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Themenfokussiertes Coaching in Krisenzeiten

Der Bedarf an Unterstützung in Krisenzeiten ist enorm. Dies legen aktuelle Zahlen von Online-Bildungsanbietern wie bspw. Udemy nahe. Gleichzeitig erlauben Krisen kaum, ein Seminar zum Thema Stressmanagement oder Führung in Krisenzeiten zu besuchen. Fachausbildungen gehen weiter. Softskilltrainings jedoch nicht. Zudem berichten Mitarbeiter zwar von einem erhöhten Stresslevel durch die Arbeit im Homeoffice. Wünschen sich jedoch lieber einen Algorithmus als wertneutralen Berater als ihre eigene Führungskraft als Seelsorger. Aus meiner Erfahrung als Führungstrainer wird mir die Rolle als Seelsorger nicht selten von Teamleitungen berichtet. Das ist also nichts neues. Dennoch, noch dazu auf Distanz, in der Krise offensichtlich schwer umzusetzen.

Es gibt folglich einen enormen Bedarf an neutraler Unterstützung, bei einer gleichzeitig kaum vorhandenen Zeit und Energie. Wenn wir davon ausgehen, dass Beratungsalgorithmen noch nicht soweit sind, dass sie wirklich flexibel auf die Sorgen der Mitarbeiter eingehen können, sollten sich Trainer und Coaches etwas einfallen lassen, um dem gerecht zu werden:

  1. Der Faktor Zeit: Führungscoachings dauern in der Regel 1-1,5 Stunden. Soviel Zeit ist aktuell nicht vorhanden. Es braucht folglich kürzere Einheiten.
  2. Inhalte: Coachings dienen normalerweise sowohl der Lösung von Problemen, als auch der Weiterentwicklung der Klient:innen. Aktuell kann es nur um die Lösung von Problemen gehen. Dazu wäre es wichtig (siehe den Faktor Zeit), bereits klare Themen im Portfolio zu präsentieren: Geht es um:
  • die Durchführung virtueller Mitarbeitergespräche und Meetings,
  • die Fallstricke einer virtuellen Kommunikation,
  • die Vermittlung von Hiobsbotschaften,
  • wertschätzende Kündigungen,
  • schnelle, agile Reaktionen in der Krise,
  • die Motivation der Mitarbeiter:innen über Durststrecken hinweg,
  • die Erhaltung des Teamgeistes in der Krise,
  • das Selbstmanagement und die Resilienz der Mitarbeiter:innen im Homeoffice
  • oder den Umgang mit Sorgen und Ängsten bei sich selbst und den Mitarbeiter:innen.

Solche Vorstrukturierungen fördern einen schnellen Einstieg in das Coaching.

  1. Distanz: Ein Coaching auf Distanz war früher undenkbar. Heute ist es möglich, auch per Video genügend Nähe herzustellen, um Probleme intensiv zu besprechen. Mehr noch: Die Distanz ermöglicht es manchen Menschen sogar freier zu sprechen als vor Ort. Diese Mischung aus Nähe und Distanz kommt einem themenfokussierten Coaching zusätzlich entgegen.

Rufen Sie mich an oder mailen mir, wenn Sie Bedarf an einem themenfokussierten Coaching haben. Gerne schicke ich Ihnen vorab ein 20-25 minütiges Audiobook zu Ihrem spezifischen Krisenthema zu. Im Anschluss klären wir kurz und knapp, wie Sie persönlich am besten die aktuellen Herausforderungen meistern.

Persönliche Transformationsprozesse in Krisenzeiten

In Krisenzeiten werden wir gezwungen uns mit einer drastischen Veränderung sowie unserem Umgang damit auseinander zu setzen. In der Regel reagieren wir auf die Veränderung aus einem ersten Impuls heraus. Manche spüren automatisch den Impuls des Widerstands. Andere würden am liebsten den Kopf in den Sand stecken, bis alles vorbei ist. Wieder andere haben Vertrauen in diejenigen, die für uns die wichtigen Entscheidungen treffen. Und eine vierte Gruppe versucht sich kritisch mit dem Thema der Veränderung auseinanderzusetzen. Dieser erste Impuls hilft uns dabei handlungsfähig zu bleiben. Für einen tieferen persönlichen Transformationsprozess ist es jedoch sinnvoll, sich intensiver damit auseinander zu setzen, was uns wirklich bewegt, was wir verändern und was wir dafür tun wollen.

