Unternehmen als Träger kultureller Kontinuität: Hoffnung über das eigene Wirken hinaus

In einer Zeit, in der neoliberale Ideale wie Konkurrenzdenken, Selbstoptimierung und kurzfristige Gewinnmaximierung ins Zentrum rückten, reduzierte sich auch die menschliche Existenz zunehmend auf das Individuum, während das Gemeinschaftliche nach und nach verkümmerte. Dieses Phänomen gilt auch in der Arbeitswelt. Früher erfüllten Unternehmen nicht nur die Funktion einer Bühne für persönliche Interessen, sondern boten auch Räume kollektiver Identität, in denen Mitarbeiter*innen Teil einer Geschichte wurden, die Generationen überdauerte.

In Zeiten des Postoptimismus westlicher Gesellschaften (Stichwort: Nullwachstum) scheint der Traum des persönlichen Aufstiegs mehr und mehr ausgeträumt. Damit einher verbindet sich die Chance, das Individuum wieder für gemeinschaftliche Ideen zu gewinnen. Wenn schon ein persönlicher Aufstieg immer weniger realistisch erscheint, wäre es fahrlässig, diese Krise nicht gleichzeitig als Chance zu sehen, darüber nachzudenken wie ein gutes (Arbeits-) Leben im Kollektiv aussehen könnte.

Da die Arbeitswelt einen zentralen Raum im Leben von Menschen einnimmt, bietet es sich an, dass Unternehmen – ähnlich wie und gleichzeitig anders als früher – (wieder) als identitätsstifte Organisationen auftreten, um die Möglichkeit eines solchen kollektiv-besseren Lebens anzubieten.

1. Historische Funktion von Tradition in Unternehmen

Früher verstanden sich viele Betriebe – von Handwerksfamilien bis zu Industriekonzernen – als Glieder einer längeren historischen Kette. Mitarbeiter*innen traten nicht nur in ein Unternehmen ein, sondern in ein Projekt, das vor ihnen begonnen hatte und nach ihnen weiterging.

Diese historische Tiefe erzeugte ein Gefühl von Sinn und Stolz, das weit über das individuelle Arbeitsleben hinausreichte. Friedrich Hegel nannte das den „objektiven Geist“: Die Arbeit des Einzelnen wurde eingebettet in ein größeres kulturelles Ganzes, das Identität stiftete und eine Hoffnung auf Fortsetzung vermittelte.

2. Der Bruch im neoliberalen Zeitalter

Wer sich wie ich intensiv mit dem Thema Hoffnung auseinander setzt, stößt zwangsläufig auch auf die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Die zentrale Aussage dieses Phänomens lautet: Auch wenn mein Leben aktuell nicht großartig ist, ich die Belastungen jedoch annehme und ein gutes Leben führe, werde ich dafür im Jenseits belohnt. Selbst die protestantische Idee der innerweltlichen Askese, die aus einem gottesfürchtigen ein fleißiges Leben machte, blieb der Belohnung im Jenseits treu.

Mit der neoliberalen Wende der letzten Jahrzehnte wurde diese Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits durch eine Veränderung der Zeitstruktur in der Wirtschaft nach und nach unterbrochen.

Eine Zeitlang galt noch das Mantra, wir würden dafür arbeiten, dass es unsere Kinder eines Tages besser haben würden. Die historische Dimension hatte sich bereits hier vom Jenseits auf das Diesseits verlagert.

Mittlerweile gilt auch diese Verbindung nicht mehr. Nun geht es für viele Mitarbeiter*innen nur noch darum, für sich selbst zu arbeiten, nicht mehr für die eigenen Kinder und nicht mehr für die langfristige Entwicklung eines Unternehmens.

Die Unternehmen selbst sind an dieser Entwicklung freilich nicht unschuldig, können sich also nur bedingt über eine mangelnde Bindung an ihr Unternehmen beklagen, da langfristige Perspektiven durch Projekt- und Quartalslogiken ersetzt wurden. Unternehmen verloren ihre Selbstdefinition als kulturelle Institutionen und wurden zu temporären Aggregaten von Kapital und Effizienz. Nun ging es nicht mehr um eine gemeinsame kulturelle Identität, in der zusammen Ideen umgesetzt wurden, worauf die Mitarbeiter*innen stolz waren, sondern um das Erreichen von Projekt- und Jahreszielen. Smarte Ziele ersetzten Werte. Leistung wurde wichtiger als Zugehörigkeit.

