Alle Beiträge von Michael Hübler

Wenn Perfektionismus zu Konflikten führt

In einer Welt, in der jeder einzelne aufgrund von Testverfahren und Methoden, von denen wir früher nur träumen konnten, immer detaillierter weiß, wo der Hase lang läuft, sind Konflikte vorprogrammiert. Das lässt sich am einfachen Zusammenspiel zwischen Mann und Frau verdeutlichen: Wenn der Mann sagt, der Junge muss männlicher werden und alles dafür tut, seinen Sohn in der Jagd auszubilden, wird er schnell mit seiner Frau in einen Clinch geraten, weil seine Frau der Meinung ist, der Junge muss empathischer werden, weil er es sonst in einer Welt, in der wir miteinander reden müssen, schwer haben wird. Ich greife auf dieses zugegeben extrem vereinfachende Beispiel zurück, um zu verdeutlichen, dass ein sehr empathischer Mensch sich schwer damit tun wird, ein Reh aufs Korn zu nehmen, während ein auf Jagdinstinkte gedrillter Mensch sich mit Empathie schwer tun wird.

Mann und Frau wurden aus dem Paradies vertrieben, weil sie erkannten, wie unterschiedlich sie sind. Im Garten Eden waren sie bis zum folgenreichen Apfelbiss eins. Über die Frage ob dieser glückseelige Zustand von der Bibel tatsächlich ernst gemeint ist oder lediglich das Eins-Sein mit Gott symbolisch darstellen soll, lässt sich trefflich philosophisch streiten. In der realen Welt jenseits paradiesischer Zustände befinden wir uns in einer Welt der Gegensätze: Mann-Frau, Krieg-Frieden, Schwarz-Weiß, An-Aus, Positiv-Negativ, Reich-Arm, usw. Diese Liste ist endlos und bestimmt meinen mediativen Alltag. Auch in der Corona-Krise bestimmen Gegensätze den Diskurs: Eltern-kinderlos, Nähe-Distanz, Stadt-Land, Links-Rechts und natürlich Perfektionismus-Ganzheitlichkeit.

Wären wir noch im Paradies, gäbe es zwar keine Aufklärung und kein Wissen, jedoch auch keine Konflikte. Offensichtlich machen schlangenartige Erkenntnisse klug, aber nicht unbedingt glücklich. Alle Menschen wären gleich und müssten über nichts diskutieren. Es herrschte Frieden auf Erden, vielleicht ja unter der Aufsicht einer Weltreligion und Weltregierung, die allen Menschen vorgeben würde, was wir zu tun und was wir zu lassen hätten. Vermutlich wären wir glückselig. Deshalb sagte Jesus wohl: Selig sind die Einfältigen (Matthäus 5, 3). Denn sie sind nicht vielfältig und müssen daher nicht miteinander streiten.

Dass eine solche Friedhofsruhe in unserem Leben nicht möglich ist, sehen wir tagtäglich. Sobald Annegret sagt: Ich mag monochrome Bilder, begehrt Heinrich auf, weil er seine Bilder viel lieber in Farbe hat. Wenn wir Diversität und Vielfalt ernst nehmen, akzeptieren wir gleichzeitig Konflikte. Annegret und Heinrich könnten sich streiten … oder zu einem Modus der Wechselseitigkeit kommen. Ein vielfältiger Konflikt lässt sich niemals im Moment auflösen, sondern erst durch die Dimension der Zeit. Deshalb legen Mediatoren so viel Wert auf einen sauber durchgeführten Mediations-Prozess. Natürlich könnten sich Annegret und Heinrich zwei Kameras kaufen und jeder schießt seine Bilder für sich. Damit hätten sie den Konflikt durch eine Aktion der Trennung befriedet. Ganz zufrieden werden sie damit nicht sein. Dies wird ihnen spätestens dann klar, wenn sie symbolisch gemeinsam auf einem Foto sein wollen. Erst wenn Annegret und Heinrich sich darauf einigen, ihre Bilder mal schwarz-weiß und mal bunt anzufertigen oder sie nachträglich so zu bearbeiten, wie jeder es gerne möchte, ist eine Lösung möglich. Genau dieses ‚Mal so, mal so‘ oder ’nachträglich‘ verdeutlicht die Prozesshaftigkeit der Konfliktlösung. Damit wird allerdings auch deutlich, dass eine Konfliktlösung schwer herzustellen ist, wenn jeder der beiden perfektionistisch auf seiner Vorgehensweise beharrt.

