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Warum wir einen Paradigmenwechsel in Mitarbeiter-Seminaren brauchen

Von der Führungsmacht zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe

In Zeiten von Agilität, Partizipation und Homeoffice haben Führungskräfte immer weniger direkten Einfluss auf ihre Mitarbeiter*innen. Stattdessen nimmt die Macht der Mitarbeiter*innen – auch durch den Fachkräftemangel – immer mehr zu. Mit dieser neuen Macht ist jedoch auch eine neue Verantwortung verbunden, derer sich viele Mitarbeiter*innen noch nicht bewusst sind. Wollen sie dieser neuen Macht gerecht werden, braucht es in Zukunft für Mitarbeiter*innen mehr als nur die üblichen Zeit- und Projektmanagement-Trainings, damit Teams in Zukunft nicht nur arbeitsfähig, sondern auch intern stabil bleiben.

Warum führt Macht zu Stabilität in einem Team?

Ein Team besteht nicht nur aus einer Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben. Diese Gruppe wird auch durch ein unsichtbares Band zusammengehalten, auf das sich, im Falle eines stabilen Teams, alle einlassen, meist ohne darüber zu sprechen. Um dieses Band genauer zu definieren, sollten wir über einen Begriff sprechen, der in Zeiten der Agilität, Gleichberechtigung und Führung auf Augenhöhe aus dem Blick geraten ist. Sprechen wir also über Macht.

Die Konflikttheorie des Soziologen Max Weber besagt, dass Macht mit der tatsächlichen oder potentiellen Ausübung von Gewalt zusammenhängt. Auf gesellschaftlicher Ebene mag dies oftmals stimmen: Wenn ich mit meinem Auto ohne Nummernschild durch die Gegend fahre, von der Polizei angehalten werde und daraufhin eine Diskussion beginne, muss ich auf die eine oder andere Weise mit Gewalt rechnen. In beruflichen Situationen spielt Gewalt jedoch eine untergeordnete Rolle. Und dennoch gibt es mehr oder weniger klare Machtverhältnisse, an die sich die Menschen weitgehend halten.

Zur Erklärung der Gründe dieses Zusammenhalts ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt entwickelte die Philosophin Hannah Arendt die Konsenstheorie: In einem sozialen Kontext haben alle Parteien ein Nutzen durch die Verteilung von Macht. Die Manager*innen und Führungskräfte bekommen mehr Geld und haben mehr Mitbestimmungsrechte, was für sie häufig mit der Freiheit zu tun hat, sich die eigene Zeit selbst einzuteilen und Aufgaben zu erledigen, die ihnen attraktiver vorkommen. Die Mitarbeiter*innen wiederum vertrauen darauf, dass ihre Chef*innen sie vor Angriffen von außen schützen, bspw. vor verbal übergriffigen Kund*innen, auch mal länger bleiben, wenn etwas dringend erledigt werden muss, während sie sich an einer regelmäßigen Arbeitszeit orientieren und sich nicht unbedingt einen Kopf um die langfristigen und externen Konsequenzen ihrer Arbeit machen müssen. Zudem investieren Führungskräfte i.d.R. mehr Zeit und Mühen, um sich Wissen und Führungskompetenzen anzueignen. Zeit, die die restliche Belegschaft lieber in private Belange investiert.

Aufgrund dieser Vorteile sind Mitarbeiter*innen in der Regel gerne bereit, auf eine umfassende Mitbestimmung zu verzichten. Lassen sich beide Seiten auf diesen Deal ein, erhöht dies die Stabilität in einem Team, weil eindeutig geklärt ist, wer wofür zuständig ist.

Systemische Gründe für eine akzeptierte Machtverteilung

Neben diesen persönlichen Gründen gibt es noch weitere gruppendynamische Argumente für eine Akzeptanz der Verteilung von Macht:

  • Konfliktvermeidung: Sich um Macht zu streiten kostet Energie, die zur Erreichung des Ziels einer Gruppe besser investiert werden kann.
  • Bindung: Menschen wollen dazu gehören. Wer sich unterordnet oder sich eine Nische im System sucht, ohne sich auf einen Machtkampf einzulassen, riskiert in Folge auch keinen Ausschluss aus der Gruppe.
  • Status Quo-Bewahrung: Wer sich einmal auf ein System eingelassen hat, arrangiert sich selbst bei Unzufriedenheit lieber mit dem Status Quo als sich mit Machthabenden anzulegen. Die Folgen eines solchen Machtkampfes können unkalkulierbar sein, sind jedoch mindestens mit Stress verbunden.

