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Wenn Perfektionismus zu Konflikten führt

In einer Welt, in der jeder einzelne aufgrund von Testverfahren und Methoden, von denen wir früher nur träumen konnten, immer detaillierter weiß, wo der Hase lang läuft, sind Konflikte vorprogrammiert. Das lässt sich am einfachen Zusammenspiel zwischen Mann und Frau verdeutlichen: Wenn der Mann sagt, der Junge muss männlicher werden und alles dafür tut, seinen Sohn in der Jagd auszubilden, wird er schnell mit seiner Frau in einen Clinch geraten, weil seine Frau der Meinung ist, der Junge muss empathischer werden, weil er es sonst in einer Welt, in der wir miteinander reden müssen, schwer haben wird. Ich greife auf dieses zugegeben extrem vereinfachende Beispiel zurück, um zu verdeutlichen, dass ein sehr empathischer Mensch sich schwer damit tun wird, ein Reh aufs Korn zu nehmen, während ein auf Jagdinstinkte gedrillter Mensch sich mit Empathie schwer tun wird.

Mann und Frau wurden aus dem Paradies vertrieben, weil sie erkannten, wie unterschiedlich sie sind. Im Garten Eden waren sie bis zum folgenreichen Apfelbiss eins. Über die Frage ob dieser glückseelige Zustand von der Bibel tatsächlich ernst gemeint ist oder lediglich das Eins-Sein mit Gott symbolisch darstellen soll, lässt sich trefflich philosophisch streiten. In der realen Welt jenseits paradiesischer Zustände befinden wir uns in einer Welt der Gegensätze: Mann-Frau, Krieg-Frieden, Schwarz-Weiß, An-Aus, Positiv-Negativ, Reich-Arm, usw. Diese Liste ist endlos und bestimmt meinen mediativen Alltag. Auch in der Corona-Krise bestimmen Gegensätze den Diskurs: Eltern-kinderlos, Nähe-Distanz, Stadt-Land, Links-Rechts und natürlich Perfektionismus-Ganzheitlichkeit.

Wären wir noch im Paradies, gäbe es zwar keine Aufklärung und kein Wissen, jedoch auch keine Konflikte. Offensichtlich machen schlangenartige Erkenntnisse klug, aber nicht unbedingt glücklich. Alle Menschen wären gleich und müssten über nichts diskutieren. Es herrschte Frieden auf Erden, vielleicht ja unter der Aufsicht einer Weltreligion und Weltregierung, die allen Menschen vorgeben würde, was wir zu tun und was wir zu lassen hätten. Vermutlich wären wir glückselig. Deshalb sagte Jesus wohl: Selig sind die Einfältigen (Matthäus 5, 3). Denn sie sind nicht vielfältig und müssen daher nicht miteinander streiten.

Dass eine solche Friedhofsruhe in unserem Leben nicht möglich ist, sehen wir tagtäglich. Sobald Annegret sagt: Ich mag monochrome Bilder, begehrt Heinrich auf, weil er seine Bilder viel lieber in Farbe hat. Wenn wir Diversität und Vielfalt ernst nehmen, akzeptieren wir gleichzeitig Konflikte. Annegret und Heinrich könnten sich streiten … oder zu einem Modus der Wechselseitigkeit kommen. Ein vielfältiger Konflikt lässt sich niemals im Moment auflösen, sondern erst durch die Dimension der Zeit. Deshalb legen Mediatoren so viel Wert auf einen sauber durchgeführten Mediations-Prozess. Natürlich könnten sich Annegret und Heinrich zwei Kameras kaufen und jeder schießt seine Bilder für sich. Damit hätten sie den Konflikt durch eine Aktion der Trennung befriedet. Ganz zufrieden werden sie damit nicht sein. Dies wird ihnen spätestens dann klar, wenn sie symbolisch gemeinsam auf einem Foto sein wollen. Erst wenn Annegret und Heinrich sich darauf einigen, ihre Bilder mal schwarz-weiß und mal bunt anzufertigen oder sie nachträglich so zu bearbeiten, wie jeder es gerne möchte, ist eine Lösung möglich. Genau dieses ‘Mal so, mal so’ oder ‘nachträglich’ verdeutlicht die Prozesshaftigkeit der Konfliktlösung. Damit wird allerdings auch deutlich, dass eine Konfliktlösung schwer herzustellen ist, wenn jeder der beiden perfektionistisch auf seiner Vorgehensweise beharrt.