Das gleiche Prinzip sehen wir in der aktuellen C-Krise. Während die eine Seite der Virologen immer mehr Details erforscht über die Streuwirkung von Aerosolen und die Anzahl der Viren, die wir täglich auspusten, ziehen die Seiten der Kinder- und Altenrechtler Erkenntnisse aus dem Hut, die uns daran erinnern, dass der Mensch mehr braucht als nur einen Schutz vor sich selbst. Mikrobiologen sprechen davon, dass unser Immunsystem den Mikrobentausch mit anderen braucht. Und Psychologen erinnern an die alten Studien mit den Pseudoaffen von Harry Harlow Ende der 50er Jahre (siehe https://www.dasgehirn.info/handeln/liebe-und-triebe/liebe-ein-grundnahrungsmittel oder https://www.youtube.com/watch?v=OrNBEhzjg8I).

In der Diskussion um den richtigen Weg aus der Krise wird von Virologen angemahnt, dass es nun in Deutschland 80 Millionen Hobby-Virologen gibt. Dieser Vorwurf greift jedoch zu kurz, da es vielmehr um die Frage der Diversität in der Meinungsbildung geht.

Es fällt schwer zu akzeptieren, dass man selbst von seinen Erkenntnissen ein Stück Abstand nehmen muss, um gemeinsame Lösungen zu erreichen. Die Realität unseres dualistischen Lebens der Gegensätze zeigt uns jedoch, dass wir nicht nur mit dem Virus leben müssen, sondern auch mit unterschiedlichen Meinungen, Wahrheiten und Erkenntnissen. Toleranz im Sinne eines Aushaltens fremder Erkenntnisse bedeutet in diesem Sinne die Wertschätzung des perfektionistischen Bemühens jeder Seite ohne den gemeinsamen Konsens aus dem Blick zu verlieren.

Auch wenn jeder in seiner eigenen kleinen Welt zu 100% recht hat, gilt es in der Gemeinschaft Einigungen anzustreben. In diesem Wort der Einigung schwingt zumindest ein kleiner Funke unseres ursprünglichen Paradieses mit.

Die Offene Gesellschaft

In der aktuellen Krise prallen die gegenteiligen Meinungen immer stärker aufeinander. Arztpraxen opponieren gegen Virologen und das RKI. Auf letzteres scheinen einige aufgrund manch kostspieliger Vorgaben bei der Führung ihrer Praxen ohnehin schlecht zu sprechen zu sein. Ältere Menschen verbieten sich Eingriffe in ihre Freiheitsrechte. Kinder bekommen einen festen Platz auf dem Schulhof zugewiesen, von dem sie sich nicht entfernen dürfen, was deren Freiheitsrechte beschränkt und damit Kinderschutzgruppierungen auf den Plan ruft.

Es vergeht kein Tag ohne ein neues Detail im Tanz um die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft.

Auf der Suche nach Lösungen aus diesem gesamtgesellschaftlichen Drama stieß ich auf zwei Artikel im Deutschlandfunk (Eins und Zwei), worauf ich auf den Begriff der Offenen Gesellschaft aufmerksam wurde. Als bis dato eher unpolitischer Mensch (mit Meinung, aber inaktiv) hatte ich mich damit bisher nur am Rande beschäftigt. Letztlich werden dabei jedoch genau die Prinzipien, die in progressiven, demo-, holo- oder soziokratischen, agilen und schwarmintelligenten Unternehmen eingesetzt werden auf die gesamte Gesellschaft übertragen.

Die Offene Gesellschaft galt dem Sozialphilosophen Karl Popper nach 1945 als ideales Modell einer kritischen Gesellschaft, die auf dem Boden einer funktionierenden Demokratie stehend stetig dabei ist, gesellschaftliche Ziele und Wege offen auszudiskutieren. Streitbar, ohne jedoch anderen Parteien das Recht zur Meinungsäußerung abzusprechen. Dies wird in einem gewichtigen Ausspruch einer Offenen Gesellschaft treffend auf den Punkt gebracht:

Auch wenn ich nicht deiner Meinung bin, tue ich alles dafür, dass du deine Meinung äußern kannst.

