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Über die Illusion einer perfekten Welt

Wir gehen i.d.R. davon aus, dass etwas Ganzes das Normale ist, beispielsweise Gesundheit oder Glück. Was wäre jedoch, wenn nicht die Ganzheit, sondern – passend zu meinem letzten Artikel über die Philosophie des Kintsugi – die Abweichung das eigentlich Normale im Leben ist? Es gibt vermutlich keinen Menschen auf der Welt, der noch niemals krank war. Und jeder Mensch hat irgendeinen psychischen oder physischen Makel. Abweichungen sind normaler als wir denken. Aus diesem Grund sind Perfektionismus und Vollkommenheit eine Illusion. Die meisten von uns ekeln sich vor Exkrementen, obwohl wir alle Ausscheidungen von uns geben. Anders formuliert: Auch hübsche Frauen haben Blähungen. Gesundheit, Gerechtigkeit oder Frieden sind Illusionen, die uns eine Vollkommenheit vorgaukeln, die es anzustreben gilt, auch wenn Krankheit, Ungerechtigkeit und Krieg der Normalfall sind. Die wahre Ganzheit besteht folglich in der Anwesenheit von Abweichungen. Unsere Illusionen jedoch täuschen uns vor, dass es eine heile Welt geben könnte. Deshalb passen Krieg und Folter nicht in unser Weltbild. Sie würden unsere Vorstellung von einer funktionierenden Welt zerstören. Wenn jedoch Ungerechtigkeiten Teil aller gesellschaftlichen Systeme sind, lassen sie sich – wie uns vorgespielt wird – nicht partiell abschaffen. Stattdessen müssen Ungerechtigkeiten bestehen bleiben, um das System als Ganzes zu erhalten. Wenn wir also die Ungerechtigkeit für eine soziale Gruppe verringern, muss die Ungerechtigkeit für eine andere soziale Gruppe zunehmen. Alles andere wäre eine Utopie, die zwar nicht der Realität entspricht, uns jedoch den Glauben an die Menschheit erhält. Es könnte sein, dass Mark Twain genau das meinte, als er schrieb „sein Wahnsinn hält ihn bei Verstand“.

Was also folgt daraus?

  1. Akzeptanz von Abweichungen: Wir sollten Abweichungen nicht als negativ betrachten. Krankheiten gehören genauso zur Gesundheit dazu wie Fehler zur Qualität oder kritische Meinungen zum Diskussionen.
  2. Illusionen als Antrieb im Leben: Auch wenn es frustrierend ist zu wissen, dass Illusionen lediglich dazu da sind, in unserem Geist eine Welt aufrecht zu erhalten, die in der Realität niemals genau so stattfinden wird, brauchen wir diese Wunschbilder von einer besseren Welt. Wir brauchen die Vorstellung von Gerechtigkeit am Arbeitsplatz oder die Vorstellung von gleichen Chancen für alle als Antrieb im Leben.
  3. Kompromisse in der Realität: Gleichzeitig brauchen wir die Fähigkeit, Kompromisse in der Realität auszuhandeln. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Vorstoß einer neuen Gerechtigkeit zu neuen Ungerechtigkeiten führt, ist es wichtig, auf daraus entstehende Machtkämpfe vorbereitet zu sein. Bekommt eine soziale Gruppe neue Privilegien, muss eine andere soziale Gruppe zurückstecken bzw. lernen sich solidarisch zu zeigen.