Zur persönlichen Reflexion können Sie entweder einzelne Spalten oder die Zeilen dieser Heuristik durchgehen. Ein Springen zwischen Spalten und Zeilen führt aus meiner Erfahrung zu den erhellendsten Erkenntnissen.

Ausgehend von den vier impulsiven Reaktionsmöglichkeiten stellen sich im 1. Transformationsschritt des Abstands die Fragen, wogegen ich rebelliere, worauf ich mich bei mir selbst konzentrieren will und was das Ziel einer Auseinandersetzung mit mir selbst ist, auf wen oder was ich vertraue und mit welchen Themen ich mich kritisch weiter und tiefer auseinandersetzen möchte.

Im 2. Transformationsschritt geht es um die Neugier. Eine tiefere Auseinandersetzung mit meinem Gegen-Über könnte dazu führen, dass ich mir bewusst werde, was an meinem Ärger interessant ist, was ich selbst für ein Mensch bin und welche Rolle ich in meinem Umfeld spiele, woher mein Vertrauen kommt und um welche Themen es in der Veränderung zusätzlich oder wirklich geht. In der Corona-Krise geht es beispielsweise nicht nur um die Krankheit, sondern auch um Debatten zur Gleichbehandlung, Teilhabe, Diskussionskultur, Freiheit, Umweltproblematik, Überwachung, Rolle der Medien, zum Präventivstaat, Umgang mit dem Tod, usw. Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen sind deshalb so schwer zu (be-)greifen, weil in ihnen all diese tiefer liegenden Themen durcheinander auftreten.

Im 3. Transformationsschritt schließlich geht es um die Handlungen. Wogegen will ich konkret aufbegehren? Was will ich an mir verändern? Wie kann ich wieder Vertrauen zu anderen fassen? Was sollte ich dafür tun? Und was kann ich tun, um die Welt so mit zu gestalten, wie ich es für wünschenswert erachte?

Führung in und nach der Krise

Gerade in schwierigen Situationen erscheinen Standhaftigkeit und eine klare Vision über die Zukunft verbunden mit einer guten Portion Autorität wichtiger denn je. Während wir in Vor-Corona-Zeiten vom Land der glückseligen Mitbestimmung träumten, beraubte uns die Pandemie unserer schönsten Utopien. Schwarmintelligenz war gestern. In der Krise riefen die Menschen nach einer starken Hand. Die Umfragewerte der Politiker zeigen: Je strenger oder vorsichtiger, desto zufriedener sind die Bürger. Abwägende Denk- und Vorgehensweisen haben es schwer, wenn ein Virus um sich greift, das die Menschen ängstigt. Zumindest gilt das für durchschnittlich 70% der Menschen. Vermutlich spiegelt dies das klassische Verhältnis wieder, auf das wir auch in Firmen treffen: 70% wünschen sich einen klar vorgegeben Kurs. 30% würden gerne mitbestimmen oder sich zumindest einen Rest an Autonomie vorbehalten. „Wer Krise kann, kann auch Kanzler“ heißt es grammatikalisch holprig. Gilt das auch für Führungskräfte?

Dabei haben wir es hier mit einem Missverständnis zu tun. Die Mitbestimmung des Volkes stand am Höhepunkt der Pandemie ebenso wenig zur Debatte wie die Mitbestimmung der Mitarbeiter, wenn ein Unternehmen in eine Schieflage gerät. In einer Krise müssen Systeme agieren wie Hochrisiko-Organisationen. Wenn es brennt, beginnt die Feuerwehrmannschaft nicht mit Hilfe eines Redestabs zu diskutieren. Und wenn der Mann auf dem OP-Tisch am verbluten ist, braucht es keinen Diskurs über das letzte Seminar zur optimalen Desinfektion des chirurgischen Bestecks. Krisen sind Zeiten des Handelns. Zeiten für Helden und Heldinnen, wobei sich regelmäßig zeigt, dass die Domäne des Heldentums nur allzu gerne eine Männerdomäne bleibt. Liegt es Frauen nicht, sich derzeit in den Vordergrund zu drängen? Oder werden sie verdrängt von dominanten Alphamännchen?

Ob Mitbestimmung und Schwarmintelligenz in Krisenzeiten angezeigt sind, ist daher die falsche Frage. Essentieller ist die Frage: Wann ist die Krise vorbei? Morgen? Übermorgen? Oder gestern? Und woran erkennen wir, dass eine Krise überwunden wurde? An erreichten oder glücklicherweise nicht erreichten Kennzahlen? An der Stimmung der Menschen? Leben wir noch in einer Krisenstimmung? Oder fühlen die meisten von uns bereits das, was sich irgendwie als alt-neue Normalität entpuppt?