Die Grundbedingung einer Offenen Gesellschaft ist der mündige Bürger beziehungsweise der Glaube an ein humanistisches Menschenbild, in dem jeder Mensch grundsätzlich danach strebt, sich weiterzuentwickeln und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten positiv an der Gesellschaft zu beteiligen. Es ist kein Wunder, dass in diesen turbulenten Zeiten auch das Grundeinkommen wieder einen neuen Schwung bekommt, zumal es auf demselben Gedanken fußt beziehungsweise aufgrund eines negativen Menschenbildes noch nicht in Deutschland eingeführt wurde.

Der Autor Stefan Brunnhuber überträgt in seinem Buch „Die Offene Gesellschaft“ die Ideen und Prinzipien von Karl Popper in das 21. Jahrhundert und postuliert 22 Merkmale einer Offenen Gesellschaft, die ich hier in sechs Prinzipien zusammenfasse:

  1. Eine Offene Gesellschaft orientiert sich an einer nachhaltigen Zukunft und nicht an Machbarkeiten und Prinzipien der Vergangenheit.
  2. Eine Offene Gesllschaft ist stetig im Wandel, auf der Suche nach einem tragfähigen gesellschaftlichen Konsens.
  3. Eine Offene Gesellschaft, in der die Bürger offen um und über die Zukunft streiten ist der beste Garant dafür, möglichst wenige Fehler zu machen und Irrtümer nicht zu wiederholen. Kritik wird in diesem Sinne nicht negativ betrachtet, sondern ist wichtig, um die beste aller Welten anzustreben.
  4. Gesellschaftliche Probleme lassen sich nur durch mehr Wissen und nicht durch die Fokussierung auf weniger Wissen lösen. Deshalb sind öffentliche wissenschaftliche Diskurse als freundschaftlicher Wettbewerb essentieller Bestandteil einer Offenen Gesellschaft.
  5. Die Offene Gesellschaft wird nicht von einer Weltregierung geführt, sondern entsteht durch das Binnenverhältnis souveräner Staaten zueinander. Damit wird gewährleistet, dass Staaten beispielsweise im Umgang mit einer Krise voneinander lernen können. Abweichler in einer Krise werden daher nicht als schlecht kritisiert, sondern bieten stattdessen ein Gegenmodell, über das diskutiert werden sollte.
  6. Feinden der Offenen Gesellschaft wie Verschwörungsmystikern, Autokraten, Reduktionisten oder totalitären Denkern wird entschieden entgegen getreten.

Ob Deutschland dazu bereit ist, weiß ich nicht. Wer seinen Blick nach Schweden richtet, das von der WHO für seinen Sonderweg des Vertrauens in die Gemein- und Gesellschaft gelobt wurde, weiß jedoch, dass ein solcher Weg möglich ist. Eine Utopie ist es allemal. In diesem Sinne ist wieder einmal der viel zitierte Spruch von Willi Brandt angebracht: Mehr Demokratie wagen.

Auch wenn Kompromisse niemals perfekt sein werden, sodass jeder Bürger zu 100% zufrieden sein wird, zumal dies in der aktuellen Krise ohnehin ausgeschlossen werden kann, alleine wenn wir an die Diskrepanz zwischen Nähe und Distanz denken, bietet die aktuelle Krise eine Chance, es mit Hilfe einer Offenen Gesellschaft dennoch zu versuchen und anhand der aktuellen Situation an sich zu wachsen und für sich nach der Krise ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis zu entwickeln.

Umgang mit extremen Meinungen

Je größer die Ängste werden, desto größer werden die im Netz aufgefahrenen Geschütze. Da ist von Mord die Rede, wenn Impfkritiker sich nicht impfen lassen. Gleichfalls könnte die Gegenpartei von Mord sprechen, wenn wir die Einsamkeit alter Menschen in Pflegeheimen betrachten. Manche wünschen sich sogar eine Erhöhung der Fallzahlen aufgrund der Demonstrationen, damit die andere Seite endlich merkt, wie ernst es ist. Bildchen mit der Ziehung der Infektionszahlen durch das RKI machen die Runde.

