Alle Beiträge von Michael Hübler

Die Führungskraft als Mediator

Führungskräfte stehen heutzutage zwischen allen Stühlen. Von der einen Seite werden überzogene Kundenwünsche und der allgegenwärtige Konkurrenzkampf über die überlasteten Mitarbeiter und die ungeduldige Generation Y und Z an sie herangetragen. Von der anderen Seite stoßen sie auf Systemstrukturen, die sich v.a. in größeren Organisationen selten so zügig und adaptiv an die neuen agilen Bedingungen anpassen, wie es für reibungsfreie Abläufe wünschenswert wäre.

Mit diesen aktuellen Herausforderungen beschäftigt sich mein Buch „Die Führungskraft als Mediator„, veröffentlicht zum Jahresbeginn bei Springer-Gabler. Seit einem Monat gibt es nun den dazugehörigen e-Learning-Kurs auf iversity.org: https://iversity.org/de/courses/die-fuhrungskraft-als-mediator?r=c8ff0

Worum geht es in diesem Kurs?

In diesem Kurs bekommen Sie in 7 Kapiteln das Handwerkszeug vermittelt, um diesem Druck nicht nur Stand zu halten, sondern zudem mit mediativen Kompetenzen gezielt zwischen den Fronten zu vermitteln.

Folgende Themen werden behandelt:

  • Führung am Limit
  • Aufgaben einer Führungskraft im 21. Jahrhundert
  • Das Mindset einer Führung in agilen Zeiten
  • Die Führungskraft in Kontakt mit sich selbst
  • Wie Führung in Veränderungen stabil und standhaft bleibt
  • Die Führungskraft als authentisches Vorbild in Veränderungen
  • Die mediative Führungskraft als Prozessbegleiter

An wen richtet sich der Kurs?

Zielgruppe des Kurses sind Manager und Führungskräfte aller Hierarchien.

Was ist in dem Kurs enthalten?

Im Kurs enthalten sind Lernvideos, Leseressourcen, weiterführende Literaturtipps, Übungen, Selbsttests und Reflexionsaufgaben sowie eine Teilnahmebestätigung nach Absolvierung des Kurses.

Wie die Wissenschaft entstand

Die Wissenschaft entstand aus dem Zusammenspiel der beiden Halbgötter und Brüder Prometheus und Epimetheus aus der griechischen Mythologie. Epimetheus verlieh den Tieren auf der Erde spezielle Eigenschaften, dem Löwen Stärke oder der Gazelle Schnelligkeit. Doch Epimetheus war vergesslich und als er zu den Menschen kam fiel ihm nichts mehr ein. Deshalb sprang sein Bruder Prometheus, der Vorausdenkende, für ihn in die Bresche und stahl für die Menschen das Feuer und die Kunst von den Göttern, damit sie auch etwas hatten, um gut zu leben. Das Feuer steht für Macht, worauf die Menschen begannen Streit und Krieg zu führen. Die Kunst, auf griechisch techne, steht für die Technik und Wissenschaft. Damit sich die Menschen nicht gegenseitig auslöschten, stattete sie Hermes, der Götterbote, zusätzlich mit Respekt aus.

Epimetheus könnte auch der Gott für Big Data sein, da sein Name übersetzt „nachträglich lernend oder verbindend“ bedeutet, genau das, was mit Big Data gemacht wird: Die Daten werden wahllos gesammelt und erst im nachhinein auf logische Muster untersucht. Prometheus schaut zwar voller naiver Wissbegierde in die Zukunft, jedoch ohne abzuwägen. Prometheus könnte damit der Gott des ungeduldigen Wissenschaftlers sein, der die Atomkraft erfindet, ohne an die Atombombe zu denken. Auf Hermes schließlich geht die Hermeneutik zurück, das wissenschaftliche Denken in Kontexten. Während Epimetheus und Prometheus sorglos einem bloßen Machbarkeitswahn folgen, wägt die Hemeneutik ab und zeigt damit Respekt vor der Natur und sozialen Begebenheiten.

