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Die psychotische Gesellschaft, Teil III: Auf der Suche nach Identität, Heimat und Sinn

Ariadne von Schirach unterschiedet drei typische Reaktionen bzw. Typen im Umgang mit psychotischen Zeiten (sie nennt die Typen Kurateure, Spirituelle und Fanatiker):

  • Arrangeure gehen auf in einer Welt, in der alles ständig in Bewegung ist. Sie präsentieren sich selbst als Ware auf Instagram, um auf den nächsten Klick zu hoffen. Deshalb entwickeln sie ein feines Gespür für äußere Kritik: Welche Trends gibt es gerade? Was darf ich auf keinen Fall äußern? Was muss ich tun, um gemocht zu werden? Sie leben hedonistisch im Hier und Jetzt.
  • Träumer, man könnte auch sagen Luftmenschen, träumen sich in eine schönere Welt der Vergangenheit oder Zukunft, in der alles miteinander verbunden ist. Sie orientieren sich an Möglichkeiten als an Notwendigkeiten. Sie scheinen stets ein wenig abwesend zu sein und sind beständig im Werden anstatt im Sein.
  • Krieger oder Fundamentalisten schließlich sind fest von ihrem Weltbild überzeugt und wollen auch andere davon überzeugen, was richtig oder falsch ist. Sie ziehen sich in ihre heile Reichsbürgerwelt zurück oder kämpfen im Internet für klare Werte. Da sie jedoch so fest von ihrem Standpunkt überzeugt sind, bleibt kein Raum für andere Meinungen.

Von Schirach bringt als positive Lösung im Umgang mit einer komplexen Welt eine vierte Figur ins Spiel, den Poeten. Poeten verbinden den Körper mit dem Geist, das Endliche mit dem Ewigen, das Notwendige mit dem Möglichen, das Individuelle mit dem Ganzen und das Sein mit dem Werden. Sie nehmen die Welt und ihre Mitmenschen wahr und fragen nach der Bedeutung des Wahrgenommenen für sich selbst. Sie fragen sich nach ihrer Rolle in der Welt. Sie sind sich dessen bewusst, dass alles was sie sagen aus Sprachbausteinen besteht, die schon millionenfach geäußert wurden, jedoch noch nie so wie sie es tun. Deshalb sind sie ein Teil des Ganzen und doch individuell. So wie die Sonne an jedem Morgen aufgeht und dennoch jeder Sonnenaufgang einzigartig ist. Deshalb ist eben nicht schon alles gesagt, sondern wird jedes mal neu interpretiert. Und jedes Wort bekommt eine neue persönliche Bedeutung. Dabei äußern Menschen mit ihren Worten auch geheime, oft unbewusste Wünsche, so wie sie etwas aussprechen. Das wiederum verbindet sie mit anderen Menschen, sofern diese die geheimen Wünsche lesen können. Es ist, wie Nietzsche in Also sprach Zarathustra schreibt, nicht das Kamel – oder der Arrangeur – das die Lasten der Welt auf sich nimmt, indem es alles mitmacht, oder der Löwe – bzw. der Krieger – der in den Kampf gegen die Welt zieht, um seine Werte durchzuboxen, sondern das erwachsen gewordene, staunende Kind, das die Welt immer wieder auf sich bezieht und sie damit in sich hinein nimmt, verarbeitet und reflektierend wieder nach außen kehrt. Das Kind in uns staunt immer noch über den Fremden, anstatt ihn mit sich gleich zu setzen. Es fragt sich, was der oder das Fremde für uns bedeutet, ob es als Abgrenzung eine Bestätigung unserer eigenen Identität ist oder eine Ergänzung. Das Kind macht sich bewusst, was es bereits kann und ist und was es noch werden kann. Es weiß, dass es Dinge gibt, die notwendig sind, um gut im Leben zu stehen und Dinge, von denen wir träumen können, selbst wenn sie vielleicht niemals wahr werden. Es erfreut sich an den kleinen Dingen im Leben, einer Limonade in der Sonne oder einem guten Gespräch mit Freunden. Es versteht, dass es etwas Besonderes ist, das jedoch nur besonders ist, weil andere Menschen ebenso besonders sind. Es weiß, dass alles endlich ist, jeder Lebensabschnitt, Kindergarten, Schule, Berufsabschnitte, Urlaube, Familienfeste. Alles geht vorbei. Und anschließend kommt etwas Neues. Es berührt die Dinge der Natur. Spürt nach, was sie für es bedeuten. Plant, was es mit ihnen tun könnte. Und tut es. Alles Werden war zuvor im Sein, ist anschließend wieder im Sein und wird durch das Werden ein neues Sein.