Andere zu überzeugen funktioniert nicht. Auch nicht mit lustig gemeinten Bildern oder kurzen Animationen, die ein schamvolles Gesicht zeigen, um der Gegenseite zu verdeutlichen, wie dumm ihr Verhalten doch ist und dass sie sich bitte schämen sollte. Scham ist genauso unangenehm wie Angst und wird nicht selten zu Wut. Damit ist nichts gewonnen. Was humorvoll gemeint ist oder aus Hilflosigkeit eingesetzt wird, damit die Gegenseite es endlich kapiert, schraubt die Eskalationsspirale nur noch höher.

Marshall Rosenberg meinte einmal: Du kannst recht haben oder glücklich sein. Beides zusammen wird schwierig.

Mediale Lagerbildungen

Wenn die Ängste zunehmen, werden auch die Mittel drastischer, die jeweils andere Seite zu überzeugen. Die Medien tun ihr übriges, um die Lagerbildung voran zu bringen. Wir Deutschen kennen das kaum. Wir hatten noch kein Brexit-Trauma, allenfalls regionale Stuttgart21-Erfahrungen. Wir haben glücklicherweise kein Zweiparteien-System, das zu einer Spaltung der Bevölkerung führt wie in den USA oder in Großbritannien. Vielleicht ist es gerade jetzt ein Problem, dass eine große Koalition in der Regierung sitzt. Dennoch leben wir immer noch in einer Demokratie mit einem mittlerweile wieder lebendigeren Parlament. Manche wünschen sich eine andere Ausrichtung unseres Gesundheitswesens und begreifen die aktuelle Situation als Möglichkeit der Weichenstellung. Weg von einem mechanistischen Denken des Pillenschluckens und Impfens, hin zu einem ganzheitlicheren Gesundheitsdenken jenseits des Pharmalobbyismus. Wir leben in einem fortschrittsgläubigen System, in dem vielleicht der Mensch an sich aus dem Blick gerät. Wir leben jedoch nicht in einer Gesundheitsdiktatur, zumindest solange jeder Mensch selbst entscheiden kann, wie er gut für sich sorgt.

Die Medien berichten nicht so, wie es sich manche wünschen. Eine gewisse Einseitigkeit wurde bereits Anfang April vom Evangelischen Pressedienst angemahnt. Dennoch leben wir nicht in einer Meinungsdiktatur. Es gibt kritische Artikel aus dem Fokus, Spiegel, Deutschlandfunk oder Freitag, um die bekanntesten zu nennen. Und Dieter Nuhr schüttet regelmäßig zünftige Kritik über der Regierung und das RKI aus.

Wir sind vielfältig

Deutschland scheint derzeit aus zwei Lagern zu bestehen: Den Maßnahmengegnern und den -befürwortern. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies jedoch nicht:

  • Es gibt sanfte Kritiker, die sich nicht äußern,
  • starke Kritiker, die auf die Straße gehen,
  • Menschen, die sich solidarisch zu den Risikogruppen positionieren und andere die sich solidarisch zu Maßnahmengefährdeten positionieren,
  • rechte Krawallbrüder und -schwestern,
  • radikale Impfgegner und Impfkritiker, die Angst vor einem zu kurz getesteten Impfstoff haben,
  • Menschen, die ihren Job verloren haben und andere, die ihn noch haben,
  • Systemrelevante und Systemirrelevante,
  • Dauerbelastete im Gesundheitswesen und andere, die ihren erzwungenen Kurzurlaub genießen,
  • alte Menschen, die Angst um ihre Gesundheit haben und junge Menschen, die Angst um unseren Planeten haben,
  • Selbständige, Künstler, Gaststättenbetreiber, etc., die nicht wissen, wie es weitergeht und andere, deren Zukunft gesichert ist.

Die „Lager“ sind wesentlich vielfältiger als sie oftmals dargestellt werden. Viele Medien machen hier nicht gerade einen mediativen Job.

Was also tun?

Was können wir tun, um wieder zu erkennen, dass wir mehr sind als nur einem Lager zuzugehören?

Denken wir an die Reproduktionszahl des RKI. Wenn jeder und jede von uns einen Zugang zu einer Person findet, ist bereits viel gewonnen. Hier geht es jedoch nicht darum, die Gegenseite zu überzeugen, sondern darum, ihr sein Verständnis zu schenken. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten von uns Extremisten sind. Ein Austausch, ein offener Diskurs sollte also möglich sein.

