Neulich tauchte in einem Seminar die Frage auf, wie mit dem Personalmangel aus Führungssicht umgegangen werden sollte:
Sollen potentielle Bewerber*innen mit Samthandschuhen angefasst werden, selbst wenn sie sich nicht einmal die Webseite des Unternehmens angesehen haben, damit sie weiterhin Interesse haben?
Sollen Mitarbeiter*innen trotz eindeutiger Verfehlungen oder Schlampigkeiten gehätschelt werden, anstatt klar und deutlich zu sagen, was Sache ist, damit sie sich nicht frustriert abwerben lassen?
Eine Machtverschiebung hat stattgefunden
Fakt ist, dass aufgrund des Personalmangels eine Machtverschiebung stattfand. Das Angebot regelt die Nachfrage. Mitarbeiter*innen wissen das und stellen sich entsprechend darauf ein. Gibt es eigentlich noch Bewerbungs-Trainings? Oder müssen jetzt Unternehmen zurück auf die Rekrutierungs-Schulbank?
Angst essen Ehrlichkeit und Leistung auf
Die Tendenz liegt nahe: Wer Angst hat, Bewerber*innen oder Mitarbeiter*innen zu verprellen, vermeidet Kritik. Ansonsten könnte die Gefahr bestehen, dass Bewerber- und Mitarbeiter*innen sich anderweitig orientieren. Das wiederum geht nicht nur gegen die eigene Authentizität, langfristig leidet auch die Leistung des Unternehmens.
Dabei wirkt sich eine mangelnde Klarheit, die auch Kritik beinhaltet, nicht nur auf Einzelpersonen aus, sondern strahlt in das gesamte Unternehmen. Denn wer sich heute noch anstrengt könnte sich morgen schon denken: „Wenn ich mit einer mangelhaften Leistung so leicht durchkomme, warum strenge ich mich dann an?“
Damit besteht die Gefahr, dass langfristig die Stimmung kippt und auch diejenigen unzufrieden werden, die bislang noch zufrieden waren.
Wie also umgehen mit dem Dilemma „Kampf um gutes Personal“?
Der Umgang mit Bewerber*innen ist heikel, weil einem Bewerber*innen-Gehirn meist eher kurzfristige Gewinne (Homeoffice, Vergütung) wichtiger sind als langfristige Gewinne (gute Teambindung, spannende Arbeit, Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung). Dennoch kann es hilfreich sein, diesen Widerspruch anzusprechen: „Denken Sie nicht, dass Sie glücklicher wären, wenn Sie sich mit einer entsprechenden Vorbereitung gut in ein Team einfinden würden?“
Für Mitarbeiter*innen sollten jedoch klare Regeln gelten: Fehler müssen aufgearbeitet werden. Wer für eine Aufgabe ungeeignet ist, sollte sich weiterbilden oder eine besser geeignete Aufgabe bekommen. Auch eine Positive Führung bedeutet nicht, Mitarbeiter*innen emotional zu pampern, sondern sie im besten Sinne zu fördern, um etwas von ihnen fordern zu können.
Etabliert sich jedoch unternehmensweit eine Laissez-Faire-Haltung in der Hoffnung, so Mitarbeiter*innen zu halten, gehen langfristig auch noch die guten Leute verloren.
In einer alten Geschichte überqueren zehn Narren einen Fluss. Auf der anderen Seite angekommen zählen sie durch, ob es alle geschafft haben. Der erste Narr kommt jedoch nur auf neun, weil er sich selbst vergisst. Dem zweiten ergeht es ebenso. Sie sind schon ganz verzweifelt, weil sie glauben, einen von ihnen verloren zu haben. Da kommt ein Wanderer des Weges, erkennt, welchen Fehler sie gemacht haben und zählt die Narren seinerseits laut durch. Die Narren verstehen zwar ihren Fehler nicht so richtig, sind jedoch erleichtert, dass sie wieder alle beisammen sind.
Auf der Suche nach unserem Selbst
So ähnlich ergeht es uns allen. Wir besitzen einen Käfig voller Narren, vergessen jedoch, dass wir noch eine weitere Instanz als Chef dieser Narren haben (sollten). Diese Instanz wird unser Ich oder unser Selbst genannt. Und die Narren sind unsere Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Gedanken oder komplexer innere Teilpersonen oder Antreiber.