Auch die Authentizität der Sprache verbindet oder trennt uns. Authentisch ist es, das auszusprechen, was in mit klingt. Auszusprechen, dass ich wütend oder traurig bin, ohne einen manipulativen Hintergedanken zu haben. Damit bin ich wie es der Philosoph und Gründer von Focusing, einer Art therapeutischer Lebenshaltung, gleichzeitig bei mir und bei dem Anderen. Die Welt ist in mir und ich bin in der Welt. Das Ganze kann gedacht, es will aber auch ausgedrückt werden.

Der Neuropsychologie Daniel Siegel integriert in seinem Mindsight-Konzept die beiden Dimensionen Denken und Fühlen sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir werden nur glücklich, wenn wir optimistisch und die Zukunft blicken und gleichzeitig das Notwendige im Jetzt unternehmen. Dies schaffen wir, indem wir die Zukunft denkend vorweg nehmen und gleichzeitig fühlend und vor allem körperlich spürend im Hier stehen.

In jeder Begegnung dürfen wir uns neu entscheiden: Spüren oder Denken? Gegenwart oder Zukunft? Notwendiges tun oder von Möglichkeiten träumen? Die Endlichkeit als Auftrag nehmen, jetzt zu leben oder auf die Ewigkeit und damit bessere Zeiten hoffen? Sie mit dem zufrieden, was ich bin und habe oder nach Mehr und Höherem streben? Oder konkreter: Sich mit dem eigenen Leben zufrieden geben oder etwas verändern wollen? Sich von Urlaub zu Urlaub hangeln oder das Leben im Alltag genießen? In der Gemeinschaft aufgehen oder Wege gehen, von denen ich nicht weiß, wo sie hinführen?

Eine solche Verbindung gab es bereits im kabbalistischen Lebensbaum. Der untere, irdische Teil des Lebensbaums beschreibt meine körperlichen Bedürfnisse nach Gesundheit, individueller Freiheit, sozialer Anerkennung, menschlicher Nähe, Liebe und Berührungen. Daraufhin erkundige ich mich, darüber, wie ich meine Bedürfnisse erfüllen kann. Ich eigne mir Wissen an, woraus konkrete Handlungen erfolgen. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Bereiche entsteht meine Identität und damit das Bild, das ich nach außen präsentiere. Als träumerischer Mensch ziehe ich mich eher zurück. Als kurativer Mensch folge ich dem Mainstream. Als fanatischer Mensch kämpfe ich für meine Überzeugungen. Als Poet suche ich nach den feinen Verbindungen zwischen mir, meinem Umfeld und der Welt.

Auf der emotionalen Zwischenebene des Lebensbaums finden wir die Aspekte Stärke, Güte und Wesenskern. Woraus ziehe ich meine Energie? Über Ruhemomente im Leben, ein Feuer, das in mir für ein bestimmtes Thema brennt oder spannende Gespräche mit Freunden? Und wie steht es mit meiner Geduld für mein Umfeld? Was muss ich aushalten, weil es bei anderen Menschen keinen Umschaltknopf gibt? Was wiederum kann ich selbst gütig geben? Wissen, Humor, Gelassenheit oder Optimismus vielleicht? Die gebende Güte und geduldige Stärke bilden gemeinsam zwei wesentliche Aspekte unseres Wesenskerns. Was macht mich als Mensch aus? Die Neugier auf Menschen und das Staunen eines Kindes? Oder der untrügliche Glaube daran, dass jeder Mensch das Potential mitbringt, genau das aus sich zu machen, wes ihn glücklich macht. Und zeige ich mit meiner Identität aus dem unteren Bereich des Lebensbaums das, was mir persönlich wirklich am Herzen liegt? Oder bin ich als Arrangeur lediglich ein Spiegel der Zeit, hänge als Träumer einem Wunschtraum nach oder kämpfe als Kämpfer gegen Windmühlen?

