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Die Angst vor dem Tod

Wenn es um das große C geht, kommt meist auch die Angst ins Spiel. Die Angst um liebe Menschen, die sterben könnten. Dies wirkt auf den ersten Blick mitfühlend und mitmenschlich. Nur: Wie sozial ist diese Angst in Wirklichkeit?

Nehmen wir den Tod. Wer leidet in einem Todesfall am meisten? Der Tote kann leiden, wenn sich sein Sterben im Falle einer zweiwöchigen, laut Palliativmedizinern unwürdigen Beatmungs- und Sterbeverlängerungspraxis, dahinzieht. Anstatt echter Menschen geleiten uns Maschinen in die ewigen Jagdgründe hinüber. Unseres Fortschrittsglaubens sei Dank. Schläft er sanft im Kreise seiner Liebsten ein, leidet er vermutlich weniger.

Zurück bleiben die Angehörigen, die im schlimmsten Fall für den Rest ihres Lebens trauern. Vielleicht machen sie sich sogar Vorwürfe, für den geliebten Menschen nicht genügend da gewesen zu sein oder wichtige Momente im Miteinander Leben verpasst zu haben. Derjenige, der zurück bleibt, leidet immer mehr als der, der geht.

Das mag banal klingen, bedeutet jedoch in der Konsequenz, dass wir an einer Beerdigung nicht um den Toten trauern, sondern um uns. Wir beweinen uns selbst. Wir sind es, die mit einem Verlust klar kommen müssen. Tote vergießen keine Tränen.

Aktuell wird das Leiden der Depressiven, Suizidalen, Gekündigten oder Bankrotten mit der Rettung v.a. alter Menschen in Kauf genommen. Es heißt, das Leben der anderen geht schließlich weiter. Nur: Diese Menschen leiden aktuell wirklich. Sie sind noch nicht tot. Damit stellt sich die essentielle Frage, wie wir grundsätzlich mit dem Tod umgehen wollen und wie wichtig wir das Leben selbst nehmen? Wer sein Leben in vollen Zügen genoss, kann mit dem Tod zufrieden abschließen. Jetzt ist die nächste Generation dran. Leben wir oder haben wir Angst davor, zu sterben?

Es heißt, die Wirtschaft müsse nun im Angesicht des Todes zurückstecken. Nur: Die Wirtschaft bedeutet neben all dem Schlimmen auch zu leben. Sie bedeutet Kultur, Lebendigkeit, Freude, Spaß und Austausch. Hinter der Wirtschaft stecken Millionen von Individuen. Der Herr Adidas wird vermutlich weniger an der Krise leiden als die Frau Meyer im Schuhladen um die Ecke.

Sind wir aufgrund unserer Angst vor dem Tod so todesfixiert, dass wir dabei vergessen, zu leben? Und könnte diese Angst vor Ableben anderer sogar ein Symbol unserer eigenen Angst vor dem Tod sein, der sich dank medizinischer Fortschritte weit hinauszögern lässt? Mit Impfstoffen und sonstigen Medikamenten. Es ist in dieser Debatte um den richtigen Weg erhellend, dass viele alte Menschen dies gar nicht wollen. Sie wollen nicht beatmet werden. Eine Impfung könnte sie umbringen. Sie haben Krebs oder eine Lungenentzündung und wollen in Ruhe sterben. Nicht mit Ärzten und Pflegepersonal in sterilen Anzügen an ihrer Seite, sondern mit Menschen, die sie kennen und lieben, unsteril in Fleisch und Blut. Mit Berührungen und Nähe. Und mit all der Trauer, die bei einer solchen Begleitung dazu gehört.

Wir sind alle Individuen

Jörg hat zwei Freunde. Mit Sören ist er ganz dicke. Mit Hannes ist es manchmal schwierig. Am Wochenende kochen die drei zusammen. Die Spaghetti sind gesetzt. Über die Sauce wird diskutiert. Hannes schlägt Puntanesca vor. Spaghetti nach Hurenart, sagt Wikipedia, mit viel Knoblauch, viel Sardellen und Parmesan. Sören würde die Putanesca auch essen, aber eigentlich hätte er lieber etwas sanfteres, vielleicht einfach nur Tomatensauce. Jetzt hat Jörg ein Problem: Er findet Sardellen unglaublich lecker, will aber Sören nicht verprellen. Was also tun? Geschmack oder Sympathie?