Identifizieren wir uns in einzelnen Situationen vollkommen mit unseren einzelnen Narren, vergessen wir, dass diese nur einen Teil von uns ausmachen. Deshalb empfiehlt die Psychosynthese (nach Roberto Assagioli) eine Disidentifikation mit unserer einzelnen Erlebensmodalitäten, um uns in einem zweiten Schritt mit unserem Selbst zu identifizieren.
Wir disidentifizieren uns von unseren Narren, indem wir sie wahrzunehmen, ohne mit ihnen eins zu werden:
Ich habe körperliche Empfindungen (Schmerzen, Verspannungen, Unruhe, …), aber ich bin nicht meine körperlichen Empfindungen.
Ich habe Gefühle (Wut, Angst, Enttäuschung, …), aber ich bin nicht meine Gefühle.
Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht meine Gedanken.
Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht meine Wünsche.
Unser Selbst würde stattdessen sagen: Ich bin. Ich bin da. Ich bin präsent. Ich nehme wahr. Ich beobachte.
Bei der Identifikation mit dem Selbst ergibt sich jedoch ein Problem: Unser Selbst kann lernen, unsere inneren Narren mit Abstand zu beobachten („Aha, da ist also eine Wut“), es kann sich jedoch nicht selbst beobachten. Wir kommen unserem Selbst also nur mehr oder weniger indirekt auf die Spur, indem wir das aus dem Weg räumen, was nicht zu unserem Selbst gehört.
Unser Wille als Kern unseres Ichs
Stellen wir uns dazu einen Fluss vor, der automatisch seinen Weg sucht, wenn er nicht daran gehindert wird. Dieser Fluss hat einen Willen, eine Bestrebung, Motivation und Energie. Er hat den Antrieb, genau wie unser Selbst, sich eine Spur durch die Natur zu bahnen. Er verfolgt geduldig und beharrlich sein ganzes Leben lang seinen Weg. Sein Wille ist manchmal schwach, wenn sein Wasser beinahe versiegt. In anderen Zeiten ist sein Wille stark, wenn er zu einem reißenden Strom wird. Der Fluss untersteht gleichzeitig stetigen Veränderungen und doch ist das Wasser in ihm immer dasselbe. Es kommt stetig aus derselben Quelle.
In der Psychosynthese wird davon ausgegangen, dass unser Ich ein stabiler Teil unseres Wesens ist, während alles andere in uns einem stetigen Wandel unterzogen wird. Unser Selbst war schon immer da und wird uns trotz aller Veränderungen und Anpassungen als innere Heimatquelle dienen.
Wenn ich persönlich an meine Kindheit zurückdenke, war ich schon immer neugierig, eher zurückhaltend als mutig, hilfsbereit, ausgestattet mit einem großen Gerechtigkeitssinn und eher langsam und geduldig.
In der Grundschule hatte ich einen türkischen Freund. Ich erinnere mich sogar noch an seinen Namen: Ismail, wie in Moby Dick. Eines Tages auf dem Nachhauseweg wurde er von zwei „Schulkameraden“ verbal-rassistisch angemacht. Ich meinte nur, sie sollten ihn in Ruhe lassen, weil er mein Freund ist. Ich erinnere mich auch, dass ich nicht verstanden habe, warum er anscheinend stinken solle. Ich hatte damals keine Ahnung von Rassismus. Doch hier war ich einmal mutig. Ansonsten hielt sich mein Mut bspw. gegenüber Lehrer*innen eher in Grenzen. Ich war schon damals der stille Beobachter, der so lange abwartet, bis es fast schon zu spät ist um einzugreifen. Ich war schon als Kind der Typ, der draußen steht, während andere sich balgen.
Wie also könnte der Wille meines Ichs aussehen? Ich denke, mein größtes Bestreben besteht in der Harmonie der Menschen untereinander. Auf dem Weg dorthin darf durchaus gestritten werden. Ich will keinen Burgfrieden oder eine Pseudoharmonie, sondern eine langfristige, ehrliche Harmonie, bei der jeder Mensch sich ernst- und wahrgenommen fühlt.
Zu entdecken, dass Harmonie über einen gesunden Streit führen kann, oft sogar muss, hat jedoch in meinem Fall einige Jahrzehnte gebraucht.