Kulturelle Regeln vs. Sanktionsregeln

Dieses unbewusste Band wird durch meist ebenso unausgesprochene kulturelle Regeln gelebt. Solche Regeln lassen sich als Wenn .., dann …-Verknüpfungen erfassen und beziehen sich auf alles Mögliche rund um die Zusammenarbeit:

Lob und Kritik:

  • Wenn ich anderer Meinung bin als mein Chef, (dann) kläre ich das unter vier Augen, um seine Machtposition nicht zu gefährden, indem ich ihn öffentlich herausfordere.

Arbeitsethos:

  • Wenn mein Chef länger bleibt, (dann) heißt das noch lange nicht, dass ich auch länger bleiben muss.
  • Wenn ich doch einmal gezwungen bin, „die Extrameile zu gehen“, (dann) sollte das eine Ausnahme sein. Zudem erwarte ich ein Extralob oder eine anderweitige Vergütung.

Wollen Sie selbst den Regeln in Ihren Teams auf den Grund gehen, fragen Sie sich:

  • Wofür bekommen die Teammitglieder Anerkennung?
  • Wofür werden sie bewundert?
  • Was darf nicht angesprochen werden, wird aber dennoch befolgt?

Sollte es in Ausnahmefällen doch einmal nötig sein, wird mittels Sanktionsregeln auf die Gewaltkomponente als eine Art Joker zurückgegriffen, die ebenfalls als Wenn …, dann …-Regeln funktionieren:

  • Wenn jemand dauerhaft gegen Arbeitsregeln verstößt, bekommt er oder sie eine Abmahnung.

Die Regel lautete bislang: Je weniger offizielle Sanktionen notwendig sind, desto mehr halten sich die Teammitglieder an inoffizielle kulturelle Regeln und desto stabiler ist ein Team.

Die „Neue Normalität“ als Irritation

In neuer Zeit hat dieses System einen Riss bekommen und dies nicht erst seit Corona:

  • Agilität und Partizipation: Teamleitungen ohne Weisungsbefugnis, wie es in agilen Teams häufig der Fall ist, verfügen kaum noch über Macht. Damit greift die alte Aufteilung zwischen Mächtigen, die mehr leisten und auch mehr Befugnisse haben und weniger Mächtigen mit klaren Arbeitszeiten nicht mehr. In einem Team zu arbeiten, das alles zusammen entscheidet, macht sicherlich mehr Spaß, als in einem streng hierarchischen Team zu sein. Ob jedoch alle auch gerne länger bleiben, wenn es notwendig ist, hängt meist von den familiären Rahmenbedingungen der Mitarbeiter*innen ab. Zudem gibt es immer noch Menschen, die sich lieber als andere weiterbilden und dafür vermutlich auch einen Macht-Benefit in Unternehmen erwarten. Was würde jedoch passieren, wenn es diesen nicht mehr gibt?
  • Eigeninitiative im Homeoffice: Die Arbeit im Homeoffice führt automatisch zu mehr Eigenverantwortung. Und Eigeninitiative kann eine feine Sache sein, wenn Mitarbeiter*innen dies wollen. Manche Mitarbeiter*innen sind jedoch überfordert bei so viel Verantwortung. Während sie früher von der Arbeit nach Hause gingen, selbst, wenn eine dringende Aufgabe noch nicht erledigt war, mit dem Vertrauen darauf, dass ihr/e Chef*in den Rest erledigen wird, sind sie nun stärker auf sich alleine gestellt. Die Erwartungen an jede/n Einzelnen sind definitiv gestiegen.
  • Krisen und Dauerbelastungen: Lautete der Deal früher für Mitarbeiter*innen „Ich mache meinen Job, aber mehr auch nicht“, wird nun dauerhaft von ihnen verlangt, in unterbesetzten Teams mehr zu leisten als früher, oftmals jedoch ohne die Sicherheit zu haben, dass sie ihren Job auch morgen noch haben werden. Ob dies für sie unangenehm ist, hängt von der jeweiligen Branche und dem entsprechenden Fachkräftemangel ab. Bei vielen Mitarbeiter*innen (und Führungskräften ebenso) geht dies auch an die körperliche Substanz bis hin zu somatischen Beschwerden wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen oder psychischen Beschwerden wie Depressionen oder einem Burnout.