Etwas ähnliches läuft gerade beim großen C ab. Manche Menschen vertreten eine Meinung, die jemand anders bereits vertritt, den wir jedoch unsympathisch oder schlimmer noch: wirklich gruselig finden. Die einen entdecken, das sie auf einmal Fan von Franz Markus Söder sind. Glückwunsch. Andere finden eine Rede von Herbert Kickl gut. Aber halt! Das darf ich doch gar nicht. Denn Kickl ist bei der FPÖ, dem österreichischen Pendant der zur AfD. Schwierige Sache.

Wer derzeit auf Demos seine Zeit verbringt, entdeckt eine unglaubliche Mischung aus Nazis, ewigen Verschwörern, Impfgegnern, Familien mit Kindern, Rentnern oder Ostblock-Mahnern. Sie alle eint, gegen die aktuellen Maßnahmen zu sein. Sie haben dieselbe Meinung, sind jedoch mitnichten einem bestimmten Lager zuzuordnen.

Krisen sind bestimmt dazu, Menschen in Schubladen zu stecken. Bist du für mich oder gegen mich? Dabei vergessen wir leider, an die Zeit vor und nach der Krise zu denken. Vor der Krise gab es wundervolle Begegnungen mit wundervollen Individuen, jenseits von Lagerbildungen. Und ab und an sollten wir auch ein paar Momente darauf verwenden, uns vorzustellen, wie wir uns nach der Krise wieder als Individuen, als Menschen begegnen wollen. Auf der Straße. Von Angesicht zu Angesicht. Ohne Anschuldigungen. Ohne Ressentiments.

Wenn wir das schaffen, kommen wir auch in unseren Familien, Freundeskreisen und mit den Arbeitskollegen gut aus dieser Krise heraus. Wir sind alle einzigartige Menschen und keine Parteisoldaten. Und als Menschen sind die Meinungen, die wir aktuell vertreten, nur ein Teil von uns.

Die Augen gerade aus, die Reihen fest geschlossen

Ich musste gerade an einen alten Freund aus Grundschultagen denken. Er war (oder ist?) Türke und roch ein wenig anders als wir Deutschen. Vielleicht weil er mehr Knoblauch aß, während diese Leckerei bei meiner Mutter ganz tief im Kurs stand. Vielleicht muss ich gerade daran denken, weil wir uns aktuell im Homeoffice geradezu von Bärlauchpesto ernähren. Da braucht es kein Abstandsdekret.

Ich mochte ihn, meinen türkischen Kumpel. Auch wenn er wohl in einer anderen Welt lebte, damals in den 80ern, hatten wir immerhin denselben Schulweg. Dort wurden wir ab und an gehänselt. Heute würde man von Mobbing sprechen. Von kleinen Nazis.

Eigentlich ging es ja um ihn, aber ich stand nun mal dazwischen und musste mich entscheiden. Einmal kam es sogar zu einer kleinen Prügelei. Nichts Ernstes. Aber seltsam. Ich habe damals nicht wirklich verstanden, was hier passierte. Ich hatte jedoch dieses komische Gefühl in der Magengegend, dass hier etwas Unrechtes abläuft. Da sind zwei kleine Möchtegern-Schlägertypen auf der einen Seite und ein schmächtiger Zwerg auf der anderen, der keiner Fliege was zu Leide tun konnte. Im Prinzip sah er aus wie Gandhi in jungen Jahren und ohne Brille.

Im Nachhinein war das eine Art Schlüsselerlebnis in meinem Leben: Der Einzelne scheint mir wichtiger zu sein als das große Ganze.

Diese Einstellung hat sich beibehalten. Offensichtlich ist mir das Individuum heilig, meines und das meiner Mitmenschen. Als ich mich in späteren Jahren zum Heavy-Metall, Punk oder was auch immer damals in war hätte bekennen können, konnte ich mich nie entscheiden. Ich blieb immer ich. Keine Partei, keine Stammtische, keine Skatrunden, kein Gruppensport, nur lose Gruppierungen. Auch auf Demos fühle ich mich unwohl. Polizisten machen mir Angst. Kleine Gruppen wie in meinen Seminaren sind angenehm. Große Gruppen können bedrohlich sein, vor allem, wenn alle einer Meinung sind. Eine gesamte Welt, die sich seltsam einig ist, ist beängstigend.