Den eigenen Willen erkennen lernen
Den eigenen reinen Willen zu erkennen ist folglich nicht gerade einfach, weil sich uns stattdessen viele periphere Willensfragmente aufdrängen. Oftmals glauben wir unserem Willen zu folgen. Dabei folgen wir lediglich inneren Mustern und Prägungen, Stimmungen oder äußeren Erwartungen.
Umso wichtiger ist es, den eigenen Willen immer wieder zu überprüfen:
Mache ich oft eher das, was andere von mir wollen anstatt dem eigenen Willen nachzuspüren?
Handle ich oft aus Wut, Angst, Enttäuschung, Ekel, … heraus?
Lasse ich mich leicht ablenken?
Mache ich das, was leicht erscheint, anstatt das, was ich wirklich will?
Handle ich (nicht), weil ich zu träge oder müde bin?
Mache ich mir zu viele Gedanken, bevor ich handle und mache dann im Zweifel lieber gar nichts?
Unser Selbst zu entdecken ist eine spannende Aufgabe, die uns – gerade in turbulenten Zeiten – eine immense Sicherheit bietet. Denn wer weiß, was ihm oder ihr wirklich wichtig ist im Leben, lässt sich nicht (mehr) so leicht aus der Ruhe bringen.
… und was die Quantenphysik mit Grenzziehungen zu tun hat.
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Grenzen als Machtinstrument
Grenzen bedeuten und verdeutlichen Macht, was nirgendwo deutlicher wird als auf einer Landkarte: Landesgrenzen zeigen, wer über welchen Bereich Verwaltungs- und Regierungsmacht besitzt. Wer über Macht verfügt, kann Grenzen setzen, bspw. als Eltern bestimmen, was zuhause erlaubt ist und was nicht. In Unternehmen werden Grenzen oft durch den Zugang zu Ressourcen definiert. Werden Grenzen akzeptiert, wird auch die Macht des oder der Grenzen-Definierenden akzeptiert. Werden Grenzen abgelehnt, kommt es zu Auseinandersetzungen.
Fließende Grenzen
In der Natur gibt es auch Grenzen, insbesondere zwischen Wasser und Land. Diese Grenzen sind allerdings nicht starr, sondern fließend, was anhand von Ebbe und Flut sehr deutlich wird. Ähnliche natürliche Grenzen gibt es bei Charaktereigenschaften von Menschen. Wenn wir sagen, jemand ist unpünktlich oder unzuverlässig, klingt das, als hätten wir es hier mit klar zu beschreibenden Grenzen zu tun. Dabei definiert sich die Unpünktlichkeit oder Unzuverlässigkeit erst durch den Vergleich mit der Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit anderer. Nehmen wir jedoch die klar definierten und oftmals mit dem Lineal gezogenen Landesgrenzen auf einer Landkarte (siehe die Grenzen der US-Bundesstaaten) als Vorbild für menschliche Eigenschaften anstatt der natürlichen Grenzziehungen an einem Meeresufer, sind Konflikte vorprogrammiert, da Grenzen dann nicht mehr als fließend betrachtet werden, sondern machtvoll definiert und durchgesetzt werden wollen. Wäre es stattdessen nicht eine spannende Vorstellung, sich einen Flussverlauf oder einen Berggrad als Vorbild zu nehmen? So wie die Grenzen durch den Bayerischen Wald, die Oder, Maas, Our, den Rhein, Bodensee und die bayerisch-österreichischen Alpen Tschechien, Polen, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, die Schweiz und Österreich unscharf von Deutschland trennen, sind auch Eigenschaften von Menschen unscharf und bieten damit eine jederzeit fließende, immer wieder neu zu definierende Diskussionsgrundlage.
Klassische Physik versus Quantenphysik
Einen großen Anteil an unserem Verständnis von Grenzen hat die klassische Physik:
Ein Schalter ist an oder aus.
Ein Objekt wird magnetisch angezogen oder nicht.
Ein Objekt schwimmt oder geht unter.