Auf der letzten Ebene geht es endlich um das Denken, die Transzendenz und damit die Verbindung mit dem großen Ganzen, mit der großen mythischen Erzählung des Mensch-Seins. Hier stelle ich mir die Frage, welche persönlichen Erkenntnisse mich prägen. Aus diesen Erfahrungen generiere ich Weisheiten, die wie Glaubenssätze mein Leben prägen. Die Erkenntnis, das eigene Leben von anderen abhängig zu machen oder vor lauter Träumen nicht zum eigenen Leben zu kommen könnte zur Weisheit führen, es sich manchmal schwerer machen zu müssen, indem ich meine eigene Meinung äußere oder das banale Notwendige im Leben tun muss, um mich und meinen Wesenskern wieder zu spüren. Die Erkenntnis stetig anzuecken könnte zur Weisheit führen, es sich manchmal leichter machen zu müssen, indem ich die eigene Meinung nicht als absolut nehme, um mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und zu erfahren, was sie bewegt. Im letzten Punkt, der Krone in der Kabbalah, stellt sich die Frage nach unseren kosmischen Verbindungen? Wir sind wir und weder Alles, noch Nichts, sondern lediglich ein Teil des Ganzen. Wir sind wie ein vermeintlich unbedeutendes Puzzlestück. Dabei wissen wir alle, wie ärgerlich es ist, wenn am Ende ein Teil fehlt. Wir wollen alle gehört, wahr- und ernst genommen werden. Wir suchen nach einem Platz auf der Welt, um unseren Wesenskern über unsere Identität ausleben zu können. In der Familie, in Freundschaften und in der Arbeit. Wir suchen nach einer Heimat, mit Werten, die uns alle miteinander verbinden. Wir wollen unseren Kindern einen bewohnbaren Planeten hinterlassen. Wir sind alle auf der Suche nach einem Sinn. Wir suchen nach Schönheit, die wir in kulturellen Errungenschaften eher entdecken als in rastlosem Konsum. Die Schönheit liegt in der Musik, in der Poesie, im Miteinander. Wir finden Sinn im Gestalten. Im Schöpferischen. In der Mit-Arbeit. Der Beteiligung in Unternehmen.

Als Anfänger in die Welt geworfen, müssen wir die Welt für uns entdecken. Das Erlebte hilft uns dabei, die Welt lebbar zu machen. Jeden Morgen stehen wir auf und können uns neu entscheiden, was wir mit unserem Leben anfangen wollen. Verbeiben wir in der kapitalistischen Denkweise des Höher, Schneller, Weiter? Oder fragen wir unseren Körper, was er braucht, damit es genug ist? Die Erkenntnis der „Genug“ ist gefährlich. Wir würden aufhören sinnlose Dinge zu kaufen und zu verschenken und damit beginnen, uns authentische Worte zu schenken. Wir würden aufhören, uns abzuarbeiten mit der Hoffnung auf ein schöneres Später und damit beginnen, das zu tun, was Menschen auf dem Sprung ins Jenseits in der Rückschau bedauern: Mehr Zeit mit Kindern verbringen, die Eltern gut in den Tod zu begleiten, Beziehungen und Partnerschaften intensiver leben, die Welt bereisen und die eigenen Träume verwirklichen. Die Besinnung auf das eigene Glück jedoch ist zutiefst revolutionär, weil es dem vorherrschenden kapitalistischen Modell widerspricht. Die unendlichen Möglichkeiten der heutigen Welt, seien es Ausbildungen, Konsumgüter oder die Welt des Internet, brauchen ein Regulativ, das nur wir selbst, unser Spüren und Fühlen sein kann. Daher sollten meine täglichen Fragen lauten: Wer bin ich? Was brauche ich, um glücklich zu sein? Und brauche ich genau das, was mir gerade angeboten wird, um ich zu sein?

Die psychotische Gesellschaft, Teil II: Philosophische Ursprünge

Spüren im Jetzt oder Denken in die Zukunft?