Das gleiche Prinzip sehen wir in der aktuellen C-Krise. Während die eine Seite der Virologen immer mehr Details erforscht über die Streuwirkung von Aerosolen und die Anzahl der Viren, die wir täglich auspusten, ziehen die Seiten der Kinder- und Altenrechtler Erkenntnisse aus dem Hut, die uns daran erinnern, dass der Mensch mehr braucht als nur einen Schutz vor sich selbst. Mikrobiologen sprechen davon, dass unser Immunsystem den Mikrobentausch mit anderen braucht. Und Psychologen erinnern an die alten Studien mit den Pseudoaffen von Harry Harlow Ende der 50er Jahre (siehe https://www.dasgehirn.info/handeln/liebe-und-triebe/liebe-ein-grundnahrungsmittel oder https://www.youtube.com/watch?v=OrNBEhzjg8I).

In der Diskussion um den richtigen Weg aus der Krise wird von Virologen angemahnt, dass es nun in Deutschland 80 Millionen Hobby-Virologen gibt. Dieser Vorwurf greift jedoch zu kurz, da es vielmehr um die Frage der Diversität in der Meinungsbildung geht.

Es fällt schwer zu akzeptieren, dass man selbst von seinen Erkenntnissen ein Stück Abstand nehmen muss, um gemeinsame Lösungen zu erreichen. Die Realität unseres dualistischen Lebens der Gegensätze zeigt uns jedoch, dass wir nicht nur mit dem Virus leben müssen, sondern auch mit unterschiedlichen Meinungen, Wahrheiten und Erkenntnissen. Toleranz im Sinne eines Aushaltens fremder Erkenntnisse bedeutet in diesem Sinne die Wertschätzung des perfektionistischen Bemühens jeder Seite ohne den gemeinsamen Konsens aus dem Blick zu verlieren.

Auch wenn jeder in seiner eigenen kleinen Welt zu 100% recht hat, gilt es in der Gemeinschaft Einigungen anzustreben. In diesem Wort der Einigung schwingt zumindest ein kleiner Funke unseres ursprünglichen Paradieses mit.

Über begrenzte Wahrheiten, Agilität und die Politik in Zeiten der Krise

Auf den wenig sozialen Foren (wo auch sonst) wird derzeit viel über Wahrheiten und Fake News spekuliert. Man hat das Gefühl, wir sind alle kleine Virologen, Mediziner oder Sozialwissenschaftler. Dort draußen scheint es eine Menge kleiner Besserwisser zu geben. Und ehrlich gesagt gehören wir hier alle dazu, zumindest diejenigen, die mitdiskutieren. Vermutlich auch Sie. Und ich sowieso. Sonst würde ich das hier nicht schreiben.

Wahrheiten jedoch funktionieren nur im Labor. Wenn ein Virologe wie Drosten sagt, er will sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, weil er sich als Wissenschaftler missbraucht fühlt, hat er vollkommen recht. Die Wissenschaft ist der Wahrheit verpflichtet. Ob etwas wahr oder falsch ist, lässt sich jedoch nur in einem abgeschlossenen Setting überprüfen. Schütten wir zwei Flüssigkeiten in ein Reagenzglas, macht es Bumm! oder auch nicht. Gingen wir zuvor davon aus, dass es Bumm! machen sollte und es passiert nichts, lagen wir falsch. Fliegt uns das Teil um die Ohren, können wir vor Freude nackt die Wände hoch krabbeln. Macht es nur Puff! lagen wir wenigstens nur ein wenig daneben.

Wissenschaft kann Fakten liefern, die uns helfen, eine klar zu begrenzende Sachlage zu beurteilen. Doch was ist mit unserer Welt dort draußen?