In der Quantenphysik werden diese strikten Grenzen aufgehoben (siehe für eine kurze und einfache Einführung hier (externer Link): https://www.youtube.com/watch?v=tt0uynvzBUQ). Von weitem scheinen die Grenzen unseres Körpers oder der Erde klar definiert zu sein. Je näher wir jedoch herangehen, desto unschärfer werden die Grenzen und desto unklarer wird es, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Aus der Nahsicht sind Grenzziehungen zwischen Land und Wasser nicht mehr so eindeutig wie aus der Ferne. Und in unserer Haut nisten sich Partikel ein, die nicht zu uns gehören, bspw. die Luft unter unseren Nägeln oder Mikroben auf der Haut. Betrachten wir unseren Körper noch genauer, erkennen wir, dass die Atome und Elektronen als kleinste Bausteine unseres Körpers niemals still stehen, sondern immer in Bewegung sind. Deshalb geht die Quantenphysik davon aus, dass ein Zustand wie eindeutig 0 oder eindeutig 1 nur selten vorkommt. Stattdessen befindet sich ein Objekt, bzw. dessen Atome, in der Mehrzahl der Momente in einem Zustand zwischen 0 und 1. Fällt bspw. ein Glas auf den Boden, ist es (evtl.) erst ganz am Ende eindeutig kaputt. Im Moment des Aufpralls ist es sowohl ganz als auch kaputt. Es hat sich sozusagen noch nicht entschieden, pendelt also zwischen 0 und 1.
Übertragen wir dieses Phänomen auf uns Menschen gibt es auch hier in den wenigsten Fällen Menschen, die eindeutig unzuverlässig oder unpünktlich sind. Auch hier sind die Grenzen fließend.
Grenzen fördern die eine temporäre Fokussierung
Dennoch brauchen wir Grenzen, um uns zu fokussieren. Würden wir tatsächlich annehmen, dass alles fließend ist, würde uns dies sicherlich überfordern. Als Führungskraft müssen Sie eine (künstliche) Grenze zu Themen wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Motivation, Kundenfreundlichkeit, usw. definieren. Diese Grenze besteht jedoch lediglich für den aktuellen Zeitpunkt und ist als Diskussionsgrundlage beständig auf dem Prüfstand.
Damit wird deutlich, dass Grenzen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich variabel sind. Dass sich für den Aufenthaltsort eines Elektrons lediglich eine Wahrscheinlichkeit berechnen lässt, bedeutet auch, dass das Elektron irgendwann einmal an einem x-beliebigen Ort auftauchen wird. Entsprechend sind auch die Grenzen, die wir selbst setzen variabel – oder sollten es sein. Stellen wir heute eine Regel auf, ist diese Regel von der Zeit abhängig, in der sie aufgestellt wurde und kann (oder sollte) sich entsprechend mit dem zeitlichen Kontext weiterentwickeln.
Die Bevölkerung ist erschöpft, sagt der bekannte Sozialforscher Klaus Hurrelmann (externer Link). Als Grund dafür macht er eine Art gesellschaftliche posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine Art deshalb, weil sich die Erkrankung einzelner nicht auf eine ganze Gesellschaft übertragen lässt. Dennoch ist das Bild der PTBS hilfreich, um zu verstehen, warum sich viele Menschen derzeit erschöpft fühlen und ins Private zurückziehen (externer Link).
Die Symptome einer PTBS lauten:
Wiedererleben: Nach der Krise ist vor der Krise: Nach Corona kam der Krieg, damit einhergehend erhöhte Heizkosten, dann die Folgen des Klimawandels, usw.
Verdrängen: Wie gezeigt fliehen viele Menschen vor aktuellen Krisen ins Private. Familie und Freundschaften werden wieder wichtiger.
Ein Gefühl ständiger Bedrohung: Nicht nur die Krisen sind omnipräsent in Funk und Fernsehen, auch die Auswirkungen auf das eigene Leben sind es. Während Corona griff der Staat direkt in das Leben der Bürger*innen ein. Und heute geht der Spuk um den Abstieg Deutschlands um, wodurch auch der eigene Job gefährdet sein könnte, die Digitalisierung könnte uns von unserer Arbeit und unseren Kolleg*innen entfremden (siehe hier), KI-Lösungen bedrohen Arbeitsplätze ebenso, die Lebenshaltungskosten wurden teurer, usw.