Quelle: James Bridle: New Dark Ages, Beck 2019

Fake-News aus dem Wissenschaftsbetrieb

Aufgrund des Drucks im Wissenschaftsbetrieb hat sich laut einer Studie aus dem Jahr 2011 die Rücknahme von wissenschaftlichen Studien im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends verzehnfacht. Vor allem in renommierten Fachzeitschriften werden immer mehr Artikel veröffentlicht. Die Qualitätskontrolle kommt nicht mehr nach und bewertet meist nach der Untersuchung des p-Werts. Der p-Wert bezeichnet die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ergebnisses in einer Studie. Ein p-Wert von 0,05 gleicht einer Wahrscheinlichkeit von 5% vor. Eine Wahrscheinlichkeit über 5% legt einen Zufall nahe. Eine Wahrscheinlichkeit unter 5% wird von Zeitschriften angenommen. Studien können jedoch durch die Datenauswahl so manipuliert werden, dass deren Ergebnisse auf jeden Fall unter 5% liegen. Letztlich kann damit jedes erwünschte Ergebnis erzeugt werden. Das Prinzip dahinter lautet p-Hacking. Ich könnte beispielsweise herausfinden wollen, ob grüne Würfel häufiger gezinkt sind als blaue und dafür so lange würfeln, bis das Ergebnis unter 5% liegt. Tatsächlich ergaben Untersuchungen, dass eine riesige Mehrheit an Studien knapp unter der 5% lagen, was nahe legt, dass dieser Wert gezielt angestrebt wurde.

Mehr als 2/3 dieser Fehler in der Biomedizin und den Life Sciences entstehen nicht wie vermutet aufgrund von Schludrigkeit und Zeitdruck, sondern aufgrund purer Absicht. Der Druck ist so groß auf die Forscher, dass sie Ergebnisse liefern müssen, um ihren Lehrstuhl oder ihre Reputation zu behalten. Die Klonung menschlicher Stammzellen des Südkoreaners Hwang Woo-suk, was sich Jahre später als dreiste Lüge erwies, ist nur die Spitze des Eisbergs. Um die Güte der Studien zu erhöhen, werden Tests in der Regel von unabhängigen Forschern wiederholt. Dies passiert jedoch kaum noch. Wenn doch fallen immer mehr durch.

Zudem verkommt die medizinische Forschung aufgrund der Digitalisierung immer mehr zu einem reinen Industriebetrieb. Wo früher kleine Teams an einem Medikament forschten, werden heute große Datenmengen durch Algorithmen gejagt, um möglichst viele Medikamente gleichzeitig zu entdecken. Damit geht jedoch die Sorgfalt und Kreativität verloren. Während das Moore‘sche Gesetz davon ausgeht, dass sich die Rechenkapazität und -schnelligkeit von Computern jedes Jahr verdoppelt, haben sich die Anmeldungen medizinischer Präparate alle 9 Jahre halbiert. Deshalb spricht man in wissenschaftlichen Kreisen mittlerweile vom Eroom‘schen Gesetz, Moore rückwärts geschrieben. Während die Rechenleistung mehr wird, geht die Kreativität in der Wissenschaft immer mehr zurück. Vielleicht auch aufgrund des Denkens, dass aus Big Data letztlich alles errechnet werden kann, wenn man nur genug Daten einspeist, um neue Muster zu erkennen, was jedoch offensichtlich ein Trugschluss ist.

Der Vorwurf, Fake-News zu produzieren geht folglich nicht nur in Richtung Trump und Konsorten, sondern kann ebenso in Richtung des vermeintlich seriösen Wissenschaftsbetriebs gerichtet werden.