Anstatt meine Meinung zu äußern kann ich eine Frage stellen. Ich kann mich nach den Sorgen meines Gegenübers erkundigen. Ich kann meine eigenen Sorgen äußern. All das sind Angebot, die aus meiner Erfahrung meistens angenommen werden.

Im Netz ist das nicht immer einfach. Die Ängste, die wir haben, werden durch die Bildung von Lagern paradoxerweise nicht reduziert, sondern verwandeln sich in einen Kampf darum, wer recht hat. Warum also nicht 2-3 mal die Woche zum Telefonhörer greifen und einen Freund oder eine Freundin anrufen, mit dem oder der wir derzeit fremdeln?

Wir haben alle Angst. Sprechen wir darüber.

Die magische Zahl

Es war einmal ein Land, indem viele kleine Männchen und Weibchen lebten und ihrem fröhlich-fleißigen Tagewerk nachgingen. Eines Tages wurde das Land bedroht durch eine böse Krankheit. Es galt ein Weh und Ach allerorten, denn der Landesmagier Christianus sagte, es würde ganz schlimm werden und viele von uns müssten sterben.

Königin Angelina I., im ganzen Land als fürsorgliche Mutti bekannt, ergriff das Wort und sprach zu ihrem Volke: „Habt keine Angst, mein Volk, denn wir haben ja den Christianus. Der erklärt uns ganz genau, was zu tun ist. Zudem hat Christianus einen Gehilfen namens Lothar, der ein gar fleißiger Mann ist, genau wie ihr. Und den Johannes haben wir auch. Der ist zwar noch grün hinter den Ohren und auch ein wenig ungestüm. Aber der wird schon machen, was ich will. Damit am Ende alles gut wird.“ Der Lothar hieß eigentlich Konrad, aber das hatte die Königin schon immer verwechselt. Und den Johannes nannten alle Jens, weil er noch zu jung für einen Johannes war.

Der Johannes jedenfalls bedankte sich darauf hin bei der großen Königin, preschte nach kurzem Zögern eilig voran, um ein paar Gesetze zu erlassen, die es einfacher machen würden, mit der bösen Krankheit umzugehen. Das Volk raunte, wo denn die weise Königin bliebe, denn der Johannes ist doch noch so jung, riefen sie. Daraufhin meldete sie sich nach einer Woche zu Wort mit hoheitlichen und beruhigenden Worten: „Vertraut mir, liebes Volk. Ich weiß, was zu tun ist, denn ich bin ja von Haus aus etwas ganz Ähnliches wie der Christianus. Und den Johannes könnt ihr auch wieder vergessen. Der will nur spielen.“

Alldieweil wurden tagtäglich Zahlen über Zahlen im ganzen Lande verlesen, damit das Volk stets wusste, wie schlimm es aktuell um es stand. Das Volk verstand das alles nicht wirklich, hatte aber zum einen große Angst vor der bösen Krankheit und zum anderen tiefes Vertrauen in seine Königin.

Als die böse Krankheit immer schlimmer wütete, berief die große Königin einen Stab weiser alter Männer ein, um zu beraten, wie es weitergehen solle und die Nachricht darüber im ganze Lande zu verkünden. Da begann ein wildes Hin und Her und Auf und Ab, denn die weisen alten Männer waren sich gar uneinig. Die einen sagten so und die anderen so. Alsbald begann auch der weise Christianus in Rätseln zu sprechen. Und der fleißige Konrad war auch keine Hilfe. Denn Konrad sprach nur in Zahlen und die Menschen dort draußen riefen: „Wir verstehen keine Zahlen! Sprich in Worten zu uns!“

Die Männchen und Weibchen dort draußen, die von der Königin liebevoll Kinderlein genannt wurden, begannen darauf verwirrt im Hirne zu werden. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und riefen: „Was sollen wir denn nun tun, kluge Königin? Wir werden noch ganz kirre.“

Und auch die Postillen im Lande waren keine Hilfe. Die einen schrieben so, die anderen so. Wer sollte sich in diesem Tohuwabohu zurecht finden?

Als die Königin schon beinahe ratlos war ob der großen Verwirrung im Land, kam der starke Marcel, der verschollen geglaubte König des Landes von einem jahrelangen Feldzug im Auslande zurück und staunte nicht schlecht: „Was ist denn hier los? Habt ihr noch alle beieinander?“ Er redete so, weil er die Sprache des Feldes gewohnt war.