Während Geflüchtete in ihrem Land nicht mehr leben können, weil sie verfolgt werden, haben die Menschen im Nordwesten ihre innere Heimat, ihren inneren Kompass verloren. Sie wissen nicht mehr, wofür sie stehen, was gut oder falsch ist. Manche flüchten sich in Autoritäts- oder Wissenschaftsgläubigkeit, andere in Verschwörungstheorien. Die Gesellschaft spaltet sich auf und zieht klare Grenzen. Diese Spaltung der Wahrnehmung der Wirklichkeit wurde durch zwei uralte Philosophien geprägt. Zum einen durch das Transzendente, das davon ausgeht, dass jeder alles werden kann, wohl am stärksten durch Rene Descartes Ausspruch „Ich denke, also bin ich“ geprägt. Daraus entwickelte sich der Gleichheitsgedanke. Jeder kann alles werden, was er will. Jeder kann Erfolg haben. Er muss sich nur anstrengen. Jeder hat dieselben Rechte im Leben. Die Idee der Chancengleichheit im Leben ist charmant. Da jedoch in der realen Welt nicht jeder gleich am Leben teilhaben kann, weil die Ressourcen von Anfang an ungleich verteilt sind, lässt sich diese Idee nur zum Teil umsetzen. Zudem negiert das Prinzip der Gleichheit den Respekt vor unseren Unterschieden und damit vor der Schönheit des Individuellen. Jeder einzelne Mensch muss seinen eigenen Anteil am Leben suchen. Hat jedoch jemand nicht den Anteil am Leben, der ihm versprochen wird, kann er die Schuld daran an der Gesellschaft suchen, die ihn daran hindert oder an sich selbst. Früher ging die Wut nach innen. Im Zeichen der Cancel-Culture-Debatte geht die Wut nach außen.

Die zweite Theorie, die letztlich auf Aristoteles zurückgeht, nimmt an, dass wir alle unterschiedlich sind. Sie ergänzt den theoretischen Gedanken der Gleichheit um die Erfahrung in der individuellen Realität. Wenn jedoch alle Menschen verschieden sind, haben sie unterschiedliche Chancen, am Leben teilzunehmen und Erfolg zu haben. Die unterschiedlichen Ressourcen werden bestimmt durch die Körperkraft, das Aussehen, das Auftreten, das Geburtsland, die vorhanden Finanzen, Unterstützer, usw. Während die Theorie der Transzendenz folglich in einer geistigen Zukunft der Möglichkeiten spielt, orientiert sich die Theorie der Individualität an im weitesten Sinn körperlichen Begebenheiten im Hier und Jetzt. Utopie versus Realismus. Notwendigkeit versus Träume. Spüren versus Denken. Endlichkeit versus Ewigkeit. Sein versus Entwicklung.

Treffen sich die beiden Aspekte der individuellen Durchsetzung mit den potentiellen Chancen haben wir die extreme Form des „american way of life“ bzw. des Neoliberalismus oder -kapitalismus. Mach was aus deinem Leben, bevor es andere tun.

Während die Individualisten die positive Vision der Emanzipation und Weiterentwicklung jedes einzelnen Menschen verfolgen, träumen die Transzendenz-Anhänger von der großen mythischen Erzählung, die alle Menschen miteinander verbindet.

Beide Philosophien könnten uns stabilisieren. Die Rückbesinnung auf das eigene Leben und die eigenen Bedürfnisse ebenso wie gemeinsame kulturell verbindliche Werte. In einer rastlosen Welt scheint beides abhanden gekommen zu sein. Kulturelle Werte diffundieren ebenso wie der Bezug zu sich selbst. Stattdessen verlieren wir uns im Denken der Möglichkeiten und schaffen es nicht mehr, zu bewerten, was uns wirklich wichtig ist. Uns fehlt die Regulation im Leben. Alles kann, nichts muss.

