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Die psychotische Gesellschaft, Teil II: Philosophische Ursprünge

Spüren im Jetzt oder Denken in die Zukunft?

Während Geflüchtete in ihrem Land nicht mehr leben können, weil sie verfolgt werden, haben die Menschen im Nordwesten ihre innere Heimat, ihren inneren Kompass verloren. Sie wissen nicht mehr, wofür sie stehen, was gut oder falsch ist. Manche flüchten sich in Autoritäts- oder Wissenschaftsgläubigkeit, andere in Verschwörungstheorien. Die Gesellschaft spaltet sich auf und zieht klare Grenzen. Diese Spaltung der Wahrnehmung der Wirklichkeit wurde durch zwei uralte Philosophien geprägt. Zum einen durch das Transzendente, das davon ausgeht, dass jeder alles werden kann, wohl am stärksten durch Rene Descartes Ausspruch “Ich denke, also bin ich” geprägt. Daraus entwickelte sich der Gleichheitsgedanke. Jeder kann alles werden, was er will. Jeder kann Erfolg haben. Er muss sich nur anstrengen. Jeder hat dieselben Rechte im Leben. Die Idee der Chancengleichheit im Leben ist charmant. Da jedoch in der realen Welt nicht jeder gleich am Leben teilhaben kann, weil die Ressourcen von Anfang an ungleich verteilt sind, lässt sich diese Idee nur zum Teil umsetzen. Zudem negiert das Prinzip der Gleichheit den Respekt vor unseren Unterschieden und damit vor der Schönheit des Individuellen. Jeder einzelne Mensch muss seinen eigenen Anteil am Leben suchen. Hat jedoch jemand nicht den Anteil am Leben, der ihm versprochen wird, kann er die Schuld daran an der Gesellschaft suchen, die ihn daran hindert oder an sich selbst. Früher ging die Wut nach innen. Im Zeichen der Cancel-Culture-Debatte geht die Wut nach außen.

Die zweite Theorie, die letztlich auf Aristoteles zurückgeht, nimmt an, dass wir alle unterschiedlich sind. Sie ergänzt den theoretischen Gedanken der Gleichheit um die Erfahrung in der individuellen Realität. Wenn jedoch alle Menschen verschieden sind, haben sie unterschiedliche Chancen, am Leben teilzunehmen und Erfolg zu haben. Die unterschiedlichen Ressourcen werden bestimmt durch die Körperkraft, das Aussehen, das Auftreten, das Geburtsland, die vorhanden Finanzen, Unterstützer, usw. Während die Theorie der Transzendenz folglich in einer geistigen Zukunft der Möglichkeiten spielt, orientiert sich die Theorie der Individualität an im weitesten Sinn körperlichen Begebenheiten im Hier und Jetzt. Utopie versus Realismus. Notwendigkeit versus Träume. Spüren versus Denken. Endlichkeit versus Ewigkeit. Sein versus Entwicklung.

Treffen sich die beiden Aspekte der individuellen Durchsetzung mit den potentiellen Chancen haben wir die extreme Form des “american way of life” bzw. des Neoliberalismus oder -kapitalismus. Mach was aus deinem Leben, bevor es andere tun.

Während die Individualisten die positive Vision der Emanzipation und Weiterentwicklung jedes einzelnen Menschen verfolgen, träumen die Transzendenz-Anhänger von der großen mythischen Erzählung, die alle Menschen miteinander verbindet.

Beide Philosophien könnten uns stabilisieren. Die Rückbesinnung auf das eigene Leben und die eigenen Bedürfnisse ebenso wie gemeinsame kulturell verbindliche Werte. In einer rastlosen Welt scheint beides abhanden gekommen zu sein. Kulturelle Werte diffundieren ebenso wie der Bezug zu sich selbst. Stattdessen verlieren wir uns im Denken der Möglichkeiten und schaffen es nicht mehr, zu bewerten, was uns wirklich wichtig ist. Uns fehlt die Regulation im Leben. Alles kann, nichts muss.