Die Erschöpfung ist jedoch nichts spezifisch Deutsches. Auch nach der aktuellen Wahl in Spanien (Juli 2023) hatten die Menschen anscheinend genug von den stetigen Veränderungen und wünschten sich wieder etwas mehr Konservatismus.
Umgang mit einer PTBS in der Gesellschaft
Laut Hurrelmann müssen die Symptome zuerst einmal ernst genommen werden. Die physischen Folgen von Corona (Stichwort: Long-Covid-Plakate) werden angegangen. Auf der psychischen und sozialen Seite scheint es immer noch zu hapern. Während die psychischen Folgen nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen aufgrund der Pandemie und dem Umgang damit in den Hochzeiten von Corona als Unkenrufe von Traumatherapeut*innen abgetan und ungern gehört wurden, werden die psychischen Folgen auch heute noch unterschätzt. Problematisch dabei ist die Messbarkeit psychischer Probleme. Einen einfachen Test wie bei Corona gibt es dafür nicht.
Desweiteren braucht es laut Hurrelmann mehr Kohärenz, d.h. konkret:
Ein Verstehen der Situation: Warum gehen die Preise hoch? Warum sollten wir welche Prozesse bei uns digitalisieren? Usw.
Handlungskompetenz: Was kann ich selbst konkret tun?
Sinnhaftigkeit des Handels: Macht es einen Unterschied, wenn ich so oder so handle? Was bringt mein Handeln am Ende?
Wenn einseitiger Optimismus erschöpft
Oft wird behauptet, dass wir in einem Land leben, in dem es immer mehr Verbote gibt: Du darfst nicht mehr so viel heizen, die Beweggründe des russischen Einmarschs nicht verstehen, sollst nicht mehr so viel Fleisch essen, usw. Wir kennen das alles. Was wäre jedoch, wenn wir stattdessen eher in einer Kultur leben, die das optimistische alternativlose Ja-Sagen propagiert und es damit letztendlich ein wenig übertrieben hat: Ja zu Corona-Maßnahmen. Ja zur Unterstützung der Ukraine. Ja zu den Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch die Sparte von New Work namens Feelgoodmanagement ist ein einziges großes Ja.
Optimismus ist wichtig, gerade im Umgang mit Krisen. Aber es gibt auch Grenzen, wenn der Optimismus als zu viel wahrgenommen wird.
Zudem sind auch vermeintlich „negative“ Emotionen wichtig in unserem Leben. In einer Studie von 1997 ließ der Psychologieprofessor James Gross 180 Frauen in zwei Gruppen traurige, emotionale und neutrale Filme anschauen. Die erste Gruppe sollte keine Gefühle zeigen. Die zweite Gruppe durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Gruppe 2 war daraufhin wesentlich begeisterter von den Filmen. Gruppe 1 jedoch war erschöpfter.
Daraus lässt sich lernen, dass es nicht nur darum gehen sollte, Menschen in Veränderungen mitzunehmen. Auch Ärger und Enttäuschungen brauchen einen Raum, um gehört zu werden, damit Veränderungen einen nachhaltigen Erfolg haben.
Vielleicht liegt die Erschöpfung also tatsächlich auch in unserem dauerhaften Ja-Sage-Modus, während die Bedenken und Sorgen oftmals zu wenig ernst genommen werden.
Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“
Was bedeutet nun all das für Unternehmen, abgesehen davon dass sich das Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ auch in meinen Seminaren seit über einem Jahr zu einem „Trend“ entwickelte?
Interessanterweise stellte die Deloitte Human Capital Trendstudie (externer Link) bereits 2018 den Aufstieg „Sozialer Organisationen“ fest. Ein soziales Unternehmen verbindet die Ziele Wachstum und Gewinn mit der Notwendigkeit, die Umwelt und ihre Belegschaft ebenso zu fördern. Es geht also nicht mehr um Agilität und Kundenfreundlichkeit über alles, sondern auch um Werte wie Nachhaltigkeit und Mitarbeiter*innenorientierung.
Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“ hat drei große Treiber:
Wertewandel: Kund*innen von heute kaufen nicht nur ein Produkt, sondern ein ganzes Wertepaket. Und junge Bewerber*innen achten ebenso mehr als früher auf die sozialen und umweltverträglichen Werte eines Unternehmens.