Die psychotische Gesellschaft, Teil I: Die Hintergründe unserer hektischen Welt

Der Begriff einer psychotischen Gesellschaft geht auf Prof. Dr. Kruse zurück und wurde von Ariadne von Schirach in Buchform weiterentwickelt. Im Kern der Theorie geht es um die Entwurzelung des Menschen. Er verliert sich in Nachrichten, besitzt zu viele Möglichkeiten im Leben und kann sich nicht mehr entscheiden, was er will. Gleichzeitig fehlen ihm reale Verbindungen zu anderen Menschen. Er weiß viel, ist jedoch immer weniger an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Lobbyisten, die USA, China und die EU scheinen das eigene Leben mehr zu bestimmen als man selbst. Die Beteiligung der Menschen an Politik und Wirtschaft im Rahmen einer Basisdemokratie könnte ihm seine Wertigkeit zurückgeben. Dies jedoch hat heutzutage den Beigeschmack eines rechtsgerichteten Populismus. Zusätzlich nimmt die Beteiligung in vorpolitischen Gruppen ab: Kein Stammtisch mehr, kaum noch Vereinstätigkeiten. Die Diskussionen verlagern sich in den digitalen Raum, wo sie eher zu Frustrationen führen als die Möglichkeit eröffnen, intensive Gespräche zu führen. Im digitalen Raum jedoch verliert sich der Mensch. Was er sucht, findet er dort nicht: Kein Identität, keine Heimat, keinen Sinn.

Digitale Medien als Mem-Maschine

Wir leben in einer hektischen Welt, in der uns die Maßstäbe für ein lebenswertes Leben aus den Händen zu gleiten scheinen. Wir konsumieren Nachrichten aus aller Welt, um teil zu haben. Dabei verlieren wir den Überblick, was gerade für unser Leben von Bedeutung ist. Die Güte einer Nachricht spielt keine Rolle mehr. Auch nicht, ob sie wahr oder falsch ist, gut oder schlecht. Hauptsache die Nachrichtenflut reißt nicht ab. Und Hauptsache die Mitteilungen sind effektheischerisch genug, um uns emotional zu bewegen. In der Fülle der Nachrichten können jedoch keine Prioritäten mehr gesetzt werden, was für mich wirklich wichtig ist. Die digitalen Medien scheinen uns memetisch zu steuern. Dabei haben wir vergessen, dass wir Menschen die Technik erfunden haben und nicht die Maschinen sich selbst – noch nicht. Dennoch scheinen sie lebendig zu sein. Sie ernähren sich von unserer Aufmerksamkeit. Digitale Medien saugen uns wie schwarze Löcher in sich hinein und verhindern damit ein echtes Leben. Je sensationeller, umso mehr Hingucker gibt es. Hypes putschen Themen hoch, die kurze Zeit später nicht mehr relevant sind. Wir sehen das aktuell an Corona. Die Angst-, Wut-, Frustrations- und Empörungsmaschine läuft auf Hochtouren. Was bisher im „Normalmodus“ lief, scheint alsbald zu implodieren. Die Menschen ermüden. Was gestern noch aktuell war, ist es heute nicht mehr. Das Gehirn kollabiert nicht nur aufgrund der Fülle an Nachrichten, sondern auch aufgrund der Unwichtigkeit. Warum sollte ich heute etwas als wichtig beurteilen, was schon morgen nicht mehr relevant ist? Der digitale Mensch kennt zu viele Oberflächeninformationen. Er wird sogar wissen, was Trump an seinem letzten Tag im Amt gefrühstückt hat. Er weiß jedoch nicht mehr, was ihn selbst als Menschen ausmacht. Er hat den Sinn seines Daseins verloren.

Das Private im öffentlichen Raum

Dabei blicken nicht nur wir in die Medien, sondern auch die Medien in uns. Eine Tageszeitung besaß keine Kamera. Äußerungen, auch politischer Natur, wurden früher im privaten Rahmen mitgeteilt. Heute weiß die ganze Welt, was wer denkt. Das Politische wurde privat und das Private politisch. Und dank Homeoffice kann nun auch mein Chef in meine Wohnung schauen. Dabei muss ich mir gewahr sein, wie viele Informationen ich preis gebe. Ein Mensch mit 1000 Followern auf Instagram muss aufpassen, was er schreibt, um niemanden zu verärgern. Die Äußerung einer Meinung bleibt daher, bis auf Ausnahmen, die einen Shitstorm aushalten, zwangsweise oberflächlich und damit an Mainstream-Meinungen orientiert. Wir tun so, als würde das Internet offene demokratische Auseinandersetzungen fördern. Dabei ist zumindest in offenen Kommunikations-Plattformen genau das Gegenteil der Fall. Echte Auseinandersetzungen finden nach wie vor im Privaten statt.