Quelle: James Bridle: New Dark Ages, Beck 2019

Die psychotische Gesellschaft, Teil III: Auf der Suche nach Identität, Heimat und Sinn

Ariadne von Schirach unterschiedet drei typische Reaktionen bzw. Typen im Umgang mit psychotischen Zeiten (sie nennt die Typen Kurateure, Spirituelle und Fanatiker):

  • Arrangeure gehen auf in einer Welt, in der alles ständig in Bewegung ist. Sie präsentieren sich selbst als Ware auf Instagram, um auf den nächsten Klick zu hoffen. Deshalb entwickeln sie ein feines Gespür für äußere Kritik: Welche Trends gibt es gerade? Was darf ich auf keinen Fall äußern? Was muss ich tun, um gemocht zu werden? Sie leben hedonistisch im Hier und Jetzt.
  • Träumer, man könnte auch sagen Luftmenschen, träumen sich in eine schönere Welt der Vergangenheit oder Zukunft, in der alles miteinander verbunden ist. Sie orientieren sich an Möglichkeiten als an Notwendigkeiten. Sie scheinen stets ein wenig abwesend zu sein und sind beständig im Werden anstatt im Sein.
  • Krieger oder Fundamentalisten schließlich sind fest von ihrem Weltbild überzeugt und wollen auch andere davon überzeugen, was richtig oder falsch ist. Sie ziehen sich in ihre heile Reichsbürgerwelt zurück oder kämpfen im Internet für klare Werte. Da sie jedoch so fest von ihrem Standpunkt überzeugt sind, bleibt kein Raum für andere Meinungen.

Von Schirach bringt als positive Lösung im Umgang mit einer komplexen Welt eine vierte Figur ins Spiel, den Poeten. Poeten verbinden den Körper mit dem Geist, das Endliche mit dem Ewigen, das Notwendige mit dem Möglichen, das Individuelle mit dem Ganzen und das Sein mit dem Werden. Sie nehmen die Welt und ihre Mitmenschen wahr und fragen nach der Bedeutung des Wahrgenommenen für sich selbst. Sie fragen sich nach ihrer Rolle in der Welt. Sie sind sich dessen bewusst, dass alles was sie sagen aus Sprachbausteinen besteht, die schon millionenfach geäußert wurden, jedoch noch nie so wie sie es tun. Deshalb sind sie ein Teil des Ganzen und doch individuell. So wie die Sonne an jedem Morgen aufgeht und dennoch jeder Sonnenaufgang einzigartig ist. Deshalb ist eben nicht schon alles gesagt, sondern wird jedes mal neu interpretiert. Und jedes Wort bekommt eine neue persönliche Bedeutung. Dabei äußern Menschen mit ihren Worten auch geheime, oft unbewusste Wünsche, so wie sie etwas aussprechen. Das wiederum verbindet sie mit anderen Menschen, sofern diese die geheimen Wünsche lesen können. Es ist, wie Nietzsche in Also sprach Zarathustra schreibt, nicht das Kamel – oder der Arrangeur – das die Lasten der Welt auf sich nimmt, indem es alles mitmacht, oder der Löwe – bzw. der Krieger – der in den Kampf gegen die Welt zieht, um seine Werte durchzuboxen, sondern das erwachsen gewordene, staunende Kind, das die Welt immer wieder auf sich bezieht und sie damit in sich hinein nimmt, verarbeitet und reflektierend wieder nach außen kehrt. Das Kind in uns staunt immer noch über den Fremden, anstatt ihn mit sich gleich zu setzen. Es fragt sich, was der oder das Fremde für uns bedeutet, ob es als Abgrenzung eine Bestätigung unserer eigenen Identität ist oder eine Ergänzung. Das Kind macht sich bewusst, was es bereits kann und ist und was es noch werden kann. Es weiß, dass es Dinge gibt, die notwendig sind, um gut im Leben zu stehen und Dinge, von denen wir träumen können, selbst wenn sie vielleicht niemals wahr werden. Es erfreut sich an den kleinen Dingen im Leben, einer Limonade in der Sonne oder einem guten Gespräch mit Freunden. Es versteht, dass es etwas Besonderes ist, das jedoch nur besonders ist, weil andere Menschen ebenso besonders sind. Es weiß, dass alles endlich ist, jeder Lebensabschnitt, Kindergarten, Schule, Berufsabschnitte, Urlaube, Familienfeste. Alles geht vorbei. Und anschließend kommt etwas Neues. Es berührt die Dinge der Natur. Spürt nach, was sie für es bedeuten. Plant, was es mit ihnen tun könnte. Und tut es. Alles Werden war zuvor im Sein, ist anschließend wieder im Sein und wird durch das Werden ein neues Sein.