Natürlich gibt es Menschen, die nicht hinter dieser Einigkeit (und Recht und …) stehen. Diese gelten in manchen Zeitungen automatisch als Rechts. Der Widerspruch zwischen einer quasi weltumspannenden sozialistischen Einigkeit auf der einen und der nationalistischen Verbohrtheit auf anderen Seite lässt sich nicht ganz von das Hand weisen. Der traditionelle Republikaner verteidigt sein Heim alleine mit der Waffe unterm Kopfkissen und empfindet die fürsorgliche Gesundheitspolitik eines Barack Obama übergriffig. Kein Wunder, dass es auch in Deutschland viele AfD-Anhänger und Reichsbürger gibt, die sich nie und nimmer zwangsimpfen lassen würden.

Dabei gibt es noch eine dritte Gruppe von Menschen, die ebenso versuchen, ihre ganz eigene Identität zu schützen und aktuell leicht in Vergessenheit geraten. Menschen, die sich keiner Gruppierung zuordnen lassen. Die weder links noch rechts sind. Die aus Solidarität eine Maske tragen und den gebotenen Abstand einhalten. Und die sich dennoch ihren eigenen Kopf machen. Die Individuen. Wollen wir hoffen, dass diese Querköpfe nicht zwischen den Fronten des Meinungskrieges zerrieben werden. Dass sie ihre Kreativität und ihre eigene Meinung behalten. Ich vermute, dass wir irgendwann einmal, wenn diese Krise vorbei ist und damit das Schwarz-Weiße-Denken, diese Querdenker wieder brauchen.

Bayern hat eine gespaltene Persönlichkeit

Ich lebe seit vielen Jahren in Bayern und ich glaube, ich habe Bayern erst jetzt richtig verstanden.

Als die Amerikaner damals in Deutschland stationiert waren, waren sie von Bayern begeistert. Die Bayern wären ein wenig so wie die Leute in den Südstaaten. Es gibt zwar eine Law-and-Order-Mentalität. Aber im Grunde macht jeder, was er will.

Gleichzeitig haben die Bayern eine lange Tradition der Bewunderung für Könige. Diese Tradition, sich an einem Staatsoberhaupt zu orientieren ging offensichtlich nahtlos in die DNA der CSU über. Das teils maßlos überzogene Poltern einen FJS wurde in weiten Teilen Deutschlands belächelt, teils auch mit Scham betrachtet. Was in Bayern ging, ging ansonsten nirgendwo. Dieses herrschaftliche Auftreten empfand der Rest von Deutschland als weitgehend peinlich. Es kommt nicht von ungefähr, dass Bayern es zwar mehrmals versuchte, aber noch nie einen Kanzler stellen durfte. Ob es dabei bleibt wird sich zeigen.

Neulich hatte ich dazu einen Vergleich im Kopf. Ob er passt, muss jede/r für sich selbst entscheiden. Wenn es zwischen einem Mann und einer Frau heiß hergeht, dann wünscht sich die Frau laut diverser Studien eher einen Macho. Wenn aus dieser Begegnung Kinder erwachsen, soll der Kerl lieber fürsorglich und verständnisvoll sein.

Wenn es jetzt in der Krise hoch hergeht, sehnt sich die Mehrheit wohl ebenso nach einem starken, großgewachsenen Bayern, sorry: Franken, nach Zack-Bumm-Fertig-Manier (außer ein paar unverbesserlicher Rebellen). In der nächsten Phase der Verhandlungen um den richtigen Weg könnte die Sehnsucht nach einem besonnenen Nordrhein-Westfalen steigen.

Das folgt auch der Logik im Umgang mit komplexen Situationen (siehe Cinefin-Matrix). In Krisen sehnen sich die meisten Menschen nach einem testosteron-gestählten Chef, der klar sagt, wo es lang geht. Sobald die Krise abebbt, kommen wieder andere Punkte auf die Tagesordnung. Dann sind wieder Selbst- und Mitbestimmung angesagt.

Dies gilt zumindest für den Rest der Welt. Aber zurück zu Bayern. Ich glaube, die Amerikaner hatten recht. Ein Blick von außen ist ja oft sehr erhellend.

