Wir leben derzeit in einer Welt, die dadurch geprägt ist, es uns leicht zu machen. Der Philosoph Byung-Chul Han spricht sogar von einer Palliativ-Gesellschaft: Wir vermeiden Ängste und Schmerzen wo immer es möglich ist:
- Sind wir müde, trinken wir einen Kaffee.
- Schmerzt der Kopf, gehen wir nicht eine Runde spazieren oder ruhen uns aus, sondern werfen eine Schmerztablette ein.
- Der Tod als Zeichen unserer Vergänglichkeit und damit des größten anzunehmenden Schmerzes findet kaum noch in den eigenen vier Wänden statt, sondern in Heimen und Krankenhäusern.
- Passt jungen Menschen der Job nicht mehr, wechseln sie.
- Und Unternehmen haben Angst davor, zu viel von Bewerber*innen zu verlangen (Stichwort Personalmangel), weil sich diese dann für ein anderes Unternehmen entscheiden.
Dabei fällt mir die Diskussion um eine Cancel-Culture ein, in der viele Menschen meinen, nicht mehr alles sagen zu dürfen. Vielleicht ist es ganz anders. Vielleicht können wir nach wie vor alles sagen, bekommen jedoch
- mehr Gegenwind über digitale Plattformen,
- trauen sich mehr Menschen, dagegen zu halten, und
- haben wir vor Kritik mehr Angst als früher, weil wir Gegenwind nicht mehr gewohnt sind.
All das ist gelinde gesagt schade. Denn Weiterentwicklung findet nicht nur statt, wenn wir positiv miteinander kommunizieren. Im Gegenteil: Eine zu positive Kommunikation ist falsch verstandene Liebe. Ist mir jemand wirklich wichtig, fordere ich ihn heraus. Ich gebe ihm oder ihr ein kritisches Feedback, an dem er oder sie sich weiterentwickeln kann.
Ich persönlich bin dahin gelangt, wo ich heute stehe, weil ich in meinem Leben sehr viel Respekt hatte und immer noch habe. Respekt ist sozusagen der freundliche Bruder der Angst. Aus Respekt bereite ich mich auf jeden Auftrag genau vor, weil Ärzt*innen anders ticken als Amtsleitungen einer Stadtverwaltung. Es gibt in meinem Beruf kein “One Size Fits All”. Sollte wieder Erwarten etwas schief gehen, ist das schmerzhaft. Es wäre jedoch dumm, aus einem Scheitern nichts zu lernen.
Weiterentwicklung braucht daher nicht nur ein positives Umfeld, in dem wir angstfrei diskutieren können, sondern auch genügend Reibung und einen gesunden Respekt voreinander, sowie den Respekt vor der Wichtigkeit von Aufgaben und Projekten.
Respekt wird mittlerweile mehr als Respekt für etwas (externer Link) dargestellt: Respekt für die Rechte anderer im Sinne von Zusammenhalt und Solidarität. Der Respekt vor etwas beinhaltet jedoch auch eine Angst-Komponente: Ich habe Respekt vor meinem/r Chef*in oder einer schwierigen Aufgabe. Wer als Surfer*in keinen Respekt vor hohen Wellen hat, sollte es besser bleiben lassen. Diese Art des Respekts geriet in den letzten Jahren ein wenig in Vergessenheit.
Wer jedoch keinen Respekt vor einem möglichen Scheitern hat, strengt sich nicht an. Deshalb braucht es auch klare Leitlinien in Organisationen und Führung, als Orientierung um Erwartungen zu verdeutlichen. Nur wenn definiert wird, was eine gute Arbeit und eine gute Zusammenarbeit bedeuten, kann diese auch angestrebt und gemessen werden. Eine gute Orientierung dafür bietet ein Wertekompass, den ich hier detailliert beschreibe.