Wer sich einmal als mythischer Held beinahe altertümlichen Ausmaßes fühlen durfte, mag seinen Heldenstatus kaum freiwillig wieder abtreten. Ein Unternehmen, das aktuell nicht mehr am Rande des Untergangs steht, tut jedoch gut daran, sich auf die Intelligenz seiner vielen Mitarbeiter zu besinnen. Denn in Nicht-Krisen-Zeiten wissen viele Köpfe, die nun nicht mehr ganz so heiß laufen wie noch vor kurzem, i.d.R. mehr als ein einziger. Zudem sind Menschen, die nicht künstlich mit an Bord geholt werden müssen motivierter, wenn sie selbst mitbestimmen dürfen, wohin es lang geht.

Umgang mit extremen Meinungen

Je größer die Ängste werden, desto größer werden die im Netz aufgefahrenen Geschütze. Da ist von Mord die Rede, wenn Impfkritiker sich nicht impfen lassen. Gleichfalls könnte die Gegenpartei von Mord sprechen, wenn wir die Einsamkeit alter Menschen in Pflegeheimen betrachten. Manche wünschen sich sogar eine Erhöhung der Fallzahlen aufgrund der Demonstrationen, damit die andere Seite endlich merkt, wie ernst es ist. Bildchen mit der Ziehung der Infektionszahlen durch das RKI machen die Runde.

Andere zu überzeugen funktioniert nicht. Auch nicht mit lustig gemeinten Bildern oder kurzen Animationen, die ein schamvolles Gesicht zeigen, um der Gegenseite zu verdeutlichen, wie dumm ihr Verhalten doch ist und dass sie sich bitte schämen sollte. Scham ist genauso unangenehm wie Angst und wird nicht selten zu Wut. Damit ist nichts gewonnen. Was humorvoll gemeint ist oder aus Hilflosigkeit eingesetzt wird, damit die Gegenseite es endlich kapiert, schraubt die Eskalationsspirale nur noch höher.

Marshall Rosenberg meinte einmal: Du kannst recht haben oder glücklich sein. Beides zusammen wird schwierig.

Mediale Lagerbildungen

Wenn die Ängste zunehmen, werden auch die Mittel drastischer, die jeweils andere Seite zu überzeugen. Die Medien tun ihr übriges, um die Lagerbildung voran zu bringen. Wir Deutschen kennen das kaum. Wir hatten noch kein Brexit-Trauma, allenfalls regionale Stuttgart21-Erfahrungen. Wir haben glücklicherweise kein Zweiparteien-System, das zu einer Spaltung der Bevölkerung führt wie in den USA oder in Großbritannien. Vielleicht ist es gerade jetzt ein Problem, dass eine große Koalition in der Regierung sitzt. Dennoch leben wir immer noch in einer Demokratie mit einem mittlerweile wieder lebendigeren Parlament. Manche wünschen sich eine andere Ausrichtung unseres Gesundheitswesens und begreifen die aktuelle Situation als Möglichkeit der Weichenstellung. Weg von einem mechanistischen Denken des Pillenschluckens und Impfens, hin zu einem ganzheitlicheren Gesundheitsdenken jenseits des Pharmalobbyismus. Wir leben in einem fortschrittsgläubigen System, in dem vielleicht der Mensch an sich aus dem Blick gerät. Wir leben jedoch nicht in einer Gesundheitsdiktatur, zumindest solange jeder Mensch selbst entscheiden kann, wie er gut für sich sorgt.

Die Medien berichten nicht so, wie es sich manche wünschen. Eine gewisse Einseitigkeit wurde bereits Anfang April vom Evangelischen Pressedienst angemahnt. Dennoch leben wir nicht in einer Meinungsdiktatur. Es gibt kritische Artikel aus dem Fokus, Spiegel, Deutschlandfunk oder Freitag, um die bekanntesten zu nennen. Und Dieter Nuhr schüttet regelmäßig zünftige Kritik über der Regierung und das RKI aus.