Wer Söder und Herrmann zuhört, hat das Gefühl, wir stünden vor einer humanitären Katastrophe, die nur abzuwenden ist, wenn die Reihen geschlossen bleiben. Wer sich dann die verschiedenen Demonstrationen beispielsweise in München am Wochenende ansieht, merkt, dass es noch eine andere Welt gibt. Und wer es wagt, seine eigenen Füße trotz Ausgangssperre vor die Tür setzt, realisiert, dass dort draußen anscheinend andere regeln gelten. Der triftige Grund, der sich schwarz auf weiß so anhört, als hätten wir gefängnisähnliche Zustände, bekommt Facetten, bei denen beinahe alles wieder möglich scheint. Die Menschen dürfen zwar nicht in einem Biergarten flanieren, aber sie dürfen sich treffen, was sie in den städtischen Parks und Grünanlagen reichlich nutzen. Die Bürger sollen auch nicht in die freie Natur zwecks Erholung fahren. Aber wenn es nicht anders geht, weil es in der Stadt zu eng ist, geht es wohl doch.

Wie war das nochmal mit dem triftigen Grund? Und worunter subsumiere ich jetzt Eis essen gehen? Einkaufen? Individualsport? Das kommt wohl auf die Portion an? Spaziergang an der frischen Luft? Das ginge auch ohne Eis. Aber Ziele sind schon wichtig.

Mir scheint, Bayern ist ein wenig schizophren: Es ist schon toll, wenn es einen starken Mann an der Spitze gibt, damit alle Unbelehrbaren sich daran orientieren. Ich selber mache es dann doch anders. Wenn sich ein Ureinwohner dieses Bundeslandes in seinen Schrebergarten Freunde und Familie einlädt, achtet er natürlich auf den Mindestabstand. Bei allen anderen weiß man das nie so genau.

Vielleicht ist damit der Spruch „Leben und leben lassen gemeint“, auch wenn das in aktuellen Zeiten missverstanden werden kann. Da musste erst eine Krise wie das große C kommen, damit ich endlich verstehe, wie Bayern funktioniert.

Krieg oder nicht Krieg?

Stell dir vor es ist Krieg und keiner darf hin. Eine spannende Sache, dieser Krieg, der allerorten propagiert wurde. Emmanuel Macron sprach von einem Krieg gegen das Virus und Angela Merkel von der größten Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg. Kriege waren für Politiker schon immer eine feine Sache. Kriege vereinen. Kriege verbinden. Von der Opposition über die Medien bis zum Bürger. Wenn es einen gemeinsamen Feind gibt, hat alles andere zu warten.

Wilhelm der II. sprach 1914 von einem Burgfrieden, um die Reihen zu schließen. Er sagte: Ab heute kenne ich keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Weitergesponnen können wir heute sagen: Seit dem Virus gibt es keine Gegner mehr. Nur noch vergrabene Kriegsbeile. Google, Apple, Twitter, Facebook, Youtube und bekannte Influencer auf Youtube und Instagram, alle vereint unter einer epischen Aufgabe. Gemeinsam das Virus bekämpfen. Zumindest galt das noch in Phase I der Bedrohung unseres deutschen Landes, laut einem Strategiepapier der Bundesregierung der Hammer-Phase.

Etwas ähnliches spielte sich in dem Comic Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons ab. Weil sich die Menschheit in den 80ern beinahe in eine atomare Katastrophe manövrierte, fingierte ein genialer Tüftler eine Alieninvasion, damit die ehemaligen Streithähne auf der ganzen Welt ihre Kräfte bündelten, um gemeinsam gegen den imaginären Feind vorzugehen. Wie nahe Realität und Fiktion doch in diesen Tagen beieinander liegen.

Genau genommen könnten wir jedes Jahr mehrere Kriege führen. Gegen die Luftverschmutzung. Daran sterben jährlich 37.000 Menschen in Deutschland. Oder gegen Krankenhauskeime. Daran sterben in Deutschland jährlich 20.000 Menschen. Der Beispiele gäbe es genug. Nur offensichtlich mangelte es diesen Bedrohungen an Überzeugungskraft. Das große C arbeitet anders:

  1. Es weckt persönliche Betroffenheit bis hin zum eigenen Tod oder dem Tod eines geliebten Menschen.
  2. Es verteilt sich nicht über das gesamte Jahr, sondern ist ein wenig zackiger unterwegs, was im Menschen grundsätzlich die Angst vor der Komplettauslöschung der eigenen Sippe auslöst. Ähnliches gilt für Flugzeugabstürze, die ebenso als bedrohlicher gelten als das eigene Fahrzeug, auch wenn die Todeszahlen dieser gefühlten Bedrohlichkeit eine lange Nase ziehen.