Durch die Abschottung der Nationalstaaten, Quarantänen und Kontaktsperren soll ein solches berechenbares Setting hergestellt werden. Die strengen Ahndungen der Polizei im Erziehungsmodus sind ebenso Versuche der Kontrolle. Eine Wohnung ist jedoch kein Reagenzglas und der Mensch keine chemische Flüssigkeit, sondern ein komplexes Wesen. Kontaktungen sind komplexe Gebilde. Wollen wir ein wirklich berechenbares Setting, müssen wir alle Menschen auf der Welt einsperren. Und das für eine lange Zeit. Das will vermutlich niemand. Ich kenne zumindest niemanden. Aber wer weiß? Alles andere ist schwer berechenbar. Freilich ginge es auch mit einem Tracking der Handydaten im Sinne der Sicherheit zur Freiheit. Auch diese Diskussion wird in nächster Zeit noch häufiger zu hören sein.

Deshalb sollten Wissenschaftler keine Entscheidungen treffen. Jede Wissenschaft, sei es die Medizin, Philosophie, Ethik, Technik oder Soziologie, kann für ihren Bereich Wahrheiten erforschen. Es ist absolut sinnvoll, mit diesen begrenzten Wahrheiten Politiker zu beraten. Die Welt dort draußen ist jedoch kein Reagenzglas. Sie bewegt sich. Es finden Kontakte statt, die nur bedingt kontrolliert werden können. Die Welt dort draußen ist nunmal komplex. Und komplexe Situationen können nur abgeschätzt werden. Bei Schätzungen gilt der Schwarmintelligenzansatz: Je mehr Perspektiven in eine Entscheidung einfließen, desto treffender wird die Zukunftsvorhersage.

Dazu ein simples Beispiel: Wenn Ingenieure auf einem Herd die Bedienungselemente direkt in das Ceranfeld integrieren, mag dies auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen. Wäre in der Produktion eine Großfamilie zugegen, die liebend gerne Pfannkuchen bäckt, würde diese vermutlich den Kopf schütteln. Außer diese Familie hätte eine leichte Neigung zu Masochismus. Nun mag es sein, dass es dort draußen kaum noch Großfamilien gibt. Dennoch erweitert die Perspektive dieser Familie den Horizont der Techniker. Wenn sie nun noch die Sichtweisen eines Alleinerziehenden, eines Singles und einer normalen 1,3-Kind-Familie hinzunehmen wird das Bild komplett und die Techniker können eine abschließende Entscheidung treffen.

Ersetzen wir die Techniker durch Politiker und Familien durch Wissenschaftler, lässt sich der Vergleich leicht auf unsere aktuelle Situation übertragen. Die Politik muss Entscheidungen treffen. Auf einzelne Wahrheiten kann sie sich dabei nicht berufen. Sie sollte stattdessen ihre Urteile auf die Basis vieler Wahrheiten stellen.

Vielleicht liegt der Impuls mancher Menschen, gegen die aktuellen Regeln zu verstoßen oder Verschwörungstheorien anzuhängen, daran, dass etwas fehlt. Würde die Diskussion breiter, liefe es vermutlich wie in jedem Konflikt ab: Es wird weicher und verständnisvoller.

Gleichzeitig befinden sich Politiker durch mehrere Sichtweisen und Wahrheiten in einem Multilemma. Egal, was sie tun, Sie werden sich die Hände schmutzig machen. Die Welt der Wissenschaft ist einfach. Sie unterscheidet lediglich zwischen wahr und falsch. Die Welt der Politik ist hochkomplex. Jede politische Entscheidung bedient die Interessen des einen und führt zu einem Leiden an anderer Stelle. Leiden kann also nicht vermieden werden. Stattdessen geht es darum, das Leiden möglichst gering zu halten. Was dies im einzelnen bedeutet kann kein Wissenschaftler entscheiden.

In der Politik geht es nicht um die eine Wahrheit, sondern um Mut. Dieses Multilemma kann nur aufgelöst werden, wenn Politiker entschlossen handeln und, weil komplexe Welten sich stetig wandeln, jeden Tag neu bewerten und Entscheidungsanpassungen vornehmen. In diesem Sinne könnten Politiker von agilen Managern viel lernen, die wissen wie auf Sicht gefahren wird.