Unternehmen statt Politik: Das Vertrauen in die Politik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Was sich bereits 2018 ankündigte, hat sich durch Corona, den Krieg, den Klimawandel, etc. nur noch verschärft. Von Unternehmen wird erwartet, dass sie dieses Führungsvakuum füllen und sich klar zu Fragen der Diversity, Nachhaltigkeit, Gesundheitsversorgung und Cybersicherheit positionieren.
Schnelligkeit als Belastung: Viele Menschen haben das Gefühl, dass „Science Fiction“ bereits „Science Fact“ ist. Der technologische Wandel verläuft rasant und bringt unvorhergesehene Auswirkungen für jede/n Einzelne/n mit sich. Das Menschliche bleibt da bisweilen auf der Strecke.
In Verbindung mit der grassierenden Erschöpfung lässt sich hier der Schluss ziehen, dass Unternehmen auch im Umgang mit einer Art PTBS eine Verantwortung haben oder sich dieser zumindest bewusst werden sollten, um die Lücke zu füllen, die gesellschaftspolitisch offensichtlich nicht gefüllt werden kann. Und damit ist keine Ersatztherapie gemeint, sondern lediglich die Möglichkeit, sich über soziale und psychische Belastungen in seinen Teams auszutauschen.
In vielen Unternehmen ist die Digitalisierung weit vorangeschritten, in anderen wird immer noch gefremdelt. Dies liegt insbesondere an branchenspezifischen Einstellungen der Menschen. Eine Studie von Sebastian Wörwag gibt Aufschluss darüber, was unterschiedliche Branchen erwarten und befürchten.
Stimmungs-Status-Quo in verschiedenen Branchen
Grob zusammengefasst erwartet die IT-Branche mehrheitlich Positives von der Digitalisierung:
weniger Routineaufgaben
mehr (kreative) Freiräume, erst recht durch KI
und damit auch die Zunahme spannender Arbeit
In der Finanzbranche sieht es schon anders aus. Hier wird erwartet, dass …
zwar einerseits Routineaufgaben abgenommen werden, bspw. durch Chatbots,
andererseits jedoch Standardisierungen zunehmen und damit auch persönliche Entscheidungsfreiräume wegfallen.
Die Sozialen und Gesundheits-Berufe stehen der Digitalisierung besonders skeptisch gegenüber. Hier wird erwartet, dass digitalisierte Prozesse in diesen Berufen wenig bis gar nichts bringen. Ehrlicherweise muss man auch festhalten, dass eine Tätigkeit wie die Pflege an sich kaum digitalisiert werden kann. In ferner Zukunft könnten evtl. Pflegeroboter zum Einsatz kommen. Bis dahin bezieht sich die Digitalisierung von Prozessen v.a. auf Verwaltungstätigkeiten im Hintergrund.
Die Bildungsbranche wiederum erwartet v.a. mehr Freiräume für die Lehre und Forschung durch die standardisierte Digitalisierung von Prozessen, bspw. bei Laboruntersuchungen, die 1000 mal durchgeführt werden müssen.
Und in der Öffentlichen Verwaltung schließlich scheint eine Art Gleichmut vorzuherrschen: Während auf der einen Seite mehr Routineaufgaben erwartet werden, werden auf der anderen Seite digitale Hintergrund-Prozesse eingeführt, um die eigene Arbeit zu erleichtern. Damit halten sich Befürchtungen und Begeisterung die Waage.
Kreativität versus Digitalisierung
Ein Schlüssel zur Akzeptanz digitaler Prozesse ist definitiv die Einschätzung der Notwendigkeit von Kreativität in der eigenen Arbeit. Hier ergab die Untersuchung von Wörwag Erstaunliches:
Während die Notwendigkeit von Kreativität im Sozialen Bereich (18%) und Gesundheitsbereich (27%) am höchsten von allen untersuchten Branchen eingeschätzt wird (Durchschnitt aller Branchen 14%),
liegt sie im Bereich Bildung und Forschung bei überraschenden 10%. Um es noch einmal klar zu verdeutlichen: Die befragten Angestellten gaben lediglich zu 10% an, dass Kreativität in Lehre und Forschung wichtig ist.
Selbst die Öffentliche Verwaltung (15%) und das Finanzwesen (13%) liegen hier höher.
