Deep Canvassing in der Führung – Verständnis, Nahbarkeit und Perspektivenoffenheit

Bild von rawpixel.com auf Freepik

Canvassing kommt vom Englischen „canvas“, bedeutet so viel wie „auf eine Leinwand werfen“ und wird für die Kunden- oder Wählergewinnung an der Haustür genutzt. Ein Deep Canvassing als Gesprächstechnik – wie es die Linken im vergangenen Bundestagswahlkampf nutzten – zielt darauf ab, tief verwurzelte Meinungen und Vorurteile durch empathische, persönliche Gespräche zu verändern. Anders als klassische Wahlkampagnen, bei denen kurz und knapp für eine Partei geworben wird, geht es beim Deep Canvassing darum, Menschen wirklich zuzuhören, ihre Erfahrungen zu verstehen und in einer respektvollen Diskussion Brücken zu bauen. Dabei werden oft Fragen gestellt wie: „Welche Erfahrungen prägten Ihre Sicht auf dieses Thema nachhaltig?“, „Wie geht es Ihnen, wenn Sie darüber nachdenken?“ oder „Was ärgert Sie am meisten?“. Es geht also nicht darum, die Menschen von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern darum, dass sie gesehen und gehört werden. Das Deep Canvassing gleicht damit dem mediativen Ansatz, die Sichtweisen, Emotionen und Bedürfnisse einer Person unvoreingenommen verstehen zu wollen, ohne ein konkretes Ziel zu verfolgen. Erst dadurch wird es möglich, dass das Gegenüber über die eigene Einstellung zu einem bestimmten Thema nachdenkt, ohne in einen Verteidigungsmodus zu kommen und neue Perspektiven zuzulassen.

Die Gesprächstechnik wurde erstmals in den 2010er Jahren von LGBTQ+-Aktivist*innen eingesetzt, um Vorurteile gegenüber gleichgeschlechtlichen Ehen abzubauen. Eine Studie von 2016 zeigte, dass tief verwurzelte Vorurteile abgebaut werden, indem sie emotionale und kognitive Prozesse anregen und dadurch Meinungsänderungen nicht nur möglich sind, sondern auch langfristig anhalten. Wenn es oftmals heißt, dass man mit Menschen mit derart fixen Meinungen nicht mehr reden kann, zeigt sich, dass Deep Canvassing eine Möglichkeit darstellt, eine mediative Brücke herzustellen und den Dialog zwischen unterschiedlichen Lagern trotz aller Vorbehalte dennoch wieder herzustellen.

Im Kern basiert Deep Canvassing auf drei Schlüsselprinzipien:

  1. Empathie: Statt Menschen zu belehren oder zu kritisieren, liegt der Fokus darauf, sie zu verstehen. Canvasser*innen stellen offene Fragen, die dazu ermutigen, eigene Erfahrungen zu teilen, mit dem Ziel, eine persönliche Verbindung herzustellen und Vertrauen aufzubauen.
  2. Eigene Erzählungen: Canvasser*innen erzählen oft eigene Geschichten, die nahbar und menschlich machen. Wer eigene, manchmal auch schwierige Erfahrungen mit anderen teilt, zeigt, dass die Welt nicht nur schwarz oder weiß ist, sondern es dort draußen eine Menge Grautöne gibt. Er zeigt sich zudem als Mensch mit eigenen Schwächen und fördert dadurch die Entstehung eines gegenseitigen Vertrauens.
  3. Reflexionsanregung: Die Gespräche regen dazu an, eigene Ansichten zu hinterfragen und eine neue Perspektive hinzuzugewinnen. Es geht dabei nicht darum, die Perspektive auszutauschen, sondern eine weitere Sichtweise als Möglichkeit zuzulassen. Es wird also niemand zu einer Meinungsänderung gedrängt. Stattdessen entsteht Raum für ein breiteres Denken, das Aufweichung vermeintlich alternativloser Meinungen und damit langfristig für eine Entwicklung.

Eine solche Herangehensweise lässt sich auch auf den Umgang mit schwierigen Mitarbeiter*innen übertragen:

  1. Empathie: „Wie bist du zu deiner Einstellung gekommen, dass dieses Projekt Mist ist? Was glaubst du, könnte alles schief laufen?“
  2. Eigene Erzählungen: „Wir kennen das wohl alle. Denken wir nur mal an das letzte Projekt. Da wäre es vielleicht klüger gewesen, wenn wir uns besser vorbereitet hätten, anstatt allzu optimistisch zu sein. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich letztes Jahr zu meinem Chef rennen und beichten musste, was alles nicht funktionierte. Nicht schön.“
  3. Reflexionsanregung: „Wenn wir möglichst viele Perspektiven einnehmen: Was ist alles denkbar? Lasst uns versuchen, all diese Möglichkeiten als real zu betrachten. Was sollten wir deiner und eurer aller Meinung nach tun, damit es nicht zum Schlimmsten kommt?“

Ein solcher Ablauf gleicht freilich beinahe einem erfolgreichen Changemanagement-Prozess. Die Nahbarkeit durch eigene Erzählungen könnte jedoch für das ein oder andere Team etwas Neues sein, das es Wert ist, ausprobiert zu werden. Gleichzeitig erhöht das parallele Mitdenken alternativer Perspektiven die Ambiguitätstoleranz aller Teammitglieder.

Quellen:

https://www.science.org/doi/10.1126/science.aad9713

https://www.freitag.de/autoren/nina-scholz/haustuerwahlkampf-wie-die-linke-erfolgreich-organizing-methoden-anwendet