Die emotionale Bindung zwischen Mensch und Organisation zerfiel aufgrund der Austauschbarkeit: Der Stolz auf eine gemeinsame Tradition verschwand. Die Hoffnung auf eine langfristige Kontinuität, in der einzelne Mitarbeiter*innen lediglich Teilziele im großen Ganzen als Vorarbeit für ihre Nachfolger*innen erfüllen müssen, um zufrieden zu sein, wurde durch kurzfristige Ziele ersetzt.

3. Wege zu einer neuen kulturellen Identität

In die alte Welt zurück zu kehren ist freilich weder möglich noch sinnvoll. Die Welt lässt sich schließlich nicht zurück drehen. Immerhin erhöht die kulturelle Herauslösung des Individuums aus kollektiven Kontexten die Flexibilität sowohl von Unternehmen als auch von Mitarbeiter*innen, um auf einem globalen Markt einzustellen und aufzutreten. Gleichzeitig lässt sich auch auf Distanz Bindung durch eine kollektive Identität herstellen, die über das eigene Ego hinaus geht. Damit wiederum wird nicht nur eine historisch-kollektive Identität aufgebaut, sondern auch der Druck von einzelnen Personen genommen: „Du musst die Welt nicht alleine retten. Es reicht, wenn du ein Teil unseres Welt-Verbesserungs-Projekts bist.“

a) Erzählung statt Image

Unternehmen brauchen (wieder) eine narrative Identität, die nicht nur Produkte oder Marken bewirbt, sondern Bedeutung stiftet. Geschichten über Werte, Handwerk, Verantwortung und Gemeinschaft eröffnen eine symbolische Dimension, die über die bloße Gegenwart hinausweist.

Ein Beispiel:Das Unternehmen Faber-Castell betont seine über 250-jährige Tradition und die Verbindung von Handwerk, Kreativität und Nachhaltigkeit. Mitarbeiter*innen sehen sich als Teil einer langjährigen Geschichte, die weit über ihre eigene Karriere und damit den eigenen „beruflichen Tod“ hinausgeht.

b) Zukunft als Fortsetzung der Tradition

Dabei geht es nicht darum eine museale Tradition zu verfolgen, weil früher (anscheinend) alles besser war. Vielmehr lassen sich in der eigenen Tradition die Wurzeln für zukünftige Innovationen finden. Die eigene Geschichte bietet nicht nur eine kulturelle Identität, aus ihr lässt sich auch für die Zukunft lernen.

Ein Beispiel: BMW verbindet die eigene 100-jährige Unternehmensgeschichte mit innovativer Mobilität. Design, Handwerk und Technologie werden nicht nur für den Markt entwickelt, sondern als Teil eines kulturellen Erbes verstanden. Daher gibt es eine Wertschätzung sowohl für alte fossile BMWs als Liebhaberstücke, als auch für neue Entwicklungen auf dem E-Auto-Markt. Das Alte muss daher weder verteufelt, noch glorifiziert werden, um in die Zukunft zu blicken.

c) Langfristige Verantwortung

Die Verantwortung eines Unternehmens sollte wieder verstärkt über kurzfristige Kennzahlen hinaus gedacht werden. Wer ökologische, soziale oder kulturelle Konsequenzen seines Handelns einbezieht, etabliert eine Kontinuität, die Generationen überdauert.

Ein Beispiel:Das Outdoor-Bekleidungs-Unternehmen Patagonia setzt konsequent auf ökologische Nachhaltigkeit. Die Mitarbeiter*innen wissen, dass ihr Handeln langfristige Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und kommende Generationen hat. Diese Denkweise ist das klare Signal einer Hoffnung, dass das persönliche Wirken über das eigene Leben hinaus geht.

d) Gemeinschaft statt Marktlogik

Hoffnung entsteht dort, wo Menschen sich als Teil eines größeren Wir erleben. Unternehmen können dies fördern, indem sie Zusammenarbeit, Solidarität und kollektive Aufgabenstrukturen bewusst gestalten.

