Die magische Zahl

Es war einmal ein Land, indem viele kleine Männchen und Weibchen lebten und ihrem fröhlich-fleißigen Tagewerk nachgingen. Eines Tages wurde das Land bedroht durch eine böse Krankheit. Es galt ein Weh und Ach allerorten, denn der Landesmagier Christianus sagte, es würde ganz schlimm werden und viele von uns müssten sterben.

Königin Angelina I., im ganzen Land als fürsorgliche Mutti bekannt, ergriff das Wort und sprach zu ihrem Volke: „Habt keine Angst, mein Volk, denn wir haben ja den Christianus. Der erklärt uns ganz genau, was zu tun ist. Zudem hat Christianus einen Gehilfen namens Lothar, der ein gar fleißiger Mann ist, genau wie ihr. Und den Johannes haben wir auch. Der ist zwar noch grün hinter den Ohren und auch ein wenig ungestüm. Aber der wird schon machen, was ich will. Damit am Ende alles gut wird.“ Der Lothar hieß eigentlich Konrad, aber das hatte die Königin schon immer verwechselt. Und den Johannes nannten alle Jens, weil er noch zu jung für einen Johannes war.

Der Johannes jedenfalls bedankte sich darauf hin bei der großen Königin, preschte nach kurzem Zögern eilig voran, um ein paar Gesetze zu erlassen, die es einfacher machen würden, mit der bösen Krankheit umzugehen. Das Volk raunte, wo denn die weise Königin bliebe, denn der Johannes ist doch noch so jung, riefen sie. Daraufhin meldete sie sich nach einer Woche zu Wort mit hoheitlichen und beruhigenden Worten: „Vertraut mir, liebes Volk. Ich weiß, was zu tun ist, denn ich bin ja von Haus aus etwas ganz Ähnliches wie der Christianus. Und den Johannes könnt ihr auch wieder vergessen. Der will nur spielen.“

Alldieweil wurden tagtäglich Zahlen über Zahlen im ganzen Lande verlesen, damit das Volk stets wusste, wie schlimm es aktuell um es stand. Das Volk verstand das alles nicht wirklich, hatte aber zum einen große Angst vor der bösen Krankheit und zum anderen tiefes Vertrauen in seine Königin.

Als die böse Krankheit immer schlimmer wütete, berief die große Königin einen Stab weiser alter Männer ein, um zu beraten, wie es weitergehen solle und die Nachricht darüber im ganze Lande zu verkünden. Da begann ein wildes Hin und Her und Auf und Ab, denn die weisen alten Männer waren sich gar uneinig. Die einen sagten so und die anderen so. Alsbald begann auch der weise Christianus in Rätseln zu sprechen. Und der fleißige Konrad war auch keine Hilfe. Denn Konrad sprach nur in Zahlen und die Menschen dort draußen riefen: „Wir verstehen keine Zahlen! Sprich in Worten zu uns!“

Die Männchen und Weibchen dort draußen, die von der Königin liebevoll Kinderlein genannt wurden, begannen darauf verwirrt im Hirne zu werden. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und riefen: „Was sollen wir denn nun tun, kluge Königin? Wir werden noch ganz kirre.“

Und auch die Postillen im Lande waren keine Hilfe. Die einen schrieben so, die anderen so. Wer sollte sich in diesem Tohuwabohu zurecht finden?

Als die Königin schon beinahe ratlos war ob der großen Verwirrung im Land, kam der starke Marcel, der verschollen geglaubte König des Landes von einem jahrelangen Feldzug im Auslande zurück und staunte nicht schlecht: „Was ist denn hier los? Habt ihr noch alle beieinander?“ Er redete so, weil er die Sprache des Feldes gewohnt war.

Die Königin atmete spürbar auf, sodass im ganze Lande wieder Ruhe einkehren konnte. Denn der im Felde gestählte Marcel, der zuhause ein Plakat des Kriegsgottes Mars hängen hatte, gab nun den Ton an, auf dass Gesetze erlassen wurden, die mehr oder weniger klar regelten, womit die böse Krankheit in ihre Schranken gewiesen werden konnte. Der starke Marcel haderte ein wenig mit seinem Namen. Er hätte viel lieber Markus geheißen. Doch seine Eltern waren leider Liebhaber französischer Chansons.

