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Analoge Phänomene in einer digitalen Welt

Wenn wir zeitlich und gedanklich immer mehr in einer digitalen Welt leben, stellt sich die Frage, welche Phänomene des Lebens sich digital überhaupt ablichten lassen? Während manche Menschen im realen Leben die Erfahrung machten, dass Homöopathie genauso wirkt, wie wenn in Südamerika ein Huhn geschlachtet wird, damit die Migräne verschwindet, lässt sich dies mit reiner, messbarer Vernunft nicht nachvollziehen. In beiden Fällen wirken der Glaube, Placebo-Effekte und Selbstheilungskräfte. Der Besuch bei einem Homöopathen, für den ich 80 € pro Stunde zahle wirkt genauso wie der rituelle Aufwand einer südamerikanischen Huhnzeremonie. Nebenbei bemerkt wirken auch teure Kopfschmerztabletten trotz gleicher Inhalte besser als billige. Eins zu Null für eine Aspirin. In der analogen Welt könnte es uns egal sein, wie etwas funktioniert. Ob ich mich an Kräutern orientiere oder mich an die Schulmedizin halte: Hauptsache es wirkt. Aber lässt sich dies in der digitalen Welt ablichten?

Ein solcher Versuch erinnert an den Mann, der betrunken in der Nacht auf einem Gehsteig unter einer Laterne nach seinem Hausschlüssel sucht. Auf die Frage, wo genau er ihn verloren habe, entgegnet er: “Dort drüben. Aber hier ist das Licht besser.”

Glaube, Emotionen oder Mystik lassen sich nicht digital ablichten. Solche analogen Phänomene sind ungenau und unscharf. Sie lassen sich nicht messen oder logisch analysieren. Die digitale Welt hingegen unterscheidet zwischen Nullen und Einsen. Entweder es funktioniert oder ist kaputt. Entweder es ist wahr oder falsch. Deshalb ist es eher sinnlos oder mindestens unzureichend, sich bei Wikipedia über alternative Medizin zu erkundigen. Denn die Digitalisierung ist tatsächlich sinn-entleert. Der Algorithmus als Fake-News-Kontrolle hat kein Gespür für Glaube, Emotionen oder Mystik. Er erschaudert nicht im Angesicht einer Offenbarung. Er kennt keine Schmetterlinge im Bauch, wenn er verliebt ist oder bekommt zitterige Beine vor einer wichtigen Rede. Manche Wirkungen kann ich nur erspüren, erhoffen oder erahnen. Ich kann vielleicht nicht einmal darüber schreiben. In diesem Sinne hatte Ludwig Wittgenstein recht, als er schrieb: Worüber ich nicht sprechen kann, darüber sollte ich schweigen. Die analoge Welt ist jedoch voller Mysterien, die in der digitalen Welt nicht abgelichtet werden können.

Wir sollten daher nicht den Fehler machen, die digitale Welt für die Realität zu halten. Denn glücklicherweise bietet die Wirklichkeit so viel mehr an unerklärlichen Nuancen, die sich vermutlich niemals digital wiedergeben lassen werden. Vielleicht sollten wir es nicht einmal versuchen, um dem Leben nicht seine Mystik rauben. Vielleicht sollten wir die analogen Unerklärlichkeiten demütig akzeptieren oder sie sogar in Schutz nehmen vor dem Zugriff des Internets.

Es ist also kein Wunder, dass das Internet prädestiniert dafür ist, die Erkenntnisse messbarer Wissenschaften abzulichten, auch wenn das wirkliche Leben woanders stattfindet.

Vor kurzem las ich einen Artikel über drei Gruppen von Menschen und ihren Einstellungen zu den Corona-Maßnahmen der Regierung. Die Gruppe eins wurde mindestens als Kritiker, wenn nicht sogar als Leugner dargestellt. Die Gruppe zwei füllte das andere Ende der Skala aus. Hierbei handelte es sich um Menschen, die das Virus im Sinne des Zero-Covid-Gedankens am liebsten ausrotten würden. Die dritte Gruppe befand sich dazwischen. Menschen, die die Maßnahmen offiziell akzeptierten, weil sie erkannt haben, dass das Virus gefährlich ist, sich jedoch in ihrem persönlichen Umfeld Freiräume erlauben, die mit den offiziellen Regeln brechen. Hier ein Treffen mit Freunden über der erlaubten Personenanzahl. Dort eine Umarmung. Nichts Dramatisches. Nichts wirklich Verbrecherisches. Sondern lediglich das Ausnutzen der kleinen Freiheiten, wenn die Staatsmacht gerade nicht hinsieht.

Mir scheint, im Internet treffen die beiden ersten Gruppen mit ihren digitalen Weltbildern aufeinander und spielen das große Highlander-Spiel, in dem es nur einen geben kann. Die dritte Gruppe hingegen schweigt und lebt.

Digital vs. Analog

In der digitalen Welt gibt es nur Schwarz oder Weiß. Gut oder Böse. Die digitale Welte lebt davon zuzuspitzen zwischen Verschwörungstheorien und Naturwissenschaftsgläubigkeit.

In der analogen Welt gibt es alle Grautöne, alle Farben, gut, mittelgut, böse und schrecklich böse. In der analogen Welt erscheinen Nischen, die es im Digitalen nicht gibt. Die analoge Welt ist pure Geisteswissenschaft in all ihren Facetten und Ausprägungen. Komplex und voller Wunder. Und auch der Mensch in ihr ist in all seinen Nuancen und Widersprüchen wunderschön.

Manches scheint in der digitalen Welt einfach nicht möglich bzw. aktuell erlaubt zu sein. Zum Beispiel mit Freunden zu sprechen, die man zufällig auf dem Spaziergang trifft, selbstredend vollkommen ungeplant. Das wäre schließlich in Bayern bußgeldbedürftig.

In der analogen Welt geht das. Das geht! Wenn niemand es sieht. Ich habe es selbst beobachtet. Die Menschen halten sauber Abstand. Aber sie unterhalten sich. Aus fünf Metern Entfernung. Beinahe wie früher. Wahnsinn!

In der digitalen Welt wäre demonstrieren, selbst wenn der gebotene Sicherheitsabstand eingehalten wird, nicht erlaubt. Zumindest gilt demonstrieren nicht als offizieller Grund, die Wohnung zu verlassen. Außer ich kann der Polizei glaubhaft vermitteln, als Hauptberuf Demonstrant gelernt zu haben.

In der analogen Welt gibt es Polizisten mit moralischem Anstand, die sagen: Passt schon. Stört mich nicht. Machen Sie einfach. Finde ich sogar gut. Warum auch nicht? Wenn sich das mit dem Spaziergang vereinbaren lässt …

In der digitalen Welt herrscht ein Meinungskrieg.

In der analogen Welt scheint die Sonne. Ach, wie versöhnlich ist doch die Welt dort draußen jenseits von Black Mirror.

In diesem Sinne möchte man den Menschen zurufen: Haltet euch an die Regeln, und dann: “Go out, stay healthy!”

Aber schließt vorher eine Rechtschutzversicherung ab. Man weiß ja nie.