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Das Leben in verwirbelten Zeiten

Vor etwa 25 Jahren begeisterten mich die Sandman-Comics von Neil Gaiman zum ersten mal. Aktuell stieß ich durch die gleichnamige Netflix-Serie wieder auf den Sandman-Kosmos. Dort gibt es eine Figur namens Rose Walker. Einen sogenannten Wirbel, der es schafft, in fremden Träumen aufzutauchen. Diesen Gedanken finde ich faszinierend. Normalerweise bauen wir unsere Träume um uns herum auf. Und wenn wir jemanden in sie einladen, geschieht das aufgrund unseres Willens. Ein Wirbel mischt sich eigenständig ein, was natürlich verwirrend ist.

Das Gleiche lässt sich auf unser Wachsein übertragen. Noch vor kurzem konnten die meisten von uns relativ unbehelligt ihr Leben leben. Natürlich gab es Ausnahmen: Marginalisierte Gruppen, Arbeitslose, Benachteiligte, usw. hatten es immer schon schwer. Doch für den Rest galt mehr oder weniger das Motto “Leben und leben lassen”. Dies hat sich seit Corona massiv verändert. Sowohl der Staat als auch andere Menschen mischen sich mehr denn je in unser Leben ein.

Wir können also analog zum Sandman’schen Wirbel behaupten in verwirbelten Zeiten zu leben: Lass dich impfen! Nein, bloß nicht! Bist du pro oder contra Ukraine, Gendern, usw.?

Wo ist der Halt?

In solchen Krisenzeiten sucht die Menschheit nach einem Halt inmitten des gesellschaftspolitischen Sturms. Dieser Halt kann unterschiedlich aussehen:

  • Der Glaube des Wissenschaftlers an die Objektivität des Forschens.
  • Die Flucht vor der Absurdität des Lebens in Religion und Esoterik.
  • Die Orientierung an Traditionen (beispielsweise Dorffeste), eine politische Partei als Vertreter der eigenen „richtigen” Werte oder an einer vermeintlich objektiven Weltanschauung bzw. Prinzipien der Aufklärung, Vernunft und Rationalität.

Wie also finden wir Halt? Die Sache mit den Werten ist kompliziert, wie ich finde. Wer lange genug wartet, erkennt, dass was gestern noch falsch war heute richtig ist und umgekehrt. Die Atomkraft ist aktuell das beste Beispiel dafür. Sinnhaftigkeit kann also nur im (zeitlichen) Kontext stattfinden. Gleichzeitig kann einen der Blick in die Zukunft (in spätestens einem Jahr werden wir wieder neu über Atomkraft diskutieren) verrückt machen. Schließlich müssen wir heute Entscheidungen treffen und nicht in einem Jahr. Und ob diese richtig sein werden, können wir nur erahnen. Zumindest könnte ein schwarmintelligenter Ansatz dabei helfen, gute Kompromisse zu finden, die auch in der Zukunft tragfähig sind.

Die negative Alternative, wenn uns der Halt verloren geht, hat meist mit Drogen oder Suizid zu tun. Der Konsum von Tabak ist während Corona um 30% gestiegen. Der Alkoholkonsum (externer Link) hat durch die Lockdowns und Kontaktbeschränkungen ebenfalls zugenommen. Offensichtlich fällt es dem Menschen schwer, auf sich alleine gestellt, den Sinn seines Daseins zu ergründen, weshalb er häufiger zu Fluchtmitteln greift.

Brauchen wir also klare Werte (beispielsweise die Solidarität mit der Ukraine im Team Nato), für die wir stehen, wohl wissend, dass sich diese evtl. in einigen Monaten verändert haben werden? In Krisenzeiten scheint es ein Bedürfnis nach Hop- oder Top-Positionen zu geben. Gibt uns das zumindest einen temporären Halt in verwirbelten Zeiten? Gleichzeitig sind es genau diese Werte der Menschen, die zu neuen Konfliktlinien führen.

Oder gibt es andere Möglichkeiten zur Stabilisierung?

  • Tägliche Rituale (wie der Tatortreiniger sagt: Einfach weitermachen)? Wenigstens ist am Wochenende Fußball, das Oktoberfest steht vor der Tür und am Dienstag-Abend ist Stammtisch.
  • Eine Aufgabe im Leben finden, die die Welt nicht verändert, aber der eigenen kleinen Welt einen Sinn verleiht?
  • Sich um das eigene Umfeld kümmern (ohne über die Weltpolitik zu sprechen)?
  • Sich selbst Prinzipien eines guten Menschseins auferlegen? Ja, was macht eigentlich einen guten Menschen aus und wie oft orientieren wir uns an solchen Prinzipien im Alltag?
  • Und nicht wenige in meinem Umfeld “flüchten” (ohne Wertung, ich reise selber sehr gerne, um abzuschalten) sich in Reisen, Religion oder Spiritualität.

Wie also findet der Mensch Halt und Orientierung in Krisenzeiten? Durch meditative Abgrenzung am besten verbunden mit Selbstreflexion, soziales Engagement, Spiritualität, Rationalismus, eigene Prinzipien, Rituale, Lebensaufgaben oder etwas ganz anderes?