Wir sind vielfältig

Deutschland scheint derzeit aus zwei Lagern zu bestehen: Den Maßnahmengegnern und den -befürwortern. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies jedoch nicht:

  • Es gibt sanfte Kritiker, die sich nicht äußern,
  • starke Kritiker, die auf die Straße gehen,
  • Menschen, die sich solidarisch zu den Risikogruppen positionieren und andere die sich solidarisch zu Maßnahmengefährdeten positionieren,
  • rechte Krawallbrüder und -schwestern,
  • radikale Impfgegner und Impfkritiker, die Angst vor einem zu kurz getesteten Impfstoff haben,
  • Menschen, die ihren Job verloren haben und andere, die ihn noch haben,
  • Systemrelevante und Systemirrelevante,
  • Dauerbelastete im Gesundheitswesen und andere, die ihren erzwungenen Kurzurlaub genießen,
  • alte Menschen, die Angst um ihre Gesundheit haben und junge Menschen, die Angst um unseren Planeten haben,
  • Selbständige, Künstler, Gaststättenbetreiber, etc., die nicht wissen, wie es weitergeht und andere, deren Zukunft gesichert ist.

Die „Lager“ sind wesentlich vielfältiger als sie oftmals dargestellt werden. Viele Medien machen hier nicht gerade einen mediativen Job.

Was also tun?

Was können wir tun, um wieder zu erkennen, dass wir mehr sind als nur einem Lager zuzugehören?

Denken wir an die Reproduktionszahl des RKI. Wenn jeder und jede von uns einen Zugang zu einer Person findet, ist bereits viel gewonnen. Hier geht es jedoch nicht darum, die Gegenseite zu überzeugen, sondern darum, ihr sein Verständnis zu schenken. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten von uns Extremisten sind. Ein Austausch, ein offener Diskurs sollte also möglich sein.

Anstatt meine Meinung zu äußern kann ich eine Frage stellen. Ich kann mich nach den Sorgen meines Gegenübers erkundigen. Ich kann meine eigenen Sorgen äußern. All das sind Angebot, die aus meiner Erfahrung meistens angenommen werden.

Im Netz ist das nicht immer einfach. Die Ängste, die wir haben, werden durch die Bildung von Lagern paradoxerweise nicht reduziert, sondern verwandeln sich in einen Kampf darum, wer recht hat. Warum also nicht 2-3 mal die Woche zum Telefonhörer greifen und einen Freund oder eine Freundin anrufen, mit dem oder der wir derzeit fremdeln?

Wir haben alle Angst. Sprechen wir darüber.

Impfbefürworter und Impfgegner entfaszinieren

Der Begriff der Entfaszination geht auf Peter Sloterdijk zurück. Eine Faszination bezeichnet bei ihm die negative Anziehung zweier Positionen, die nicht voneinander lassen können, vielleicht sogar ihr Selbstverständnis aus der Abgrenzung vom Anderen beziehen. In diesem Sinne faszinieren sich Nazis und Antifa gegenseitig, genauso wie Juden, Christen und Moslems und – Abkürzung, um nicht zu ausufernd zu werden – viele Gegensätze mehr.

Eine Entfaszination ist immer dann nötig, wenn der Bezug aufeinander so eng wird, wodurch das Blick auf sich selbst nicht mehr möglich ist, ohne den anderen zu sehen. Was wäre eine Antifa ohne das Fa? Was wäre das Christentum ohne die Abgrenzung zum Judentum, aus dem es entstanden ist oder zum Islam, der ebenfalls als monotheistische Konkurrenz im religiösen Raum steht. Erst durch die Entfaszination und damit den Abstand von seinem Antipoden ist es möglich, das eigene Selbst aus der Verbandelung mit dem Anderen zu entwirren, mit dem Ziel einen Konflikt langfristig zu befrieden.

Mir scheint der aktuelle Streit um das C, insbesondere in seiner kumulativen Form zwischen Impfbefürwortern, -gegnern und -kritikern nimmt ähnlich religiöse Züge an. Dabei stellt sich die große Frage, was an der jeweils anderen Partei uns so maßlos ärgert und was vielleicht in Wirklichkeit zur Kategorie der Jungschen Schattenanteile gehört? C.G. Jung meinte damit die Sehnsucht danach, was ich nicht habe, aber bei anderen beobachte.