Die Königin atmete spürbar auf, sodass im ganze Lande wieder Ruhe einkehren konnte. Denn der im Felde gestählte Marcel, der zuhause ein Plakat des Kriegsgottes Mars hängen hatte, gab nun den Ton an, auf dass Gesetze erlassen wurden, die mehr oder weniger klar regelten, womit die böse Krankheit in ihre Schranken gewiesen werden konnte. Der starke Marcel haderte ein wenig mit seinem Namen. Er hätte viel lieber Markus geheißen. Doch seine Eltern waren leider Liebhaber französischer Chansons.

Ungeachtet seines Namens waren seine Gesetze unbarmherzig, durfte sich doch nun niemand mehr küssen, womit sich die Menschen so gerne beschäftigten. Selbst eine Umarmung stand unter Strafe. Zudem war es verboten, seine vier Wände zu verlassen, außer zum Zwecke der Arbeit und des Einkaufens. Das Volk verstand das zwar nicht wirklich, doch wenn der starke Marcel es sagte, musste es wohl stimmen.

In manchen Ecken des Landes bildeten sich zwar kleine Zentren des Widerstands, denn den Marcel mochten einige noch nie leiden, weil er oft so polterig daher kam. Das war manchen Menschen nicht geheuer. Andere hingegen wollten einfach eine Pizza mit Freunden essen und verstanden nicht, warum das nun nicht mehr ginge. Zudem kam auch der Johannes in seinem jugendlichen Leichtsinn immer wieder mit seltsamen Vorschlägen zur Eindämmung der Krankheit um die Ecke. Ein Wunder, dass es dennoch einige Zeit gut ging.

Nach ein paar Wochen jedoch begannen die Berater der Königin mit den Hufen zu scharren. Manche hatten selbst schon einen Blick auf den Thron geworfen und waren nun neidisch auf den starken Marcel. Hatten sie doch gehofft, er wäre im Kriege gefallen. Sie begannen, ihre eigenen Pläne zu schmieden, worauf sie das Volk erneut in Verwirrung stürzten. Immer mehr Menschen liefen durch die Straßen und fuchtelten mit wilden Handbewegungen um Gesicht und Kopf herum. „Königin, Königin“, riefen sie, „sprich ein Machtwort!“. Und die Königin sprach: „Schluss mit diesen Diskussionsorgien! Wir sind hier doch nicht im Kindergarten!“.

Da meldeten sich der Hausmagier Christianus und sein Gehilfe Konrad zu Wort. Die wollte allerdings niemand mehr hören. „Ihr könnt mich mal gerne haben“, sprach der weise Christianus daraufhin, setzte sich beleidigt ins Ausland ab und gab fortan nur noch Interviews für fremdländische Gazetten. Der Konrad wollte eigentlich mit. Auch er hatte die ganze Sache mit diesem unzufriedenen Volk satt, war jedoch aufgrund eines Knebelvertrages verpflichtet, jeden Morgen seinen Bericht zur Lage der Nation abzuliefern. Er war noch nie ein sonderlich emotionaler Typ, nun war ihm jedoch jedes Lächeln abhanden gekommen.

Die Königin jedoch zitierte ihre Berater zu sich und sprach: „Freunde der Sonne, so nicht.“ Die Freunde der Sonne gaben klein bei, denn die Königin konnte, das wussten sie wohl, trotz ihres fortgeschrittenen Alters hinter verschlossenen Türen Gift und Galle über die Abtrünnigen ausspeien. Da bekamen sie es mit der Angst zu tun.