Auch die Authentizität der Sprache verbindet oder trennt uns. Authentisch ist es, das auszusprechen, was in mit klingt. Auszusprechen, dass ich wütend oder traurig bin, ohne einen manipulativen Hintergedanken zu haben. Damit bin ich wie es der Philosoph und Gründer von Focusing, einer Art therapeutischer Lebenshaltung, gleichzeitig bei mir und bei dem Anderen. Die Welt ist in mir und ich bin in der Welt. Das Ganze kann gedacht, es will aber auch ausgedrückt werden.

Der Neuropsychologie Daniel Siegel integriert in seinem Mindsight-Konzept die beiden Dimensionen Denken und Fühlen sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir werden nur glücklich, wenn wir optimistisch und die Zukunft blicken und gleichzeitig das Notwendige im Jetzt unternehmen. Dies schaffen wir, indem wir die Zukunft denkend vorweg nehmen und gleichzeitig fühlend und vor allem körperlich spürend im Hier stehen.

In jeder Begegnung dürfen wir uns neu entscheiden: Spüren oder Denken? Gegenwart oder Zukunft? Notwendiges tun oder von Möglichkeiten träumen? Die Endlichkeit als Auftrag nehmen, jetzt zu leben oder auf die Ewigkeit und damit bessere Zeiten hoffen? Sie mit dem zufrieden, was ich bin und habe oder nach Mehr und Höherem streben? Oder konkreter: Sich mit dem eigenen Leben zufrieden geben oder etwas verändern wollen? Sich von Urlaub zu Urlaub hangeln oder das Leben im Alltag genießen? In der Gemeinschaft aufgehen oder Wege gehen, von denen ich nicht weiß, wo sie hinführen?

Eine solche Verbindung gab es bereits im kabbalistischen Lebensbaum. Der untere, irdische Teil des Lebensbaums beschreibt meine körperlichen Bedürfnisse nach Gesundheit, individueller Freiheit, sozialer Anerkennung, menschlicher Nähe, Liebe und Berührungen. Daraufhin erkundige ich mich, darüber, wie ich meine Bedürfnisse erfüllen kann. Ich eigne mir Wissen an, woraus konkrete Handlungen erfolgen. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Bereiche entsteht meine Identität und damit das Bild, das ich nach außen präsentiere. Als träumerischer Mensch ziehe ich mich eher zurück. Als kurativer Mensch folge ich dem Mainstream. Als fanatischer Mensch kämpfe ich für meine Überzeugungen. Als Poet suche ich nach den feinen Verbindungen zwischen mir, meinem Umfeld und der Welt.

Auf der emotionalen Zwischenebene des Lebensbaums finden wir die Aspekte Stärke, Güte und Wesenskern. Woraus ziehe ich meine Energie? Über Ruhemomente im Leben, ein Feuer, das in mir für ein bestimmtes Thema brennt oder spannende Gespräche mit Freunden? Und wie steht es mit meiner Geduld für mein Umfeld? Was muss ich aushalten, weil es bei anderen Menschen keinen Umschaltknopf gibt? Was wiederum kann ich selbst gütig geben? Wissen, Humor, Gelassenheit oder Optimismus vielleicht? Die gebende Güte und geduldige Stärke bilden gemeinsam zwei wesentliche Aspekte unseres Wesenskerns. Was macht mich als Mensch aus? Die Neugier auf Menschen und das Staunen eines Kindes? Oder der untrügliche Glaube daran, dass jeder Mensch das Potential mitbringt, genau das aus sich zu machen, wes ihn glücklich macht. Und zeige ich mit meiner Identität aus dem unteren Bereich des Lebensbaums das, was mir persönlich wirklich am Herzen liegt? Oder bin ich als Arrangeur lediglich ein Spiegel der Zeit, hänge als Träumer einem Wunschtraum nach oder kämpfe als Kämpfer gegen Windmühlen?