Zuerst einmal ist es wichtig, an dieser Stelle drei Gruppen zu unterschieden:

  • Impfgegner lehnen solche Maßnahmen rigoros ab.
  • Impfbefürworter stehen einer Impfung als Möglichkeit gegen das C vorzugehen positiv gegenüber.
  • Dazwischen stehen die Impfkritiker. Sie lassen sich impfen, wenn es sinnvoll ist, lehnen es jedoch ab, wenn die Risiken zu hoch sind bzw. der Impfstoff noch nicht gut genug erforscht wurde, zumal man hier zwischen Kurzzeit- (Tage bis Wochen) und Langzeitfolgen (mehrere Jahre) unterschieden muss.

Schauen wir uns an, was an den drei verschiedenen Typen faszinierend ist (Obacht! Leichte satirische Übertreibungen sind dabei nicht ausgeschlossen):

Rigorose Impfgegner

Rigorose Impfgegner vermeiden es partout, ihrem Organismus etwas Künstliches beizumischen. Sie setzen auf die alleinige Immunkraft ihres Körpers. Der Schritt, wahlweise zur immunstärkenden Pendel-Esoterik zu pendieren oder zum astralgestählten Reichskörper zu mutieren ist damit nicht weit. Das Essen soll rein sein. Die Luft klar. Der Körper wird gepflägt bis er einem Protagonisten eines Leni Riefenstahl-Films gleicht.

Die Wurzeln einer solchen Denkweise gehen bis weit ins letzte Jahrhundert zurück. Damals in der 20er-Jahren auf dem Monte Verita in der Nähe des Lago Maggiore versammelten sich allerlei naturverbundene Verrückte, v.a. deutsche Aussteiger, Körperkultfanatiker (damals wurde noch nackt gegärtnert) ebenso wie Pazifisten und latente Antisemiten. Der Monte Verita wurde zu einem El Dorado deutscher Intellektueller und russischer Dissidenten. Hermann Hesse war dort ebenso zu Besuch wie Friedrich Nietzsche, Leo Troztki oder Walter Gropius. Der Traum von der vielleicht ersten Hippiekommune Europas hielt nicht lange an. Eines wurde jedoch damals schon deutlich. Wer seinen Körper rein halten will, muss damit rechnen, mit Rechten am Tisch zu sitzen. Diese Erfahrung machte auch die deutsche Wandervogel-Bewegung. Einst als Gegenmodell der bösen Industrie gedacht, als Ausweg aus dem stressigen Rattenrennen des damals schon „Höher, schneller, weiter“-Denkens, fand sich in ihren eigenen Reihen alsbald der aufkeimende Rassismus. Damit war es ein Klacks, dass zumindest ein Teil der humanistisch nicht allzu reinen Wandervögel später von der Hitlerjugend am Spieß gebraten und aufgefressen wurden.

Wenn es nun wieder heißt, wehret den Anfängen, wenn ein großer Teil der Impfgegner AfD wählt, liegt darin auch ein Stück Wahrheit. Genauso wie es wahr ist, dass es auch heute noch manche Ökos gibt, die einem rechten Gedankengut nicht unbedingt abgeneigt sind. Und genauso wahr ist es, dass nichts ahnende Naturverbundene auf der Suche nach einer Gemeinschaft auf dem Lande alsbald in einem Reichsbürgernest landen könnten. Sie wären nicht die ersten. Wenn es nicht kompliziert wäre, wäre es einfach.

Dennoch ist es faszinierend, dass es Menschen gibt, die sich auf die Fahne schrieben, nur noch Biogemüse und regionale Produkte zu konsumieren und ihren Körper nicht vergiften wollen, egal für wie verrückt sie andere Menschen dabei halten. Keine Handystrahlen, keine Mikrowelle. Vermutlich haben diese Menschen einen ökologisch korrekteren Fußabdruck als so mancher Grünen-Wähler, ohne dass sie dies jemals digital überprüft hätten. Auch daher kommt der grassierende Antiamerikanismus (oder die Angst vor Billy the old Kid Gates) in den Reihen nationaler Denker. Alles Schlechte kommt aus den USA. Mit Genmais, einer Coca-Cola, McDonalds und Burger King fällt es schwer, seinen Körper zu ehren. Dass jedoch die Karikatur eines Politikers wie Donald Trump für solche Menschen ein Idol des echten, wahrhaften Lebens darstellt, zeigt, wie weit sich die Menschen schon voneinander entfernt haben.

Wie alles im Leben ist es auch hier eine Frage des Maßes und der ideologischen Überhöhung. Menschen, die sich anders ernähren, nicht bekehren zu wollen und sich selbst nicht als die (regionale) Krone der Schöpfung zu betrachten macht den Unterschied.