Ungeachtet seines Namens waren seine Gesetze unbarmherzig, durfte sich doch nun niemand mehr küssen, womit sich die Menschen so gerne beschäftigten. Selbst eine Umarmung stand unter Strafe. Zudem war es verboten, seine vier Wände zu verlassen, außer zum Zwecke der Arbeit und des Einkaufens. Das Volk verstand das zwar nicht wirklich, doch wenn der starke Marcel es sagte, musste es wohl stimmen.

In manchen Ecken des Landes bildeten sich zwar kleine Zentren des Widerstands, denn den Marcel mochten einige noch nie leiden, weil er oft so polterig daher kam. Das war manchen Menschen nicht geheuer. Andere hingegen wollten einfach eine Pizza mit Freunden essen und verstanden nicht, warum das nun nicht mehr ginge. Zudem kam auch der Johannes in seinem jugendlichen Leichtsinn immer wieder mit seltsamen Vorschlägen zur Eindämmung der Krankheit um die Ecke. Ein Wunder, dass es dennoch einige Zeit gut ging.

Nach ein paar Wochen jedoch begannen die Berater der Königin mit den Hufen zu scharren. Manche hatten selbst schon einen Blick auf den Thron geworfen und waren nun neidisch auf den starken Marcel. Hatten sie doch gehofft, er wäre im Kriege gefallen. Sie begannen, ihre eigenen Pläne zu schmieden, worauf sie das Volk erneut in Verwirrung stürzten. Immer mehr Menschen liefen durch die Straßen und fuchtelten mit wilden Handbewegungen um Gesicht und Kopf herum. „Königin, Königin“, riefen sie, „sprich ein Machtwort!“. Und die Königin sprach: „Schluss mit diesen Diskussionsorgien! Wir sind hier doch nicht im Kindergarten!“.

Da meldeten sich der Hausmagier Christianus und sein Gehilfe Konrad zu Wort. Die wollte allerdings niemand mehr hören. „Ihr könnt mich mal gerne haben“, sprach der weise Christianus daraufhin, setzte sich beleidigt ins Ausland ab und gab fortan nur noch Interviews für fremdländische Gazetten. Der Konrad wollte eigentlich mit. Auch er hatte die ganze Sache mit diesem unzufriedenen Volk satt, war jedoch aufgrund eines Knebelvertrages verpflichtet, jeden Morgen seinen Bericht zur Lage der Nation abzuliefern. Er war noch nie ein sonderlich emotionaler Typ, nun war ihm jedoch jedes Lächeln abhanden gekommen.

Die Königin jedoch zitierte ihre Berater zu sich und sprach: „Freunde der Sonne, so nicht.“ Die Freunde der Sonne gaben klein bei, denn die Königin konnte, das wussten sie wohl, trotz ihres fortgeschrittenen Alters hinter verschlossenen Türen Gift und Galle über die Abtrünnigen ausspeien. Da bekamen sie es mit der Angst zu tun.

Zuhause angekommen wurden die Berater allerdings von dem bösen Virus des Mitgefühls ergriffen. Die Menschen vor Ort zerrten an den Mänteln der weisen Männer, als diese durch die Gassen Ihrer Heimat spazierten. Die einen wollten dies, die anderen das. Da bekamen die weisen Berater Mitleid mit den Menschen. Zudem hatten sie Angst. Was, wenn es doch nicht so schlimm käme, wie unser Christianus, der Landesmagier sagte? Was, wenn unsere Städte aussterben? Was passiert mit all den Kindern, die zuhause nicht anständig lernen wollen? Werden sie dies jemals wieder aufholen? Und was passiert mit den alten Menschen, die keinen Besuch mehr bekommen? Sie wurden doch so gerne von ihren Enkeln geherzt. Und sieh her, die Menschen gehen schon auf die Straße und stellen Stühle des Protestes auf die leeren Plätze. Nun schwirrte auch den weisen Beratern der Kopf. Sie sprachen: „Das klang schon gut, letzte Woche bei der Königin. Aber wir machen das jetzt doch anders.“

Als der starke Marcel dies hörte, erzürnte er gar grausig und rief: „Habt‘s ihr noch alle beieinander!“ Dies rief er schließlich schon einmal. Und damals half es. Doch dieses mal erstarb sein Ruf wie ein Schrei in der Wüste. Weil er jedoch so wütend war, verordnete er dem ganzen Königreich eine Maskenpflicht. Die Bürger riefen darauf Juchee und Jubilee, seltsamerweise, endlich was zum anfassen, und begannen fröhlich drauf los zu schneidern, sodass bald jeder sein individuelles Exemplar besaß.