Das ökonomische Prinzip besitzt keine natürliche Grenze

Im ökonomischen Prinzip gibt es kein gut oder böse, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, sondern lediglich gewinnen oder verlieren, wobei verlieren keine echte Option ist. Das Gewinnen jedoch kennt keine Grenzen. Zwar geht es den meisten Menschen in der nordwestlichen Welt ökonomisch besser als früher. Dennoch sehen sie Tag für Tag in den Medien andere Menschen, denen es noch viel besser geht. Wer sein Glück jedoch alleinig am finanziellen Reichtum festmacht, muss scheitern. Hier gibt es keine natürliche Grenze, ab der der Mensch zufrieden sein kann. Auch Geld ist eine Mem-Maschine, die ernährt werden will. Reich zu sein macht süchtig. Es geht nicht darum, reich zu sein, sondern immer reicher zu werden. Dabei ist das Gegenteil von mehr nicht weniger, sondern genug.

Auflösung des Erfahrungs- und Begegnungsraums

In der Digitalisierung gibt es kaum eine Tiefe des emotionalen Erlebens und der Begegnung. Ich spüre nicht, was mein Gegenüber fühlt. Subjekte werden zu Objekten. Wir dürfen schauen, aber nicht mehr anfassen, zeigen, aber nicht mehr machen. Der Raum zwischen uns, der uns im realen Leben verbindet, ist lediglich ein Bildschirm. Videokonferenznutzer fragen sich häufig, warum es so ermüdend ist, einen Tag lang über Video in Kommunikation zu sein. Die Antwort ist so einfach wie komplex: Eine Videokonferenz spricht nur unser Sehen und Denken an, nicht jedoch unser Fühlen und Spüren. Als Mensch brauchen wir die körperlich spürbare Verbindung zu anderen Menschen, um unser Gegenüber einschätzen zu können und uns selbst zu verorten. Fehlt das Fühlen und Denken und damit unsere Intuition, unser körpereigenes Big-Data-System, wissen wir oft nicht, woran wir sind. Wir bekommen kein intuitives Feedback, keine Rückmeldung woran wir sind und wo wir stehen. Diese Lücken müssen wir in unserem Gehirn denkend ergänzen. Dies kann zu Unsicherheiten, Ärger, Missverständnissen, Ungeduld, Frustration oder Gerüchten führen.

Entgrenzung des zeitlichen Erlebens

Alles, was potentiell erlebbar ist, kann ich jederzeit erleben. Dies führt zum einen zu einer Überforderung, da ich auswählen muss, was genau jetzt für mich wichtig ist. Gleichzeitig führt es zu einer Beliebigkeit. Alles ist gleich wichtig, weil es gleich verfügbar ist. In einer Welt der Verknappung musste ich mich entscheiden. Jetzt kann ich mich nicht mehr entscheiden. Die Auswahl von allem zu jeder Zeit ermüdet den Menschen.

Persönliche Transformationsprozesse in Krisenzeiten

In Krisenzeiten werden wir gezwungen uns mit einer drastischen Veränderung sowie unserem Umgang damit auseinander zu setzen. In der Regel reagieren wir auf die Veränderung aus einem ersten Impuls heraus. Manche spüren automatisch den Impuls des Widerstands. Andere würden am liebsten den Kopf in den Sand stecken, bis alles vorbei ist. Wieder andere haben Vertrauen in diejenigen, die für uns die wichtigen Entscheidungen treffen. Und eine vierte Gruppe versucht sich kritisch mit dem Thema der Veränderung auseinanderzusetzen. Dieser erste Impuls hilft uns dabei handlungsfähig zu bleiben. Für einen tieferen persönlichen Transformationsprozess ist es jedoch sinnvoll, sich intensiver damit auseinander zu setzen, was uns wirklich bewegt, was wir verändern und was wir dafür tun wollen.

Zur persönlichen Reflexion können Sie entweder einzelne Spalten oder die Zeilen dieser Heuristik durchgehen. Ein Springen zwischen Spalten und Zeilen führt aus meiner Erfahrung zu den erhellendsten Erkenntnissen.

Ausgehend von den vier impulsiven Reaktionsmöglichkeiten stellen sich im 1. Transformationsschritt des Abstands die Fragen, wogegen ich rebelliere, worauf ich mich bei mir selbst konzentrieren will und was das Ziel einer Auseinandersetzung mit mir selbst ist, auf wen oder was ich vertraue und mit welchen Themen ich mich kritisch weiter und tiefer auseinandersetzen möchte.

