptanz
- Decken Sie Ihre Illusionen auf: Womit beschwichtigen Sie sich in der aktuellen Situation? In einer zubrüche gegangenen Beziehung könnten Sie sich sagen: „Er kommt bestimmt zurück.“ Wurde jemand anders befördert könnten Sie zu sich sagen: „Die bereuen sicher bald, dass sie nicht mich genommen haben.“ Und: „Der macht bestimmt einen schlimmen Fehler.“ Für solche Hoffnungen oder auch Rachegedanken gibt es meist wenig Anhaltspunkte. Sinnvoller ist es, zu sich zu sagen: „Prima, wenn es passiert (bis auf den Rachegedanken), aber darauf werde ich mich nicht verlassen.“ Wissen Sie zu wenig, verschaffen Sie sich die nötigen Informationen. Sie könnten beispielsweise recherchieren, die Expertise eines zweiten Arztes einholen oder einen Kollegen nach seiner Meinung befragen.
- Entdecken Sie, was Ihnen wirklich wichtig ist: Finden Sie heraus, was wirklich hinter Ihrem Schmerz über die Situation steckt. Oftmals kratzen wir mit unseren Aktionen nur an der Oberfläche. Wenn Sie gekündigt werden, kann Ihr Selbstwertgefühl angeknackst sein. Oder aber Sie brauchen eine Arbeit aus Sicherheitsgründen, um die Miete zu bezahlen. Je nachdem, was Ihnen wirklich wichtig ist, gibt es andere Strategien zu Bewältigung des Schmerzes. Ist Ihnen Selbstwert wichtig, können Sie sich auf die Suche nach anderen Quellen für Ihren Selbstwert machen, bspw. ein Ehrenamt. Ist Ihnen Sicherheit wichtig, könnte ein anderer Job dieses Bedürfnis stillen.
- Aktivieren Sie bewährte Strategien: Auf welche Strategien zur Bewältigung schwieriger Situationen griffen Sie in der Vergangenheit zurück? Tauschten Sie sich mit Freunden aus oder nahmen sich eine Auszeit? Was davon könnten Sie auch jetzt wieder anwenden?
- Üben Sie sich in Akzeptanz: Akzeptanz lässt sich üben. Üben Sie in Alltagssituationen, wenn Ihnen der Zug vor der Nase weg fährt oder Sie bei ebay in letzter Sekunde überboten werden. Sie können auch am Abend den Tag Revue passieren lassen und die Situationen durchgehen, an denen Sie nichts ändern konnten und sich Ihre Einstellungen dazu reflektieren. Auch Tagebuch zu führen kann helfen.
- Lernen Sie aus Ihren Erfahrungen: Richten Sie den Blick in die Zukunft. Wir ärgern uns häufig über uns selbst. Meist wissen wir ja, dass wir anders hätten handeln können und vielleicht zu impulsiv waren. Anstatt sich über sich selbst zu ärgern ist es jedoch sinnvoller, sich zu fragen, was ich das nächste Mal anders machen könnte.
- Der retrospektive Blick: Stellen Sie sich vor, wie Sie fünf Jahre später auf das zurückblicken, was aktuell passiert. War es das wirklich wert, sich so zu ärgern? War es vielleicht sogar gut, dass mir das passierte? Was konnte ich daraus lernen?
- Entdecken Sie Ihren eigenen Wesenskern:Insbesondere wenn wir anderen Menschen begegnen, bspw. einem kranken, zu pflegenden Menschen, ist es essentiell, seinen eigenen Wesenskern als Mensch zu kennen. Anstatt mein Gegenüber verändern zu wollen, ist es sinnvoller, die eigene Neugier, Präsenz, Achtsamkeit, Hoffnung, Aufmerksamkeit, Güte, Sanftheit und Geduld zu aktivieren, um eine gute Begegnung zu ermöglichen.