Auf der letzten Ebene geht es endlich um das Denken, die Transzendenz und damit die Verbindung mit dem großen Ganzen, mit der großen mythischen Erzählung des Mensch-Seins. Hier stelle ich mir die Frage, welche persönlichen Erkenntnisse mich prägen. Aus diesen Erfahrungen generiere ich Weisheiten, die wie Glaubenssätze mein Leben prägen. Die Erkenntnis, das eigene Leben von anderen abhängig zu machen oder vor lauter Träumen nicht zum eigenen Leben zu kommen könnte zur Weisheit führen, es sich manchmal schwerer machen zu müssen, indem ich meine eigene Meinung äußere oder das banale Notwendige im Leben tun muss, um mich und meinen Wesenskern wieder zu spüren. Die Erkenntnis stetig anzuecken könnte zur Weisheit führen, es sich manchmal leichter machen zu müssen, indem ich die eigene Meinung nicht als absolut nehme, um mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und zu erfahren, was sie bewegt. Im letzten Punkt, der Krone in der Kabbalah, stellt sich die Frage nach unseren kosmischen Verbindungen? Wir sind wir und weder Alles, noch Nichts, sondern lediglich ein Teil des Ganzen. Wir sind wie ein vermeintlich unbedeutendes Puzzlestück. Dabei wissen wir alle, wie ärgerlich es ist, wenn am Ende ein Teil fehlt. Wir wollen alle gehört, wahr- und ernst genommen werden. Wir suchen nach einem Platz auf der Welt, um unseren Wesenskern über unsere Identität ausleben zu können. In der Familie, in Freundschaften und in der Arbeit. Wir suchen nach einer Heimat, mit Werten, die uns alle miteinander verbinden. Wir wollen unseren Kindern einen bewohnbaren Planeten hinterlassen. Wir sind alle auf der Suche nach einem Sinn. Wir suchen nach Schönheit, die wir in kulturellen Errungenschaften eher entdecken als in rastlosem Konsum. Die Schönheit liegt in der Musik, in der Poesie, im Miteinander. Wir finden Sinn im Gestalten. Im Schöpferischen. In der Mit-Arbeit. Der Beteiligung in Unternehmen.

Als Anfänger in die Welt geworfen, müssen wir die Welt für uns entdecken. Das Erlebte hilft uns dabei, die Welt lebbar zu machen. Jeden Morgen stehen wir auf und können uns neu entscheiden, was wir mit unserem Leben anfangen wollen. Verbeiben wir in der kapitalistischen Denkweise des Höher, Schneller, Weiter? Oder fragen wir unseren Körper, was er braucht, damit es genug ist? Die Erkenntnis der „Genug“ ist gefährlich. Wir würden aufhören sinnlose Dinge zu kaufen und zu verschenken und damit beginnen, uns authentische Worte zu schenken. Wir würden aufhören, uns abzuarbeiten mit der Hoffnung auf ein schöneres Später und damit beginnen, das zu tun, was Menschen auf dem Sprung ins Jenseits in der Rückschau bedauern: Mehr Zeit mit Kindern verbringen, die Eltern gut in den Tod zu begleiten, Beziehungen und Partnerschaften intensiver leben, die Welt bereisen und die eigenen Träume verwirklichen. Die Besinnung auf das eigene Glück jedoch ist zutiefst revolutionär, weil es dem vorherrschenden kapitalistischen Modell widerspricht. Die unendlichen Möglichkeiten der heutigen Welt, seien es Ausbildungen, Konsumgüter oder die Welt des Internet, brauchen ein Regulativ, das nur wir selbst, unser Spüren und Fühlen sein kann. Daher sollten meine täglichen Fragen lauten: Wer bin ich? Was brauche ich, um glücklich zu sein? Und brauche ich genau das, was mir gerade angeboten wird, um ich zu sein?

