Als ich als kleiner Junge zum Arzt ging, schaute mir der in den Mund, in die Augen, er klopfte meinen Rücken ab und stellte seine Diagnose. Damit lag er meistens richtig. Zumindest ging ich beruhigt nach Hause. Heute verfügen v.a. Spezial-Ärzte über ein ausgeklügeltes Instrumentarium an Technik, mit dem sie Sachen finden, die vorher gar nicht da waren. Allen voran der Segen des MRTs. Dort werden selbst die kleinsten Punkte sichtbar und müssen daher interpretiert werden. Wer heute gesund zum Arzt geht, nimmt einen Koffer voller Sorgen mit nach Hause.
Manche Ärzte klagen deshalb, dass sie mittlerweile zu viel wissen und dabei den Blick für das Wesentliche verlernen. Den Blick für den Patienten.
Ähnliches erleben wir gerade bei dem großen C. Es gibt Dinge, die wir wissen, während wir andere Dinge nicht wissen. Wir messen alles, was nicht bei drei auf dem nächsten Baum ist. Mit C-Viren leben wir schon seit vielen Jahren. Wirklich gemessen oder sogar als Live-Ticker zubereitet wurden sie bis jetzt nie. Dabei wissen wir immer noch nicht genug, auch wenn unser Perfektionismus uns befiehlt, immer mehr darüber herauszufinden.
Was sich nicht messen lässt, bleibt unter dem Radarschirm. Es gibt keinen medizinischen Test für Einsamkeit im Pflegeheim und keinen für Depressionen mit Suizidgefahr. Auch die Wahrscheinlichkeit eines Herzproblems in den nächsten Tagen lässt sich lediglich schätzen. Hier kommen Heuristiken und Wahrscheinlichkeiten zur Anwendung.
Fluch und Segen der Naturwissenschaften ist es, durch immer genauere Tests immer perfekter zu werden. Geisteswissenschaften fehlt eine solche Orientierung. Sie arbeiten grundsätzlich mit Unwegbarkeiten, weshalb sie in den letzten Jahren v.a. im Umgang mit einer volatilen, unsicheren, komplexen und ambigen (mehrdeutigen) Umwelt, der sogenannten VUKA-Welt, an Bedeutung gewannen. Während Naturwissenschaftler in ihrem Bereich perfekt sind, sind Geisteswissenschaftler im Umgang mit unklaren Situationen perfekt.
Bei all der Perfektion stellt sich die Frage, ob wir damit nicht den Blick für das Wesentliche aus den Augen verlieren. Was also ist das Wesentliche bei der Bekämpfung des bösen Cs? Geht es um das Virus? Oder nicht in Wirklichkeit um den Menschen? Vielleicht geht es darum, dass wir gut miteinander auskommen. Oder darum, dass ältere Menschen nicht aus Angst vor dem Virus weggesperrt werden.
Und was, so fragt man sich, wünscht sich der Mensch? Wünscht er sich Schutz vor dem Virus? Oder ein würdevolles Leben? Wünscht er sich desinfizierte Spielplätze? Oder ein Kinderlachen? Meine Mutter erzählte mir heute am Telefon: Sie lief gestern an einem Pflegeheim vorbei. Hinter den Fenstern standen die Insassen und draußen, auf der anderen Straßenseite, die Angehörigen, beide mit einem Telefon in der Hand. Sie musste wegschauen, sagte sie, weil es zu grausam ist.
Ab morgen dürfen wir meine Eltern wieder besuchen. Meine Mutter fragte: Aber eine Umarmung geht noch nicht, oder? Nein, das geht noch nicht.
Was wünschen Sie sich am sehnlichsten?