Kategorische Impfbefürworter

Impfbefürworter haben ein großes Vertrauen in die Wissenschaft und Politik. Sie sind auf dem aktuellen Stand der Technik. Sie sind fortschrittsorientiert und glauben daran, dass neue Erfindungen ein Segen sind. Warum nach draußen gehen, wenn ich auch mit meiner Playstation den Dschungel erkunden kann? Und während Impfgegner sich ihren Kräutertee selbst im Wald suchen, werfen Impfbefürworter lieber eine Kopfschmerztablette ein. Geht leichter, wirkt schneller und hält länger an. Im Vergleich zum Schwarzmarkt zeigt sich die wahre Nützlichkeit der Wissenschaft: Während ich die Wirkung einer handelsüblichen Tablette gut abschätzen kann, fällt mir dies bei der Extasy-Tablette meines Lieblingsdealers nicht immer leicht.

Der Hintergrund dieser Denkrichtung ist so mächtig wie nachvollziehbar. Wir Menschen sind umgeben von den Segnungen von Wissenschaft und Technik. Würden wir noch im Mittelalter leben, würden wir kaum so alt werden. Sein Bier selbst zu brauen, mag eine Erfahrung sein. Die Plörre, die ich kaum kaufen würde, warm zu trinken ist dann doch des Guten zuviel. Seine Krebserkrankung wegzubeten ist ebenso kein Spiel für Anfänger. Und wer wie die Tochter des Autors an Skoliose leidet, ist froh um die Möglichkeit, mit Hilfe neuester Technik ein Korsett anfertigen zu lassen.

Faszinierend an den Impfbefürwortern ist zudem die Tatsache der bisher großen Einigkeit in der Krise. So wie sie bereits zuvor Einigkeit bewiesen bei der Nutzung von E-Autos, Pedelecs, Microsoft-Apps und Netflix, zeigen sie auch hier eine allumfassende einheitliche Stroßrichtung. Was der Kommunismus nicht schaffte, hat der Kapitalismus heimlich still und leise erreicht. Und das ganz ohne Blut zu vergießen: Völker aller Länder, nutzt unsere gemeinsame Kommunikations-App. Selbst Menschen, denen früher eine gewisse Gruppenscheue attestiert werden konnte, gehen nun in der digitalen Gemeinschaft auf. One Nation under one Betriebssystem.

Wer wollte da nicht religiöse Gefühle bekommen? Als Gott Adam und Eva im Paradies aussetzte, waren sie noch eins mit ihm, zumindest eins miteinander. Sie waren weder Frau noch Mann, nur Mensch. Dann kam die Erkenntnis und damit die Trennung voneinander und die Vertreibung aus dem Paradies der glückseelig Naiven. Nun wurden sie wir wieder vereint in einem messianischen Prozess.

Einheit und Gemeinschaftssinn bedeutet Solidarität. Und darin steckt das wahre Faszinosum. Solidarität mit den Kranken, Schwachen und Alten. Während Impfgegner sich um ihre eigene Gesundheit kümmern und der allumfassenden Einheit eine Abfuhr erteilen, sorgen sich die Impfgegner um die Bedürftigen. Dass sie dabei die Welt ein weiteres mal zerstören, weil gebrauchte Masken maskenweise in den Meeren landen und neue Techniken zu neuen Abfällen führen ist deren persönlicher Treppenwitz.

Abwägende Impfkritiker

Die Impfkritiker stehen wohl den Impfgegnern ein wenig näher. Nur sind sie nicht so extrem. Sie wägen ab. Sie impfen auch mal, wenn es sein muss. Der Autor bekam selbst vor vielen Jahren eine Impfung, die ihm so richtig seinen Urlaub in Tunesien versaute, worauf seine Ärztin später meinte: Ohne wäre es noch viel schlimmer gewesen. Na dann.

Was also macht man, wenn man irgendwie dazwischen steht in dem ganzen Schlamassel? Auch mal ein Schnitzel aus dem Supermarkt essen? Oder mit dem Elektro-SUV zum Bio-Gemüsehändler fahren? Vielleicht sind Impfkritiker ein bißchen was von allem. Ein bißchen Bio, ein bißchen Öko, ein bißchen Technik, ein bißchen Fortschritt, ein bißchen sozial, ein bißchen egoistisch, ein bißchen umweltzerstörerisch, ein bißchen faul, ein bißchen traurig, ein bißchen ängstlich.