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Symptome einer erschöpften Gesellschaft
Die Bevölkerung ist erschöpft, sagt der bekannte Sozialforscher Klaus Hurrelmann (externer Link). Als Grund dafür macht er eine Art gesellschaftliche posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine Art deshalb, weil sich die Erkrankung einzelner nicht auf eine ganze Gesellschaft übertragen lässt. Dennoch ist das Bild der PTBS hilfreich, um zu verstehen, warum sich viele Menschen derzeit erschöpft fühlen und ins Private zurückziehen (externer Link).
Die Symptome einer PTBS lauten:
- Wiedererleben: Nach der Krise ist vor der Krise: Nach Corona kam der Krieg, damit einhergehend erhöhte Heizkosten, dann die Folgen des Klimawandels, usw.
- Verdrängen: Wie gezeigt fliehen viele Menschen vor aktuellen Krisen ins Private. Familie und Freundschaften werden wieder wichtiger.
- Ein Gefühl ständiger Bedrohung: Nicht nur die Krisen sind omnipräsent in Funk und Fernsehen, auch die Auswirkungen auf das eigene Leben sind es. Während Corona griff der Staat direkt in das Leben der Bürger*innen ein. Und heute geht der Spuk um den Abstieg Deutschlands um, wodurch auch der eigene Job gefährdet sein könnte, die Digitalisierung könnte uns von unserer Arbeit und unseren Kolleg*innen entfremden (siehe hier), KI-Lösungen bedrohen Arbeitsplätze ebenso, die Lebenshaltungskosten wurden teurer, usw.
Die Erschöpfung ist jedoch nichts spezifisch Deutsches. Auch nach der aktuellen Wahl in Spanien (Juli 2023) hatten die Menschen anscheinend genug von den stetigen Veränderungen und wünschten sich wieder etwas mehr Konservatismus.
Umgang mit einer PTBS in der Gesellschaft
Laut Hurrelmann müssen die Symptome zuerst einmal ernst genommen werden. Die physischen Folgen von Corona (Stichwort: Long-Covid-Plakate) werden angegangen. Auf der psychischen und sozialen Seite scheint es immer noch zu hapern. Während die psychischen Folgen nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen aufgrund der Pandemie und dem Umgang damit in den Hochzeiten von Corona als Unkenrufe von Traumatherapeut*innen abgetan und ungern gehört wurden, werden die psychischen Folgen auch heute noch unterschätzt. Problematisch dabei ist die Messbarkeit psychischer Probleme. Einen einfachen Test wie bei Corona gibt es dafür nicht.
Desweiteren braucht es laut Hurrelmann mehr Kohärenz, d.h. konkret:
- Ein Verstehen der Situation: Warum gehen die Preise hoch? Warum sollten wir welche Prozesse bei uns digitalisieren? Usw.
- Handlungskompetenz: Was kann ich selbst konkret tun?
- Sinnhaftigkeit des Handels: Macht es einen Unterschied, wenn ich so oder so handle? Was bringt mein Handeln am Ende?
Wenn einseitiger Optimismus erschöpft
Oft wird behauptet, dass wir in einem Land leben, in dem es immer mehr Verbote gibt: Du darfst nicht mehr so viel heizen, die Beweggründe des russischen Einmarschs nicht verstehen, sollst nicht mehr so viel Fleisch essen, usw. Wir kennen das alles. Was wäre jedoch, wenn wir stattdessen eher in einer Kultur leben, die das optimistische alternativlose Ja-Sagen propagiert und es damit letztendlich ein wenig übertrieben hat: Ja zu Corona-Maßnahmen. Ja zur Unterstützung der Ukraine. Ja zu den Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch die Sparte von New Work namens Feelgoodmanagement ist ein einziges großes Ja.
Optimismus ist wichtig, gerade im Umgang mit Krisen. Aber es gibt auch Grenzen, wenn der Optimismus als zu viel wahrgenommen wird.
Zudem sind auch vermeintlich “negative” Emotionen wichtig in unserem Leben. In einer Studie von 1997 ließ der Psychologieprofessor James Gross 180 Frauen in zwei Gruppen traurige, emotionale und neutrale Filme anschauen. Die erste Gruppe sollte keine Gefühle zeigen. Die zweite Gruppe durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Gruppe 2 war daraufhin wesentlich begeisterter von den Filmen. Gruppe 1 jedoch war erschöpfter.
Daraus lässt sich lernen, dass es nicht nur darum gehen sollte, Menschen in Veränderungen mitzunehmen. Auch Ärger und Enttäuschungen brauchen einen Raum, um gehört zu werden, damit Veränderungen einen nachhaltigen Erfolg haben.
Vielleicht liegt die Erschöpfung also tatsächlich auch in unserem dauerhaften Ja-Sage-Modus, während die Bedenken und Sorgen oftmals zu wenig ernst genommen werden.
Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“
Was bedeutet nun all das für Unternehmen, abgesehen davon dass sich das Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ auch in meinen Seminaren seit über einem Jahr zu einem „Trend“ entwickelte?
Interessanterweise stellte die Deloitte Human Capital Trendstudie (externer Link) bereits 2018 den Aufstieg „Sozialer Organisationen“ fest. Ein soziales Unternehmen verbindet die Ziele Wachstum und Gewinn mit der Notwendigkeit, die Umwelt und ihre Belegschaft ebenso zu fördern. Es geht also nicht mehr um Agilität und Kundenfreundlichkeit über alles, sondern auch um Werte wie Nachhaltigkeit und Mitarbeiter*innenorientierung.
Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“ hat drei große Treiber:
- Wertewandel: Kund*innen von heute kaufen nicht nur ein Produkt, sondern ein ganzes Wertepaket. Und junge Bewerber*innen achten ebenso mehr als früher auf die sozialen und umweltverträglichen Werte eines Unternehmens.
- Unternehmen statt Politik: Das Vertrauen in die Politik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Was sich bereits 2018 ankündigte, hat sich durch Corona, den Krieg, den Klimawandel, etc. nur noch verschärft. Von Unternehmen wird erwartet, dass sie dieses Führungsvakuum füllen und sich klar zu Fragen der Diversity, Nachhaltigkeit, Gesundheitsversorgung und Cybersicherheit positionieren.
- Schnelligkeit als Belastung: Viele Menschen haben das Gefühl, dass „Science Fiction“ bereits „Science Fact“ ist. Der technologische Wandel verläuft rasant und bringt unvorhergesehene Auswirkungen für jede/n Einzelne/n mit sich. Das Menschliche bleibt da bisweilen auf der Strecke.
In Verbindung mit der grassierenden Erschöpfung lässt sich hier der Schluss ziehen, dass Unternehmen auch im Umgang mit einer Art PTBS eine Verantwortung haben oder sich dieser zumindest bewusst werden sollten, um die Lücke zu füllen, die gesellschaftspolitisch offensichtlich nicht gefüllt werden kann. Und damit ist keine Ersatztherapie gemeint, sondern lediglich die Möglichkeit, sich über soziale und psychische Belastungen in seinen Teams auszutauschen.