Zuhause angekommen wurden die Berater allerdings von dem bösen Virus des Mitgefühls ergriffen. Die Menschen vor Ort zerrten an den Mänteln der weisen Männer, als diese durch die Gassen Ihrer Heimat spazierten. Die einen wollten dies, die anderen das. Da bekamen die weisen Berater Mitleid mit den Menschen. Zudem hatten sie Angst. Was, wenn es doch nicht so schlimm käme, wie unser Christianus, der Landesmagier sagte? Was, wenn unsere Städte aussterben? Was passiert mit all den Kindern, die zuhause nicht anständig lernen wollen? Werden sie dies jemals wieder aufholen? Und was passiert mit den alten Menschen, die keinen Besuch mehr bekommen? Sie wurden doch so gerne von ihren Enkeln geherzt. Und sieh her, die Menschen gehen schon auf die Straße und stellen Stühle des Protestes auf die leeren Plätze. Nun schwirrte auch den weisen Beratern der Kopf. Sie sprachen: „Das klang schon gut, letzte Woche bei der Königin. Aber wir machen das jetzt doch anders.“

Als der starke Marcel dies hörte, erzürnte er gar grausig und rief: „Habt‘s ihr noch alle beieinander!“ Dies rief er schließlich schon einmal. Und damals half es. Doch dieses mal erstarb sein Ruf wie ein Schrei in der Wüste. Weil er jedoch so wütend war, verordnete er dem ganzen Königreich eine Maskenpflicht. Die Bürger riefen darauf Juchee und Jubilee, seltsamerweise, endlich was zum anfassen, und begannen fröhlich drauf los zu schneidern, sodass bald jeder sein individuelles Exemplar besaß.

Der nun ein wenig verwunderte Marcel zitierte den Schreiber seiner Hauspostille zu sich und sprach: „Schreib, du Schreiberling. Ich verlängere die Maßnahmen zur Eindämmung der bösen Seuche. Gleichzeitig lockere ich die Maßnahmen.“ Der Schreiberling erfragte den Sinn hinter dem Ganzen, worauf der nun wiedererstarkte Marcel antwortete: „Nicht denken. Schreiben.“ Den abtrünnigen Beratern jedoch schrieb er ins Stammbuch: „Macht doch, was ihr wollt! Wenn es hart auf hart kommt, fahr ich eben wieder in den Krieg im fernen Außenlande.“

Die Berater flohlockten daraufhin: „Super! So machen wir‘s. Dann werden wir zuhause wenigstens nicht gesteinigt. Und das mit den Masken schwitzt sich ohnehin aus.“ Als Geschenk einigten sie sich mit König und Königin auf eine Zahl, von der niemand so recht wusste, woher sie kam. Die Legende sagt, sie hätte auf dem letzten Brief vom ausgewanderten Christianus gestanden, sozusagen als Vermächtnis. Ob das stimmte, wusste jedoch niemand. Die Zahl lautete 50, wurde als Symbol mannshoch in Bronze gegossen und für jedermann und jederfrau einsichtig als Mahnmal vor dem Königspalast aufgestellt. Zur feierlichen Enthüllung der magischen Zahl traten Königin, König und die Berater in nie dagewesener Einheit vor das Volk und verkündeten: „Diese magische Zahl wird uns durch Licht und Schatten leiten, auf dass wir in der Zukunft immer wissen, was zu tun ist.“

Als das Volk dies hörte, war es wieder beruhigt. Mit Zahlen konnte es zwar immer noch nichts anfangen. Doch wenn sich alle wichtigen Menschen dieses Landes auf so eine Zahl einigen konnten, musste wohl was dran sein an der Magie der 50.

Ein paar meckerten wie immer. Blöde Zahl. Warum 50? Die üblichen Verdächtigen eben. Es ging sogar die Mär um, es hätte sich eine Partei der Abtrünnigen gegründet.

Die Postillen des Landes jedoch wollten es genauer wissen und eumelten, noch bevor die Königin „Schweigt Stille!“ rufen konnte: „Ja, nun? Was soll denn diese Zahl bedeuten? Vielleicht die Entwicklungszeit des ominösen Impfstoffes in Tagen, Monaten oder gar Jahren?“ Worauf die Königin, mittlerweile schon recht angesäuert zurückeumelte: „Ja. So ist es.“ Und weil die Schreiberlinge des Landes wussten, dass hier das Ende der Fahnenstange königlicher Geduld erreicht war, schwiegen sie Stille.

Das Hin und Her der Obersten ging noch einige Zeit weiter, solange bis niemand mehr wusste, warum diese Zahl ursprünglich in Bronze gegossen wurde und was sie zu bedeuten hatte. Der Königspalast war zu dieser Zeit schon lange nicht mehr bewohnt. Nach und nach verfiel er. Könige und Königinnen gab es ebenso nicht mehr. Das Land schien sich irgendwie selbst genug. Zudem gab es kaum noch etwas, was zu tun gewesen wäre. Das Land war verödet. So weit das Auge reichte, gab es nur noch Wüstensand mit ein paar wenigen Oasen. Das einzige Übrige war die Bronze-Zahl, die immer noch stolz im Zentrum des Landes als Mahnmal für die Ewigkeit prangte.