Die psychotische Gesellschaft, Teil II: Philosophische Ursprünge

Spüren im Jetzt oder Denken in die Zukunft?

Während Geflüchtete in ihrem Land nicht mehr leben können, weil sie verfolgt werden, haben die Menschen im Nordwesten ihre innere Heimat, ihren inneren Kompass verloren. Sie wissen nicht mehr, wofür sie stehen, was gut oder falsch ist. Manche flüchten sich in Autoritäts- oder Wissenschaftsgläubigkeit, andere in Verschwörungstheorien. Die Gesellschaft spaltet sich auf und zieht klare Grenzen. Diese Spaltung der Wahrnehmung der Wirklichkeit wurde durch zwei uralte Philosophien geprägt. Zum einen durch das Transzendente, das davon ausgeht, dass jeder alles werden kann, wohl am stärksten durch Rene Descartes Ausspruch „Ich denke, also bin ich“ geprägt. Daraus entwickelte sich der Gleichheitsgedanke. Jeder kann alles werden, was er will. Jeder kann Erfolg haben. Er muss sich nur anstrengen. Jeder hat dieselben Rechte im Leben. Die Idee der Chancengleichheit im Leben ist charmant. Da jedoch in der realen Welt nicht jeder gleich am Leben teilhaben kann, weil die Ressourcen von Anfang an ungleich verteilt sind, lässt sich diese Idee nur zum Teil umsetzen. Zudem negiert das Prinzip der Gleichheit den Respekt vor unseren Unterschieden und damit vor der Schönheit des Individuellen. Jeder einzelne Mensch muss seinen eigenen Anteil am Leben suchen. Hat jedoch jemand nicht den Anteil am Leben, der ihm versprochen wird, kann er die Schuld daran an der Gesellschaft suchen, die ihn daran hindert oder an sich selbst. Früher ging die Wut nach innen. Im Zeichen der Cancel-Culture-Debatte geht die Wut nach außen.

Die zweite Theorie, die letztlich auf Aristoteles zurückgeht, nimmt an, dass wir alle unterschiedlich sind. Sie ergänzt den theoretischen Gedanken der Gleichheit um die Erfahrung in der individuellen Realität. Wenn jedoch alle Menschen verschieden sind, haben sie unterschiedliche Chancen, am Leben teilzunehmen und Erfolg zu haben. Die unterschiedlichen Ressourcen werden bestimmt durch die Körperkraft, das Aussehen, das Auftreten, das Geburtsland, die vorhanden Finanzen, Unterstützer, usw. Während die Theorie der Transzendenz folglich in einer geistigen Zukunft der Möglichkeiten spielt, orientiert sich die Theorie der Individualität an im weitesten Sinn körperlichen Begebenheiten im Hier und Jetzt. Utopie versus Realismus. Notwendigkeit versus Träume. Spüren versus Denken. Endlichkeit versus Ewigkeit. Sein versus Entwicklung.

Treffen sich die beiden Aspekte der individuellen Durchsetzung mit den potentiellen Chancen haben wir die extreme Form des „american way of life“ bzw. des Neoliberalismus oder -kapitalismus. Mach was aus deinem Leben, bevor es andere tun.

Während die Individualisten die positive Vision der Emanzipation und Weiterentwicklung jedes einzelnen Menschen verfolgen, träumen die Transzendenz-Anhänger von der großen mythischen Erzählung, die alle Menschen miteinander verbindet.

Beide Philosophien könnten uns stabilisieren. Die Rückbesinnung auf das eigene Leben und die eigenen Bedürfnisse ebenso wie gemeinsame kulturell verbindliche Werte. In einer rastlosen Welt scheint beides abhanden gekommen zu sein. Kulturelle Werte diffundieren ebenso wie der Bezug zu sich selbst. Stattdessen verlieren wir uns im Denken der Möglichkeiten und schaffen es nicht mehr, zu bewerten, was uns wirklich wichtig ist. Uns fehlt die Regulation im Leben. Alles kann, nichts muss.