Der nun ein wenig verwunderte Marcel zitierte den Schreiber seiner Hauspostille zu sich und sprach: „Schreib, du Schreiberling. Ich verlängere die Maßnahmen zur Eindämmung der bösen Seuche. Gleichzeitig lockere ich die Maßnahmen.“ Der Schreiberling erfragte den Sinn hinter dem Ganzen, worauf der nun wiedererstarkte Marcel antwortete: „Nicht denken. Schreiben.“ Den abtrünnigen Beratern jedoch schrieb er ins Stammbuch: „Macht doch, was ihr wollt! Wenn es hart auf hart kommt, fahr ich eben wieder in den Krieg im fernen Außenlande.“

Die Berater flohlockten daraufhin: „Super! So machen wir‘s. Dann werden wir zuhause wenigstens nicht gesteinigt. Und das mit den Masken schwitzt sich ohnehin aus.“ Als Geschenk einigten sie sich mit König und Königin auf eine Zahl, von der niemand so recht wusste, woher sie kam. Die Legende sagt, sie hätte auf dem letzten Brief vom ausgewanderten Christianus gestanden, sozusagen als Vermächtnis. Ob das stimmte, wusste jedoch niemand. Die Zahl lautete 50, wurde als Symbol mannshoch in Bronze gegossen und für jedermann und jederfrau einsichtig als Mahnmal vor dem Königspalast aufgestellt. Zur feierlichen Enthüllung der magischen Zahl traten Königin, König und die Berater in nie dagewesener Einheit vor das Volk und verkündeten: „Diese magische Zahl wird uns durch Licht und Schatten leiten, auf dass wir in der Zukunft immer wissen, was zu tun ist.“

Als das Volk dies hörte, war es wieder beruhigt. Mit Zahlen konnte es zwar immer noch nichts anfangen. Doch wenn sich alle wichtigen Menschen dieses Landes auf so eine Zahl einigen konnten, musste wohl was dran sein an der Magie der 50.

Ein paar meckerten wie immer. Blöde Zahl. Warum 50? Die üblichen Verdächtigen eben. Es ging sogar die Mär um, es hätte sich eine Partei der Abtrünnigen gegründet.

Die Postillen des Landes jedoch wollten es genauer wissen und eumelten, noch bevor die Königin „Schweigt Stille!“ rufen konnte: „Ja, nun? Was soll denn diese Zahl bedeuten? Vielleicht die Entwicklungszeit des ominösen Impfstoffes in Tagen, Monaten oder gar Jahren?“ Worauf die Königin, mittlerweile schon recht angesäuert zurückeumelte: „Ja. So ist es.“ Und weil die Schreiberlinge des Landes wussten, dass hier das Ende der Fahnenstange königlicher Geduld erreicht war, schwiegen sie Stille.

Das Hin und Her der Obersten ging noch einige Zeit weiter, solange bis niemand mehr wusste, warum diese Zahl ursprünglich in Bronze gegossen wurde und was sie zu bedeuten hatte. Der Königspalast war zu dieser Zeit schon lange nicht mehr bewohnt. Nach und nach verfiel er. Könige und Königinnen gab es ebenso nicht mehr. Das Land schien sich irgendwie selbst genug. Zudem gab es kaum noch etwas, was zu tun gewesen wäre. Das Land war verödet. So weit das Auge reichte, gab es nur noch Wüstensand mit ein paar wenigen Oasen. Das einzige Übrige war die Bronze-Zahl, die immer noch stolz im Zentrum des Landes als Mahnmal für die Ewigkeit prangte.

Die Menschen des Landes entwickelten sich evolutionär zurück. Sie schrumpften zusammen, bis sie schließlich zu Einzellern wurden, um das Land von Neuem zu bevölkern. Aber das ist eine andere Geschichte.

ENDE