Die Menschen des Landes entwickelten sich evolutionär zurück. Sie schrumpften zusammen, bis sie schließlich zu Einzellern wurden, um das Land von Neuem zu bevölkern. Aber das ist eine andere Geschichte.

ENDE

Perfekte neue Welt

Als ich als kleiner Junge zum Arzt ging, schaute mir der in den Mund, in die Augen, er klopfte meinen Rücken ab und stellte seine Diagnose. Damit lag er meistens richtig. Zumindest ging ich beruhigt nach Hause. Heute verfügen v.a. Spezial-Ärzte über ein ausgeklügeltes Instrumentarium an Technik, mit dem sie Sachen finden, die vorher gar nicht da waren. Allen voran der Segen des MRTs. Dort werden selbst die kleinsten Punkte sichtbar und müssen daher interpretiert werden. Wer heute gesund zum Arzt geht, nimmt einen Koffer voller Sorgen mit nach Hause.

Manche Ärzte klagen deshalb, dass sie mittlerweile zu viel wissen und dabei den Blick für das Wesentliche verlernen. Den Blick für den Patienten.

Ähnliches erleben wir gerade bei dem großen C. Es gibt Dinge, die wir wissen, während wir andere Dinge nicht wissen. Wir messen alles, was nicht bei drei auf dem nächsten Baum ist. Mit C-Viren leben wir schon seit vielen Jahren. Wirklich gemessen oder sogar als Live-Ticker zubereitet wurden sie bis jetzt nie. Dabei wissen wir immer noch nicht genug, auch wenn unser Perfektionismus uns befiehlt, immer mehr darüber herauszufinden.

Was sich nicht messen lässt, bleibt unter dem Radarschirm. Es gibt keinen medizinischen Test für Einsamkeit im Pflegeheim und keinen für Depressionen mit Suizidgefahr. Auch die Wahrscheinlichkeit eines Herzproblems in den nächsten Tagen lässt sich lediglich schätzen. Hier kommen Heuristiken und Wahrscheinlichkeiten zur Anwendung.

Fluch und Segen der Naturwissenschaften ist es, durch immer genauere Tests immer perfekter zu werden. Geisteswissenschaften fehlt eine solche Orientierung. Sie arbeiten grundsätzlich mit Unwegbarkeiten, weshalb sie in den letzten Jahren v.a. im Umgang mit einer volatilen, unsicheren, komplexen und ambigen (mehrdeutigen) Umwelt, der sogenannten VUKA-Welt, an Bedeutung gewannen. Während Naturwissenschaftler in ihrem Bereich perfekt sind, sind Geisteswissenschaftler im Umgang mit unklaren Situationen perfekt.

Bei all der Perfektion stellt sich die Frage, ob wir damit nicht den Blick für das Wesentliche aus den Augen verlieren. Was also ist das Wesentliche bei der Bekämpfung des bösen Cs? Geht es um das Virus? Oder nicht in Wirklichkeit um den Menschen? Vielleicht geht es darum, dass wir gut miteinander auskommen. Oder darum, dass ältere Menschen nicht aus Angst vor dem Virus weggesperrt werden.

Und was, so fragt man sich, wünscht sich der Mensch? Wünscht er sich Schutz vor dem Virus? Oder ein würdevolles Leben? Wünscht er sich desinfizierte Spielplätze? Oder ein Kinderlachen? Meine Mutter erzählte mir heute am Telefon: Sie lief gestern an einem Pflegeheim vorbei. Hinter den Fenstern standen die Insassen und draußen, auf der anderen Straßenseite, die Angehörigen, beide mit einem Telefon in der Hand. Sie musste wegschauen, sagte sie, weil es zu grausam ist.

Ab morgen dürfen wir meine Eltern wieder besuchen. Meine Mutter fragte: Aber eine Umarmung geht noch nicht, oder? Nein, das geht noch nicht.

Was wünschen Sie sich am sehnlichsten?