All dies zeigt uns, dass das bisherige Konsensmodell der Machtverteilung in weiten Teilen nicht mehr greift und damit die Stabilität in vielen Teams gefährdet:

  • Ob in agilen Teams oder im Homeoffice: Die Verantwortung für Ergebnisse hängt nicht mehr final von der Führungskraft ab, sondern wird im besten Fall auf alle Schultern verteilt.
  • Bei einer Führung auf Distanz entsteht zudem der Eindruck, dass Führungskräfte nicht so greifbar sind, so schnell wie vor Ort reagieren und für ihre Mitarbeiter*innen die Kohlen aus dem Feuer holen können, wobei dies v.a. ein psychologischer Faktor ist. Selbst wenn die alten Machtverhältnisse aufrecht erhalten bleiben, ist es für Mitarbeiter*innen schwer, die Signale der Macht zu deuten und damit Klarheit darüber zu erlangen, wem sie aufgrund eines souveränen Auftretens als Führungskraft Macht zutrauen und wem nicht.
  • Am schwersten wiegt jedoch die derzeitige Dauerbelastung: Während Mitarbeiter*innen früher leichter abschalten konnten, werden sie heute mehr in die Pflicht genommen, was die Gefahr mit sich bringt, dass sich manche überarbeiten, während sich andere vehementer als früher abgrenzen und egoistischer werden.

Kulturelle Regeln bewusst machen

Insbesondere der letzte Punkt eröffnet die Gefahr, verstärkt mit Sanktionen gegenüber sich egoistisch Abgrenzenden zu arbeiten, da diese leichter umzusetzen sind, als über kulturelle Regeln der Zusammenarbeit zu sprechen. Dabei würde genau das zu einer nachhaltigen Stabilisierung führen. In diesem Sinne ist es hilfreich für Teams, den bislang unbewussten Nutzen der beiden Seiten bewusst zu machen, um zu klären, welche neuen kulturellen Regeln sich ein Team geben will, um unter neuen Bedingungen, d.h. im Homeoffice und im Rahmen einer Führung auf Augenhöhe als auch unter Dauerbelastungen stabil zu bleiben, bspw:

  • Wenn ich überlastet bin, (dann) spreche ich darüber.
  • Wenn wir gemeinsam Entscheidungen treffen, (dann) hören wir alle Meinungen im Team an, bevor wir ein finales Urteil fällen.
  • Wenn wir an unsere Grenzen kommen, (dann) gehen wir davon aus, dass jede*r sein / ihr Bestes gibt.
  • Wenn ich sehe, dass jemand dauerhaft über seine Grenzen geht, (dann) biete ich ihm oder ihr Hilfe an.

Erhöhung der sozialen Kompetenz

Die Klärung neuer kultureller Regeln machen einen Teil der sozialen Kompetenz in einem Team aus. Diese lässt sich noch weiter erhöhen, indem – insbesondere bei einer Zusammenarbeit auf Distanz – der egozentrierte Blick aller Mitarbeiter*innen immer wieder auf das soziale Zusammenspiel der Akteure gelenkt wird:

  • Wie fördern wir das Verständnis füreinander?
  • Wir bauen wir Bindungen zueinander auf und lassen tragfähige Netzwerke entstehen?
  • Welche Ziele verfolgen wir gemeinsam?
  • Wie sollten wir zusammenarbeiten, um unsere Ziele zu erreichen?
  • Was ist uns in der Arbeit und Zusammenarbeit wichtig?
  • Welches Verhalten könnte zu Missverständnissen führen?
  • Oder konkret: Wie könnte sich Kollege X fühlen, wenn er nicht weiß, wann er seine Unterlagen von Kollegin Y bekommt?

Während die soziale Kompetenz und damit Deutung von Signalen in Präsenz relativ einfach ist, kommen wir nicht umhin, die soziale Kompetenz insbesondere bei einer Zusammenarbeit auf Distanz aktiv zu fördern und weiterzuentwickeln. Letztlich brauchen also auch Mitarbeiter*innen ohne offizielle Führungsverantwortung Weiterbildungen in Kommunikation und Konfliktmanagement, die bislang v.a. Führungskräften vorbehalten waren. Um diese Lücke zu schließen bietet die Digitalisierung (kurze Online-Trainings, Lernplattformen) enorme Chancen.