Noch extremer ist es in der IT. Hier gaben 0% an, dass Kreativität in ihrer Arbeit erforderlich ist. Daraus lässt sich auch erklären, warum KI in der IT so wichtig erscheint, was mich als Nicht-IT-ler erstaunt: Es scheint oftmals weniger um neue Ideen zu gehen, sondern mehr um die Umsetzung von Routine-Programmierungen oder die Wartung vorhandener Systeme.
Da jedoch digitale Prozesse, insbesondere KI und die Arbeit mit Algorithmen, bereits vorhandene Daten nutzen oder analoge Prozesse digital standardisieren, werden sie nicht damit verbunden, etwas Neues in die Welt zu bringen. Es geht also nicht darum, mit einer neuen Situation kreativ umzugehen.
Je wichtiger folglich für ein/e Mitarbeiter*in – unabhängig von der Branche – Kreativität ist, desto mehr wird er oder sie die Digitalisierung ablehnen, weil mit der Digitalisierung eher eine Standardisierung verbunden ist, in der Freiräume mehr beschnitten als gefördert werden.
Eine Faustformel zur Digitalisierung von Prozessen
Der Vergleich der Branchen zeigt deutlich, dass jede Branche anders bei der Digitalisierung tickt. Umso wichtiger ist es, nicht in einen Machbarkeitswahn zu verfallen, sondern sich genau zu überlegen, wann die Digitalisierung von Prozessen sinnvoll ist.
Im Sinne einer humanen Arbeit kann eine Faustformel (mit fünf Fingern) dazu lauten:
Sinnvoller Zweck und Nutzen: Worin besteht der Nutzen des digitalisierten Prozesses? Soll er die Menschen entlasten? Schneller, agiler oder kundenfreundlicher („Ihre Nachricht kam an und wir kümmern uns darum …“) machen?
Weiterentwicklung statt Entfremdung: Werden Prozesse digitalisiert, die den Menschen bislang Spaß machten? Werden sie also von ihrer Arbeit entfremdet? Verstehen die Mitarbeiter*innen noch, was bei digitalen Prozessen im Hintergrund passiert, auch um es Kund*innen verständlich zu machen? Oder nimmt die Digitalisierung dem Menschen ungeliebte Tätigkeiten ab und hilft ihm sich weiterzuentwickeln?
Freiräume für persönliche Entwicklungen: Schaffen digitale Prozesse Freiräume zur Entwicklung der Mitarbeiter*innen an einer anderen Stelle? Oder gilt es nur noch, im Hintergrund digitale Prozesse zu beobachten und bei Fehlern einzugreifen? Kurzum: Macht die Digitalisierung die Arbeit spannender oder langweiliger?
Bindung: Fördert die Digitalisierung die Bindung zueinander, bspw. weil digitalisierte Routineaufgaben Freiräume schaffen, die für kreative Prozesse im Team genutzt werden? Oder schafft die Digitalisierung (Stichwort: Onlinemeetings) mehr Distanz zwischen den Mitarbeiter*innen? Es ist erstaunlich, wie viele Teams sich online verabreden, nur weil es einfacher ist, obwohl alle am gleichen Ort sind.
Teilhabe, Integration und Inklusion: Fördert die Digitalisierung die Teilhabe möglichst vieler Mitarbeiter*innen an der Arbeit oder auch Diskussionen und Abstimmungen? Schaffen bspw. Onlinemeetings bessere Zugänge für Gehandicapte? Denken wir dabei auch an Apps für Sehbehinderte, die ihnen helfen, Einkaufswaren zu scannen oder die Möglichkeit von Übersetzungsprogrammen im interkulturellen Austausch. Und auch zur Partizipation möglichst vieler Mitarbeiter*innen an Unternehmensprozessen lassen sich digitale Hilfsmittel (Onlinemeetings, Abstimmungsplattformen) gut einsetzen. Die Frage ist nur: Ist das auch gewünscht?
Zusammenfassen lassen sich diese 5 Aspekte auch in die 3 Bereiche des Organisatorischen, Persönlichen und Sozialen:
Literatur
Sebastian Wörwag, Andrea Cloots (Hrsg.) – Human Digital Work – Eine Utopie? Springer—Gabler, 2020, S. 127ff
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