Aus diesem Grund reflektiere ich in meinen Seminaren regelmäßig die Belohnungskultur der Unternehmen meiner Führungskräfte:

  • Wofür bekommen eure Mitarbeiter*innen Lob und Anerkennung? Wenn sie sich abgrenzen und nur für sich arbeiten? Wenn sie bringen? Oder wenn sie eigene Aufgaben hinten anstellen und andere unterstützen?
  • Wann hat jemand einen hohen Status und wird von anderen bewundert? Wenn jemand sich um seine eigene Karriere kümmert oder sich für andere einsetzt?

Ein Beispiel: Die dänische Firma Novo Nordisk pflegt ein starkes internes Gemeinschaftsgefühl, das über reine Profitziele hinausgeht. Initiativen wie gemeinsame Gesundheitsprojekte oder gesellschaftliches Engagement vermitteln den Mitarbeiter*innen einen Sinn jenseits individueller Karriereziele.

4. Unternehmen als Sinn ermöglichende Mit-Welt

Philosophisch betrachtet ist das Unternehmen nicht nur eine Produktionsgemeinschaft, sondern auch und vor allem als Mit-Welt ein Raum, in dem Menschen Sinn, Wirkung und Verantwortung erfahren:

  • Ich mache etwas, das anderen Menschen das Leben verbessert oder erleichtert.
  • Würde ich dies nicht tun, wäre die Welt ärmer.
  • Gleichzeitig ist mein Schaffen lediglich ein Teil von etwas Größerem.
  • Mein Unternehmen bietet mir einen Rahmen, in dem dieses Größere zusammen mit anderen ermöglicht wird.
  • Dadurch dass mein Unternehmen langfristig agiert, wird es auch nach meinem beruflichen Ausscheiden noch da sein und weiterhin Großes leisten. Ich selbst kann meinen Beitrag dazu leisten.
  • Wenn ich eines Tages dieses Unternehmen verlasse, reiche ich den Staffelstab weiter, damit mein Wirken weiter geht.

Der Philosophin Hannah Arendt zufolge bedeutet Handeln, einen Anfang zu machen, dessen Folgen unabsehbar sind. Unternehmen, die dies ernst nehmen, erlauben Mitarbeiter*innen, ihren Beitrag zu einer Zukunft zu leisten, der größer ist als sie selbst. So wird Arbeit zur Praxis des jenseitigen Hoffens, nicht in einem metaphysischen Jenseits, sondern in einem sozialen, kulturellen und ökologischen Kontinuum.

Fazit und Ausblick

Die Wiedergewinnung kultureller Identität in Unternehmen ist nicht nostalgisch, sondern erscheint in einer Zeit hoher Fluktuation und schwindender Bindungen existenziell notwendig. Sie eröffnet Räume für eine gestalterische Hoffnung, die nicht im Ego endet, sondern über Generationen hinaus wirkt. Die Wiederentdeckung einer kulturellen Identität schafft damit zweierlei:

  1. Sie gibt Menschen das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, wodurch sie die Motivation in Zeiten abnehmenden Engagements in Unternehmen wieder erhöht.
  2. Sie befreit den Menschen aus der Denkweise, nur für sich selbst verantwortlich und damit auch Schuld an Problemen zu sein.

Die konkreten Beispiele zeigen, dass Tradition, Verantwortung, Gemeinschaft und Innovation keine Gegensätze sein müssen, sondern Hand in Hand gehen, wenn Unternehmen (wieder) zu Orten werden, an denen Menschen erkennen, dass ihr Tun Bedeutung in der Welt hat. In einer Welt, die neoliberale Effizienz oft über alles stellt, liegt darin die größte Form menschlicher Hoffnung: Die Hoffnung über das eigene Leben hinaus eine positive Wirkung zu haben.