Würden wir alle Haushalts-, Verkehrs-, Krankenhaus- und Luftverschmutzungstoten zusammenrechnen, würde das große C auf einmal ganz klein aussehen.

Aber zurück zum Krieg oder besser noch zu unserem versuchten Blitzkrieg. Die vielen Todeszahlen aus den anderen Unfallursachen lassen sich in Ruhe zusammenrechnen, während uns das C als unkalkulierbar und unberechenbar erscheint.

Und dennoch: Wir sind nicht im Krieg. Wir hocken zuhause und scharren mit den Hufen, die wir fein säuberlich in imaginierten Fußfesseln wetzen. Wären wir im Krieg, würden unsere Regierungen – wie Lisa Eckhart sagt – die Todeszahlen verschweigen, anstatt jeden Einzelnen zu zählen, was schon beinahe einem nekrophilen Fetisch gleicht, wenn man es genauer betrachtet.

Wären wir im Krieg würden wir uns dort draußen gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wir würden den propagierten Zusammenhalt, in dem sich zwangsläufig Aggressionen aufstauen – wir wollen schließlich etwas tun gegen dieses böse C – dazu nutzen, um in den Kampf zu ziehen gegen … nun ja … wen oder was eigentlich?

Wir sind aber nicht im Krieg.

Doch! Wir sind im Krieg. Nur dieses mal im Krieg gegen uns selbst. Während sich ein Krieg im Außen in einem aggressiven Schlachtgetümmel niederschlägt, findet der Krieg gegen das C in unserem Inneren statt. In unseren eigenen vier Wänden und vor allem in unserer Psyche. Die Aggression wird nach innen verdammt. Und dort soll sie auch bleiben. Viele Menschen haben Angst. Was passiert, wenn meine Kinder wieder in die Schule gehen? Manche Eltern lassen ihre Kinder aktuell nicht einmal für ein paar Minuten – ohne einen wirklich triftigen Grund wie Einkaufen – an die frische Luft. Ich vermute nach dem Lockdown eine Invasion von Draculas.

Andere werden depressiv, bis zur Suizidalität. Es heißt, ein Oxytocinmangel durch zu wenig Körperkontakt führt zu tiefen Verstimmungen.

Wieder andere flüchten sich in den Alkohol. Auch eine Lösung, zumindest eine hochprozentige. Zur Anleitung einer strukturierten Alkoholisierung bietet sich das kurze Youtube-Filmchen von Josef Hader „Struktur in der Quarantäne“ an.

Andere bleiben zwar in ihren vier Wänden, verwandeln jedoch die Angst und Autoaggression in Gewalt gegen Partner/in und Kind. Oder gehen tatsächlich auf die Straße und bombardieren die Telefonleitungen eines Instituts, das an Impfstoffen arbeitet, wie es kürzlich in Berlin geschah.

Wer nicht gleich zu revolutionären Maßnahmen greifen will, sucht „aggressive“ Fluchtwege zum Beispiel über Demonstrationen, Petitionen oder Diskussionsforen, in denen heftig darüber gestritten wird, wie rechtens und sinnvoll die Maßnahmen der Regierung sind und ob diese bald abnehmen sollten, um negative Folgen an anderer Stelle zu verhindern. Wir befinden uns mittlerweile in Phase II der Krise, laut Überschrift des angesprochenen Regierungsstrategiepapiers mit „Tanz“ betitelt.

Tanz ist eine Form der Kommunikation. Das Thema ist komplex. Und am Ende wird immer jemand leiden. Am Ende wird immer jemand sterben. Um das Leiden und Sterben werden wir nicht herum kommen. Es stellt sich nur die Frage wer es sein wird und wer das bestimmt. Zu den Kategorien „an“ oder „mit Corona“ sollte vielleicht noch die Kategorie „durch die Maßnahmen“ hinzu genommen werden. All das ist unkalkulierbar. Und genau über dieses Unkalkulierbare wird gestritten, auch wenn es laut Frau Merkel und ihrem Wort von Diskussionsorgien offensichtlich von oberster Stelle aus nicht gerne gehört oder gelesen wird. Das mag aus ihrer Sicht nachvollziehbar sein. Für die Psyche vieler Bürger ist es dennoch gesund. Und für die Demokratie sowieso.

In diesem Sinne erscheint mir der Begriff des Tanzes durchaus passend, auch wenn es hier nicht darum geht, dass die Kommunikation verhindert, anderen auf die Füße zu treten, sondern einen guten gemeinsamen Weg zu finden.