Im 2. Transformationsschritt geht es um die Neugier. Eine tiefere Auseinandersetzung mit meinem Gegen-Über könnte dazu führen, dass ich mir bewusst werde, was an meinem Ärger interessant ist, was ich selbst für ein Mensch bin und welche Rolle ich in meinem Umfeld spiele, woher mein Vertrauen kommt und um welche Themen es in der Veränderung zusätzlich oder wirklich geht. In der Corona-Krise geht es beispielsweise nicht nur um die Krankheit, sondern auch um Debatten zur Gleichbehandlung, Teilhabe, Diskussionskultur, Freiheit, Umweltproblematik, Überwachung, Rolle der Medien, zum Präventivstaat, Umgang mit dem Tod, usw. Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen sind deshalb so schwer zu (be-)greifen, weil in ihnen all diese tiefer liegenden Themen durcheinander auftreten.

Im 3. Transformationsschritt schließlich geht es um die Handlungen. Wogegen will ich konkret aufbegehren? Was will ich an mir verändern? Wie kann ich wieder Vertrauen zu anderen fassen? Was sollte ich dafür tun? Und was kann ich tun, um die Welt so mit zu gestalten, wie ich es für wünschenswert erachte?

Unser Menschenbild

Die Beschäftigung mit unserem Menschenbild lässt mich nicht los. Die Krise zeigt uns, was tief in uns verborgen ist und nur ab und an unter Stress über die Wasseroberfläche lugt. In der Krise wird aus dem Lugen ein kraftvoller Sprung aus dem Wasser. Politiker und Bürger zeigen, wie ihr Menschenbild wirklich aussieht. Haben wir ein positives oder negatives Menschenbild? Mindestens ebenso spannend: Haben wir Vertrauen in Systeme, respektive unseren Staat?

Wer ein negatives Menschen mitbringt und Systemen ebenso kein Vertrauen schenkt, hat Angst davor, in Systemen unterzugehen oder davor, dass dass mächtige Menschen das System ausnutzen.

Wer ein negatives Menschenbild mitbringt, jedoch Vertrauen in Systeme hat, wird versuchen, diese selbst zu nutzen, um den bösen Menschen in seine Schranken zu verweisen. Das Prinzip ist einfach: Der Mensch ist schlecht und muss durch soziale Kontrollen reguliert werden. Damit sind wir beim Bild des Leviathans angekommen.

Wer andererseits ein positives Menschenbild vertritt, jedoch Systemen kein Vertrauen entgegen bringt, glaubt zwar an das Gute im Menschen, allerdings auch daran, dass Systeme den Menschen korrumpieren können, indem sie die Lust an der Macht über andere wecken oder zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst führen, wenn er sich in Aufgaben und Rollen verliert.

Wer schließlich ein positives Menschenbild vertritt und an Systeme glaubt, geht davon aus, dass sie die guten Potentiale des Menschen erst richtig fördern.

Entsprechend unterschiedlich fallen die Glaubenssysteme der vier Quadranten aus:

Wenn wir uns anschauen, welche Menschen sich in den vier Quadranten wieder finden, stoßen wir auf entsprechend unterschiedliche Typen: Die einen ziehen sich von der Welt zurück oder ordnen sich unter. Die anderen nutzen Systeme, um ihre Dominanz auszuspielen. Die dritten träumen den Traum von einer Welt, in der das Individuum in der Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommt. Und die letzten hätten am liebsten so wenige Freiheits-Beschränkungen wie möglich.

All dies führt zu gänzlich unterschiedlichen Verhaltenskonsequenzen:

Wir können nicht einfach aus unserer Haut. Dennoch drängt sich durch die bewusste Beschäftigung mit unserem Menschenbild und unserer Sichtweise auf Systeme die Frage danach auf, ob wir zufrieden damit sind, wie wir die Welt sehen. Oder ob wir etwas daran ändern wollen? An unserer Sicht und an unserem Umgang miteinander?

Ich persönlich habe definitiv mehr Vertrauen in Menschen als in Systeme. Dennoch gibt es Systeme, die eine großartige Arbeit leisten und in denen weniger freiheitsliebende Menschen einen Platz bekommen, zu sich selbst zu finden.